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Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке

Ich war aufgestanden, um ihren Blick zu fangen. Zu winken wagte ich nicht. Es waren noch zu viele Leute da; in der Kirche hätte so etwas Aufsehen erregt. Sie lebt, war mein erster Gedanke. Sie ist nicht tot und nicht krank! Sonderbar, dass man das immer zuerst denkt in unserer Situation! Man ist so überrascht, dass etwas noch so ist wie früher – dass jemand noch da ist.

Sie ging weiter, rasch, zum Chor hinauf. Ich drängte mich aus meiner Bank und folgte ihr. Vor der Kommunionbank

blieb sie stehen und drehte sich um. Sie musterte aufmerksam die Leute, die noch in den Bänken knieten, und kam langsam den Gang wieder zurück. Ich blieb stehen. Sie war so überzeugt, mich irgendwo in den Bänken zu finden, dass sie dicht an mir vorüberging und mich fast streifte. Ich folgte ihr. „Helen“, sagte ich, als sie aufs neue stehenblieb, dicht hinter ihr.,,Dreh dich nicht um! Geh hinaus! Ich werde dir folgen. Man darf uns hier nicht sehen.“

Sie zuckte, als hätte ich sie geschlagen, und ging dann weiter. Weshalb war sie nur hierhergekommen? Wir waren in großer Gefahr, erkannt zu werden. Aber ich selbst hatte ja auch nicht gewusst, dass so viele Menschen hier sein würden. Ich sah sie vor mir hergehen; aber ich spürte nichts als Sorge, so rasch wie möglich aus der Kirche zu entkommen. Sie trug ein schwarzes Kostüm und einen sehr kleinen Hut und hielt ihren Kopf sehr aufrecht und etwas schräg, als lausche sie auf meine Fußtritte. Ich blieb einige Schritte zurück, so weit, dass ich sie gerade noch sehen konnte; ich hatte öfter erfahren, dass man nur deshalb erkannt wurde, weil man so nahe bei jemand anderem stand.

Sie ging an den steinernen Weihwasserbecken

vorbei durch das große Eingangsportal und bog sofort nach links. Am Dom entlang führte ein breiter, mit Steinplatten gepflasterter Weg, der durch eiserne Ketten zwischen Sandsteinpfählen vom großen Domplatz abgetrennt war. Sie sprang über die Ketten, ging einige Schritte in das Dunkel, blieb stehen und drehte sich um. Ich kann nicht erklären, was ich in diesem Augenblick empfand. Wenn ich sage, dass mir so war, als ginge mein ganzes Leben dort vor mir her, scheinbar weg von mir, und drehe sich plötzlich um und sähe mich an – so ist das wieder ein Klischee, und es ist wahr und nicht wahr, aber trotzdem fühlte ich es, doch das war nicht alles, was ich fühlte. Ich ging auf Helen zu, auf ihre schmale, dunkle Gestalt, auf ihr bleiches Gesicht und auf ihre Augen und ihren Mund, und ich ließ alles hinter mir, was gewesen war. Die Zeit, in der wir nicht zusammen gewesen waren, versank nicht; sie blieb, aber wie etwas, das ich gelesen hatte, nicht erlebt.

„Wo kommst du her?“ fragte Helen, fast feindselig, bevor ich sie erreicht hatte.

„Aus Frankreich.“

„Haben sie dich hereingelassen?“

„Nein. Ich bin schwarz über die Grenze gekommen.“

Es waren fast dieselben Fragen, die Martens gestellt hatte.

„Warum?“ fragte sie.

„Um dich zu sehen.“

„Du hättest nicht kommen sollen!“

„Ich weiß. Ich habe mir das jeden Tag gesagt.“

„Und warum bist du gekommen?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier.“

Ich wagte nicht, sie zu küssen. Sie stand dicht vor mir, aber so starr, als könne sie zerbrechen, wenn man sie berührte. Ich wusste nicht, was sie dachte, aber ich hatte sie wiedergesehen, sie lebte, und nun konnte ich gehen oder dem entgegensehen, was käme.

„Du weißt es nicht?“ fragte sie.

„Ich werde es morgen wissen. Oder in einer Woche. Oder später.“

Ich sah sie an. Was war zu wissen? Wissen war ein bisschen Schaum, der über eine Woge tanzt. Jeder Wind konnte ihn wegblasen; aber die Woge blieb.

„Du bist gekommen“, sagte sie, und ihr Gesicht verlor die Starre, es wurde sanft, und sie trat einen Schritt naher. Ich hielt sie bei den Armen, und ihre Hände waren gegen meine Brust gepresst, als wolle sie mich noch abwehren. Ich hatte das Gefühl, als ständen wir lange Zeit so einander gegenüber auf dem schwarzen, windigen Domplatz, allein, während der Straßenlärm uns nur, wie durch eine dämpfende Glaswand entfernt, matt erreichte. Links, etwa hundert Schritte entfernt, lag, der Querseite des Platzes gegenüber, das hellerleuch tete Stadttheater mit seinen weißen Stufen, und ich weiß noch, dass ich mich einen Augenblick vage darüber wunderte, dass man dort noch spielte und nicht schon eine Kaserne oder ein Gefängnis daraus gemacht hatte. Eine Gruppe von Leuten kam an uns vorbei. Jemand lachte, und einige sahen sich nach uns um.

„Komm“, flüsterte Helen. „Wir können nicht hier bleiben.“

„Wohin sollen wir gehen?“

„In deine Wohnung.“

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben.

„Wohin?“ fragte ich noch einmal.

„In deine Wohnung. Wohin sonst?“

„Man kann mich auf der Treppe erkennen! Wohnen nicht dieselben Leute wie früher noch in dem Haus?“

„Man wird dich nicht sehen.“

„Und das Mädchen?“

„Ich werde es für den Abend wegschicken.“

„Und morgen früh?“

Helen sah mich an. „Bist du von so weit gekommen, um mich alles das zu fragen?“

„Ich bin nicht gekommen, um gefasst zu werden und dich in ein Lager zu bringen, Helen.“

Sie lächelte plötzlich. „Josef, sagte sie. „Du hast dich nicht verändert. Wie bist du nur hierhergekommen?“

„Das weiß ich auch nicht“, erwiderte ich und musste selbst lächeln. Die Erinnerung daran, dass sie das früher manchmal, halb zornig, halb verzweifelt, über meine Umständlichkeit gesagt hatte, wischte die Gefahr auf einmal weg. „Aber ich bin da“, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf, und ich sah, dass ihre Augen voll Tränen waren. „Noch nicht“, erwiderte sie. „Noch nicht! Und nun komm, oder man wird uns tatsächlich verhaften, weil es aussieht, als mache ich dir eine Szene.“

Wir gingen über den Platz. „Ich kann doch nicht sofort mit dir kommen“, sagte ich. „Du musst dein Mädchen doch vorher wegschicken! Ich habe ein Zimmer in einem Hotel in Münster genommen. Man kennt mich da nicht. Ich wollte dort wohnen.“

Sie blieb stehen. „Wie lange?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte ich. „Ich habe nie weiter denken können, als dass ich dich sehen wollte und dass ich danach irgendwie zurück müsste.“

„Über die Grenze?“

„Wohin sonst, Helen?“

Sie senkte den Kopf und ging weiter. Ich dachte daran, dass ich nun sehr glücklich sein sollte, aber ich fühlte es nicht so. Wirklich fühlt man es wohl immer erst später. Jetzt – jetzt weiß ich, dass ich es war.

* * *

„Ich muss mit Martens telefonieren“, sagte ich. „Du kannst das von deiner Wohnung aus tun“, erwiderte Helen. Es traf mich jedesmal, wenn sie „deine Wohnung“ sagte. Sie tat es absichtlich. Ich wusste nicht, weshalb.

„Ich habe Martens versprochen, ihn in einer Stunde anzurufen“, sagte ich. „Das ist jetzt. Wenn ich es nicht tue, glaubt er, es sei etwas passiert. Vielleicht tut er dann etwas Unvorsichtiges.“

„Er weiß, dass ich dich abhole.“

Ich blickte auf die Uhr. Es war schon eine Viertelstunde später, als ich anrufen wollte. „Ich kann es von der nächsten Kneipe aus tun“, sagte ich. „Es dauert nur eine Minute.“

„Mein Gott, Josef!“ sagte Helen zornig. „Du hast dich wirklich nicht geändert. Du bist noch pedantischer geworden.“