Heinrich Theodor Böll
Billard um halb Zehn
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Über den Autor
Heinrich Böll wurde am 21.12.1917 in Köln als Sohn eines Tischlermeisters und Bildhauers geboren. Während der Kindheits- und Jugendjahre wechselte die Familie mehrfach die Wohnung innerhalb des Kölner Stadtgebiets, wodurch Böll intensiv mit Geschichte, Tradition und sozialem Klima der rheinischen Metropole in Berührung kam. Zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern erlebte er zunächst 1930 die Weltwirtschaftskrise, die seinen Vater, wie auch viele andere Selbstständige, ruiniert hatte. Drei Jahre später wurde er Zeitzeuge der Übernahme der Macht in Deutschland durch die Nationalsozialisten.
Böll fing nach eigenen Zeugnissen sehr früh an zu lesen, besonders die erzählerischen Gesellschaftspanoramen der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts: die Romane Balzacs, Dickens und Dostojewskis, die sicher nicht ohne Einfluss auf Bölls eigene erzählerische Familien- und Gruppen-„Bilder“ bis hin zum Spätwerk blieben. Hinzu trat das Kennenlernen des französischen renouveau catholique[1], der Kritik am kirchlichen verhärteten Christentum bei Leon Bloy[2], Georges Bernanos[3] und Charles Peguy[4]. Böll selbst verwies immer wieder auf deutsche Autoren, die ihm wichtig wurden: Kleist[5], Hölderlin[6], Hebel[7], Kafka[8]. Mit 17 begann er zu schreiben. Doch seine frühen Werke verbrannten bei einem Kölner Luftangriff.
Nach dem Abitur (1937) begann Böll eine Lehre im Buchhandel der Firma Matthias Lempertz in Bonn, die drei Jahre dauerte. Im Herbst 1938 bis zum Frühjahr 1939 musste Böll den Reichsarbeitsdienst als Vorbedingung für das Universitätsstudium ableisten. Zum Sommersemester desselben Jahres immatrikulierte sich Böll an der Universität zu Köln und belegte die Fächer Germanistik und klassische Philologie. Doch schon im Juni 1939 wurde er zur Armee eingezogen. Er erlitt den Krieg an westlichen und östlichen Fronten und zunehmend in Deutschland selbst. Böll registrierte den Krieg und lernte ihn hassen als ein enthumanisierendes Chaos aus Egoismus, lächerlichem Herrenwahn, Profitgier, Tränen, Schrecken, Dreck, Langeweile und sinnlosem Leid.
Im Mai 1940 musste er in eine Garnison nach Polen. Ende Juni desselben Jahres kam er als Infanterist nach Frankreich. 1942 heiratete Böll Annemarie Cech und arbeitete schließlich als Dolmetscher bei der Ortskommandatur in einem französischen Badeort. Im Sommer 1943 fuhr Böll als Soldat nach Russland. Der Zug, mit dem er fuhr, explodierte und Böll wurde an der rechten Hand verletzt. Er wurde ins Lazarett nach Deutschland gebracht, nach 14 Tagen musste er aber bereits wieder nach Russland. Inzwischen arbeitete Annemarie als Lehrerin an einer Mittelschule. Im Dezember 1943 traff ein Granatsplitter Böll am Kopf, woraufhin er bis Mai 1944 im Lazarett in Odessa lag. Im August 1944 fälschte Böll nach einer Rückenverletzung durch eine Handgranate einen Befehl, wodurch er schließlich nach Metz geschickt wurde, was jedoch niemand bemerkte. Nach einem kurzen Urlaub musste er weiter an der Ostfront dienen. Im April 1945 wurde er von den Amerikanern gefangengenommen. Am 8.5.1945 kapitulierte Deutschland, Böll und die übrigen Gefangenen wurden freigelassen.
Im November 1945 kehrte Böll aus der Kriegsgefangenschaft nach Köln heim. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren für Böll eine harte Zeit. Auf der einen Seite musste er Geld verdienen, um seine Familie zu ernähren, die sich schnell vergrößerte: Zwischen 1947 und 1950 wurden seine drei Söhne Raimund, René und Vincent geboren. Auf der anderen Seite wollte er seinen Traum vom Schreiben als Lebensinhalt nicht aufgeben. Um Lebensmittelkarten zu erhalten, immatrikulierte er sich an der Universität, arbeitete zeitweise in der von einem seiner Brüder fortgeführten Schreinerei, während Annemarie Böll als Lehrerin unterrichtete.
Seine erste publizierte Erzählung, Aus der „Vorzeit“, erschien am 3. Mai 1947 im Rheinischen Merkur, gekürzt von achtzehn Manuskriptseiten auf eineinhalb. 1949 veröffentlichte er den Roman Der Zug war pünktlich, der ebenso wie Wo warst du, Adam? (1951) das Erlebnis des Krieges behandelte. Im Mittelpunkt der beiden folgenden Romane – Und sagte kein einziges Wort (1953) und Haus ohne Hüter (1954) – stand das durch unzulängliche Lebensbedingungen gefährdete Familienleben.
Im Mai 1951 wurde er zur 8.Tagung der berühmten Gruppe 47 eingeladen. Er las „Die schwarzen Schafe“ und gewann 1000 DM. Fortan lebte Böll als freier Schriftsteller. 1952 wurde er Dritter beim Erzählerpreis des Süddeutschen Rundfunks, gewann den Deutschen Kritikerpreis 1953, die Ehrengabe des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie 1954, den Preis der „Tribune de Paris“ 1955 und wurde 1953 zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.
Betrachtet man sein Leben in den folgenden Jahrzehnten, dann stellt man einige auffällige Momente und Wesenszüge im Leben von Heinrich Böll fest. Da ist zuerst und vor allem seine geradezu unwahrscheinlich anmutende Produktivität. Der Erzähler Böll hat nicht nur viel auf dem Herzen; er erlebt auch die sich verändernde Welt, indem er schreibt. Da sind seine weit über hundert Kurzgeschichten, Satiren, viele kleinere und bis zu romanhafter Länge reichende große Erzählungen. Da sind seine Romane Billard um halb zehn (1959), Ansichten eines Clowns (1963), Dr.Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren (1958), die Erzählung Ende einer Dienstfahrt (1966), Gruppenbild mit Dame (1971), Fürsorgliche Belagerung (1979) sowie der kurz nach seinem Tod erschienene Roman Frauen vor Flußlandschaft. Darüber hinaus schrieb er sein viel gelesenes Irisches Tagebuch (1957) (er ging für ein dreiviertel Jahr nach Irland, seine Familie nahm er wie gewöhnlich mit), unzählige Essays, Artikel und Rezensionen. Nicht vergessen darf man seine Hörspiele und Hörbilder sowie die Übersetzungen, die er oft gemeinsam mit seiner Frau erarbeitete. Auch auf dem Gebiet des Theaters versuchte er sich, wovon zum Beispiel das im Dezember 1961 uraufgeführte Stück Ein Schluck Erde zeugt. Viele seiner Arbeiten, wie zum Beispiel Das Brot der frühen Jahre, Ansichten eines Clowns, Ende einer Dienstfahrt oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum wurden sowohl inszeniert als auch verfilmt.
Ende der sechziger Jahre erkrankte Böll. Häufige Sanatorien – Aufenthalte in der Schweiz, die er seit 1976 unternahm, brachten keine endgültige Besserung. Als er Ende 1979 mit seiner Frau zu seinem Sohn Vincent nach Quito in Ecuador reiste, kam es zum Zusammenbruch. Er musste sich einer komplizierten Operation unterziehen. Nach seiner Rückkehr 1980 nach Deutschland kam es zu der zweiten schweren Operation mit mehrmonatigem Krankenhausaufenthalt. Als er 1985 erneut operiert werden musste, starb er nur einen Tag nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus – am 16. Juli 1985 – in seinem Haus in Langenbroich. Beigesetzt wurde Heinrich Böll auf dem Friedhof von Bornheim-Merten.
Über mich selbst
Im Jahre 1958 schrieb Heinrich Böll den kleinen Aufsatz „Über mich selbst“, der die geistigen und sozialen Wurzeln seiner Existenz sichtbar macht:
„Geboren bin ich in Köln, wo der Rhein, seiner mittelrheinischen Lieblichkeit überdrüssig, breit wird, in die totale Ebene hinein auf die Nebel der Nordsee zufließt; wo weltliche Macht nie so recht ernst genommen worden ist, geistliche Macht weniger ernst, als man gemeinhin in deutschen Landen glaubt; wo man Hitler mit Blumentöpfen bewarf, Göring öffentlich verlachte, den blutrünstigen Gecken, der es fertigbrachte, sich innerhalb einer Stunde in drei verschiedenen Uniformen zu präsentieren; ich stand, zusammen mit Tausenden Kölner Schulkindern Spalier, als er in der dritten Uniform, einer weißen, durch die Stadt fuhr; ich ahnte, dass der bürgerliche Unernst der Stadt gegen die neu heraufziehende Mechanik des Unheils nichts ausrichten würde; geboren in Köln, das seines gotischen Domes wegen berühmt ist, es aber mehr seiner romanischen Kirchen wegen sein müsste; das die älteste Judengemeinde Deutschlands beherbergte und sie preisgab; Bürgersinn und Humor richteten gegen das Unheil nichts aus, jener Humor, so berühmt wie der Dom, in seiner offiziellen Erscheinungsform schreckenerregend, auf der Straße manchmal von Größe und Weisheit.
Geboren in Köln, am 21. Dezember 1917, während mein Vater als Landsturmmann Brückenwache schob; im schlimmsten Hungerjahr des Weltkrieges wurde ihm das achte Kind geboren; zwei hatte er schon früh beerdigen müssen; während mein Vater den Krieg verfluchte und den kaiserlichen Narren, den er mir später als Denkmal zeigte. „Dort oben“, sagte er, „reitet er immer noch auf seinem Bronzegaul westwärts, während er doch schon so lange in Doorn Holz hackt“; immer noch reitet er auf seinem Bronzegaul westwärts. Meine väterlichen Vorfahren kamen vor Jahrhunderten von den Britischen Inseln, Katholiken, die der Staatsreligion Heinrichs VIII. die Emigration vorzogen. Sie waren Schiffszimmerleute, zogen von Holland herauf rheinaufwärts, lebten immer lieber in Städten als auf dem Land, wurden, so weit von der See entfernt, Tischler. Die Vorfahren mütterlicherseits waren Bauern und Bierbrauer; eine Generation war wohlhabend und tüchtig, dann brachte die nächste den Verschwender hervor, war die übernächste arm, brachte wieder den Tüchtigen hervor, bis sich im letzten Zweig, aus dem meine Mutter stammte, alle Weltverachtung sammelte und der Name erlosch.
Meine erste Erinnerung: Hindenburgs heimkehrende Armee, grau, ordentlich, trostlos zog sie mit Pferden und Kanonen an unserem Fenster vorüber; vom Arm meiner Mutter aus blickte ich auf die Straße, wo die endlosen Kolonnen auf die Rheinbrücken zumarschierten; später: die Werkstatt meines Vaters: Holzgeruch, der Geruch von Leim, Schellack und Beize; der Anblick frischgehobelter Bretter, das Hinterhaus einer Mietskaserne, in der die Werkstatt lag; mehr Menschen, als in manchem Dorf leben, lebten dort, sangen, schimpften, hängten ihre Wäsche auf die Recks; noch später: die klangvollen germanischen Namen der Straßen, in denen ich spielte: Teutoburger -, Eburonen -, Veledastraße, und die Erinnerung an Umzüge, wie mein Vater sie liebte, Möbelwagen, biertrinkende Packer, das Kopfschütteln meiner Mutter, die ihren Herd liebte, auf dem sie das Kaffeewasser immer kurz vor dem Siedepunkt zu halten verstand. Nie wohnten wir weit vom Rhein entfernt, spielten auf Flößen, in alten Festungsgräben, in Parks, deren Gärtner streikten; Erinnerung an das erste Geld, das ich in die Hand bekam, es war ein Schein, der eine Ziffer trug, die Rockefellers Konto Ehre gemacht hätte: 1 Billion Mark; ich bekam eine Zuckerstange dafür; mein Vater holte die Lohngelder für seine Gehilfen in einem Leiterwagen von der Bank; wenige Jahre später waren die Pfennige der stabilisierten Mark schon knapp, Schulkameraden bettelten mich in der Pause um ein Stück Brot an; ihre Väter waren arbeitslos; Unruhen, Streiks, rote Fahnen, wenn ich durch die am dichtesten besiedelten Viertel Kölns mit dem Fahrrad in die Schule fuhr; wieder einige Jahre später waren die Arbeitslosen untergebracht, sie wurden Polizisten, Soldaten, Henker, Rüstungsarbeiter – der Rest zog in die Konzentrationslager; die Statistik stimmte, die Reichsmark floß in Strömen; bezahlt wurden die Rechnungen später, von uns, als wir, inzwischen unversehens Männer geworden, das Unheil zu entziffern versuchten und die Formel nicht fanden; die Summe des Leidens war zu groß für die wenigen, die eindeutig als schuldig zu erkennen waren; es blieb ein Rest, der bis heute nicht verteilt ist.
Schreiben wollte ich immer, versuchte es schon früh, fand aber die Worte erst später.“
Über das Buch
Die Geschichte dreier Generationen einer rheinischen Architektenfamilie symbolisiert das deutsche Schicksal der ersten Jahrhunderthälfte. Das aüßere Geschehen ist in den Ablauf eines einzigen Tages des Jahres 1958 gespannt. Es ist der achtzigste Geburtstag von Heinrich Fähmel, der im Jahre 1907 den Auftrag erhielt, die Abtei St. Anton zu erbauen. Sein Sohn Robert, der jeden Tag von halbzehn bis elf im Hotel Prinz Heinrich Billard spielt, hat in seiner Eigenschaft als Sprengspezialist der Wehrmacht die Abtei in den letzten Kriegstagen zerstört. Der Enkel Joseph wird am Wiederaufbau beteiligt. In den Gesprächen Roberts mit dem Hotelboy, in Rückblenden und Erinnerungen seines Vaters verknüpfen sich Vergangenheit und Gegenwart, werden die Situationen der einzelnen Zeitabschnitte verdeutlicht. Im Mittelpunkt steht dabei der Konflikt zwischen dem selbstständig denkenden und handelnden Einzelgänger und der politisch opportunistischen Mehrheit.
Heinrich Böll über die Entstehungsgeschichte von Billard um halbzehn in dem Interview mit Horst Bienek:
„Die erste Zelle dieses Romans ist die zweite Hälfte des Schlagballkapitels. Und diese Zelle ist entstanden aus einer historischen Begebenheit. Im Jahre 1934, glaube ich, war es, da ließ Göring hier in Köln vier junge Kommunisten durch Handbeil hinrichten. Der Jüngste von ihnen war siebzehn oder gerade achtzehn, so alt wie ich damals war, als ich gerade anfing, mich im Schreiben zu versuchen. Das Ganze war als Kurzgeschichte gedacht, war auch so angelegt, aber ich spürte eben, dass es ein Roman werden müsse. Das Thema hat sich dann verwandelt, vielfach verwandelt, als ich in Genf den Altar der Gebrüder van Eyck sah, in dessen Mitte das Gotteslamm steht. Ich habe den Altar dann innerhalb kürzerer Zeit noch einmal gesehen. Das ist alles, was ich weiß. Der Rest ist ein sehr komplizierter Vorgang wie immer beim Schreiben, wo Bewusstes und Unbewusstes sich ständig mischen in einem ständig wechselnden Mischungsverhältnis. Später dann habe ich diese beiden Anlässe, wenn ich sie so nennen darf, vergessen. Andere Gestalten und Motive wurden mir wichtiger, verloren wieder an Wichtigkeit. Das wechselt mit der Hitze und der notwendigen Abkühlung während des Schreibens und wechselt immer wieder.“
„Es ist eine breit dahinflutende, schmerzlich schöne Elegie vom Leben dieser unserer eigenen Zeit, von Hoffnungen, Leiden und Illusionen. Das Buch hat Reife. Es ist aller Tendenz enthoben. Sein Klang ist voll, sein Sinn ist mild, seine Wahrheit ist entschieden und klar: die Wahrheit des Lamms, das geopfert wird, damit die Welt weiterleben kann.“
Karl Korn„Wenn die Geschichten von Schicksalen, die um der Wahrheit willen erfunden wurden, noch heutzutage auf die Leser einen Einfluss ausüben können, dann ist wohl der Roman Heinrich Bölls dazu angetan, den Menschen besser zu machen. Was könnte man von einem Moralisten mehr sagen?“
Marcel Reich-Ranicki„Billard um halbzehn, Bölls vielleicht extremstes Buch, ist der Hilfeschrei eines „Nicht-Versöhnten“ (nicht: eines Unversöhnlichen). Mit rauschhafter Gewalt, rhapsodisch wie Koeppen, anspruchsvoll wie Faulkner, sucht da jemand nach Natur in unnatürlicher Welt, nach Trauer im Zeitalter der Restauration, nach Gelassenheit, die der Verzweiflung fähig ist.“
Joachim KaiserKapitel I
An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.
„Bitte“, sagte er, „nehmen Sie aus Ihrem Schreibtisch die kleine rote Karte, die ich Ihnen vor vier Jahren gab.“ Sie zog mit der rechten Hand ihre Schreibtischschublade auf, schob eine Tafel Schokolade, den Wollappen, das Messingputzmittel beiseite, nahm die rote Karte heraus. „Bitte, lesen Sie mir vor, was auf der Karte steht.“ Und sie las mit zitternder Stimme: „Jederzeit erreichbar für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und für Herrn Schrella, für niemanden sonst.“
„Bitte, wiederholen Sie den letzten Satz“, und sie wiederholte: „Für niemanden sonst.“ „Woher wussten Sie übrigens, dass die Telefonnummer, die ich Ihnen gab, die des Hotels ‘Prinz Heinrich‘ war?“ Sie schwieg. „Ich möchte betonen, dass Sie meine Anweisungen zu befolgen haben, auch wenn sie vier Jahre zurückliegen… bitte.“ – Sie schwieg.
„Dummes Stück…“ Hatte er das ‚Bitte‘ diesmal vergessen?
Sie hörte Gemurmel, dann eine Stimme, die ‚Taxi‘ rief, ‚Taxi‘, das amtliche Tuten, sie legte den Hörer auf, schob das Kärtchen auf die Mitte des Schreibtisches, empfand beinahe Erleichterung; diese Grobheit, die erste innerhalb von vier Jahren, war fast wie eine Zärtlichkeit.
Wenn sie verwirrt war oder des bis aufs äußerste präzisierten Ablaufs ihrer Arbeit überdrüssig, ging sie hinaus, das Messingschild zu putzen: ‚Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, nachmittags geschlossen‘. Eisenbahndämpfe, der Schleim der Auspuffgase, Straßenstaub gaben ihr täglich Gründ, den Wollappen und das Putzmittel aus der Schublade zu nehmen, und sie liebte es, diese Putzminuten auf eine viertel, eine halbe Stunde auszudehnen. Drüben im Haus Modestgasse 8 konnte sie hinter staubigen Fenstern die stampfenden Druckereimaschinen sehen, die unermüdlich Erbauliches auf weißes Papier druckten; sie spürte das Beben, glaubte sich auf ein fahrendes oder startendes Schiff versetzt. Lastwagen, Lehrjungen, Nonnen; Leben auf der Straße, Kisten vor Gemüseläden: Apfelsinen, Tomaten, Kohl. Und am Nebenhaus, vor Gretzens Laden, hängten zwei Lehrjungen gerade den Keiler auf, dunkles Wildschweinblut tropfte auf den Asphalt. Sie liebte den Lärm und den Schmutz der Straße. Trotz stieg in ihr hoch, und sie dachte an Kündigung; in irgendeinem Dreckladen arbeiten, in einem Hinterhof betrieben, wo Elektrokabel, Gewürze oder Zwiebeln verkauft wurden, wo schmuddelige Chefs mit herunterhängenden Hosenträgern und Wechselsorgen zu Vertraulichkeiten neigten, die man dann wenigstens hätte abweisen können; wo man um die Stunde, die man wartend beim Zahnarzt verbrachte, zu kämpfen hatte; wo für die Verlobung einer Kollegin Geld gesammelt wurde, Geld für einen Haussegen oder ein Buch über die Liebe; wo die schmutzigen Witze der Kollegen einen daran erinnerten, dass man selbst rein geblieben war. Leben. Nicht diese makellose Ordnung, nicht diesen Chef, der makellos gekleidet und makellos höflich war – und ihr unheimlich; sie witterte Verachtung hinter dieser Höflichkeit, die er jedem, mit dem er zu tun hatte, zuteil werden ließ. Doch mit wem, außer ihr, hatte er schon zu tun? Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nie mit jemandem sprechen sehen – außer mit seinem Vater, seinem Sohn, seiner Tochter. Niemals hatte sie seine Mutter gesehen, die lebte irgendwo in einem Sanatorium für Geistesgestörte, und dieser Herr Schrella, der noch auf der roten Karte stand, hatte niemals nach ihm verlangt. Sprechstunden hielt Fähmel nicht ab, Kunden, die telefonisch anfragten, musste sie bitten, sich schriftlich an ihn zu wenden.
Wenn er sie bei einem Fehler ertappte, machte er nur eine wegwerfende Handbewegung, sagte: „Gut, dann machen Sie es noch einmal, bitte.“ Das geschah selten, denn die wenigen Fehler, die ihr unterliefen, entdeckte sie selbst. Das ‚Bitte‘ jedenfalls vergaß er nie. Wenn sie ihn darum bat, gab er ihr frei, für Stunden, für Tage; als ihre Mutter starb, hatte er gesagt: „Dann schließen wir das Büro für vier Tage… oder möchten Sie lieber eine Woche?“ Doch sie wollte keine Woche, nicht einmal vier Tage, nur drei, und selbst die wurden ihr in der leeren Wohnung zu lang. Zur Seelenmesse und zur Beerdigung erschien er natürlich in vollendetem Schwarz, erschienen sein Vater, sein Sohn, seine Tochter, trugen alle riesige Kränze, die sie eigenhändig am Grab niederlegten, lauschten der Liturgie; und sein alter Vater, den sie mochte, flüsterte ihr zu: „Wir Fähmels kennen den Tod, stehen auf vertrautem Fuß mit ihm, liebes Kind.“
All ihren Wünschen um Vergünstigungen kam er widerstandslos entgegen, und so fiel es ihr im Laufe der Jahre immer schwerer, ihn um eine Gunst zu bitten; er hatte die Arbeitszeit mehr und mehr herabgesetzt; im ersten Jahr hatte sie noch von acht bis vier gearbeitet, aber nun war ihre Arbeit schon seit zwei Jahren so rationalisiert, dass sie gut von acht bis eins getan werden konnte, ihr sogar noch Zeit blieb, sich zu langweilen, die Putzminuten auf halbe Stunden auszudehnen. Kein Wölkchen mehr auf dem Messingschild zu entdecken! Seufzend schraubte sie die Flasche mit dem Putzmittel zu, faltete den Lappen; immer noch stampften die Druckereimaschinen, druckten unerbittlich Erbauliches auf weißes Papier, immer noch blutete der Keiler. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße.
Auf dem Schreibtisch die rote Karte; seine makellose Architektenschrift: ‚… für niemanden sonst‘. Die Telefonnummer, die sie mühsam, in langweiligen Stunden, über ihre Neugier errötend, identifiziert hatte: ‚Hotel Prinz Heinrich‘. Der Name hatte ihrer Witterung neue Nahrung gegeben: was tat er morgens zwischen halb zehn und elf im Hotel Prinz Heinrich? Eisige Stimme am Telefon: ‚Dummes Stück‘. Hatte er wirklich nicht ‚bitte‘ dazu gesagt? Der Stilbruch stimmte sie hoffnungsvoll, tröstete sie über die Arbeit, die auch ein Automat hätte ausführen können.
Zwei Musterbriefe, die in vier Jahren nicht geändert worden waren, die sie schon in den Durchschlägen ihrer Vorgängerin entdeckt hatte; einen für die Kunden, die Aufträge erteilen: ‚Danken wir Ihnen für Ihr Vertrauen, das wir durch rasche und korrekte Erledigung des Auftrages rechtfertigen werden. Hochachtungsvoll‘; der zweite Brief, der zu schreiben war, wenn sie die statischen Unterlagen an die Kunden zurückschickte: ‚Anbei die gewünschten Unterlagen für das Bauvorhaben X. Das Honorar in Höhe von Y bitten wir auf unser Bankkonto zu überweisen. Hochachtungsvoll.‘ Blieben freilich für sie gewisse Variationen; für X hatte sie einzusetzen: Haus für einen Verleger am Waldrand, Haus für einen Lehrer am Flussufer, Bahnüberführung Hollebenstraße. Für Y das Honorar, das sie nach einem einfachen Schlüssel selbst errechnen musste.
Blieb noch der Briefverkehr mit seinen drei Mitarbeitern: Kanders, Schrit und Hochbret. Denen musste sie die Aufträge in der Reihenfolge ihres Eintreffens zuschicken. „Damit“, so hatte Fähmel gesagt, „die Gerechtigkeit ihren automatischen Verlauf nimmt und das Glück eine repräsentative Chance hat.“ Kamen die Unterlagen zurück, musste das, was Kanders errechnet hatte, Schrit; was Hochbret errechnet hatte, Kanders; was Schrit errechnet hatte, Hochbret zur Überprufung zugeschickt werden. Karteien waren zu führen, Spesenrechnungen zu buchen, Zeichnungen zu fotokopieren und von jedem Bauvorhaben eine Fotokopie in doppelter Postkartengröße für sein Privatarchiv herzustellen; – aber die meiste Arbeit bestand im Frankieren: immer wieder die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, die Marke sauber in die rechte obere Ecke des gelben Umschlags geklebt; sie empfand es schon als Abwechslung, wenn mal ein brauner, ein violetter, ein gelber Heuss darunter war.
Fähmel hatte sich zum Prinzip gemacht, nie länger als eine Stunde pro Tag im Büro zu verbringen; er schrieb seinen Namen unters Hochachtungsvoll, unter Honoraranweisungen. Kamen mehr Aufträge, als er in einer Stunde hätte bewältigen können, lehnte er die Annahme ab. Für diese Fälle gab es hektographierte Zettel mit dem Text: ‚Infolge Arbeitsüberlastung sehen wir uns leider gezwungen, auf Ihren geschätzten Auftrag zu verzichten. Gez. F.‘
Nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm morgens zwischen halb neun und halb zehn gegenübersaß, hatte sie ihn bei intimen menschlichen Verrichtungen gesehen; beim Essen, Trinken; niemals einen Schnupfen an ihm bemerkt; errötend dachte sie an intimere Dinge als diese; dass er rauchte, war kein Ersatz für das Vermisste: zu makellos war die schneeweiße Zigarette, nur die Asche, die Stummel im Aschenbecher trösteten sie: das war wenigstens Abfall, bewies, dass Verbrauch stattgefunden hatte. Sie hatte schon bei gewaltigen Chefs gearbeitet, Männern, deren Schreibtische wie Kommandobrücken waren, deren Physiognomie Furcht einflößte, doch selbst diese Großen hatten irgendwann einmal eine Tasse Tee, einen Kaffee getrunken, ein belegtes Brot gegessen, und der Anblick essender und trinkender Gewaltiger hatte sie immer in Erregung versetzt: da krumelte Brot, blieben Wurstpellen übrig und speckige Schinkenränder, mussten Hände gewaschen, Taschentücher gezogen werden. Versöhnliches zeigte sich hinter Stirnen aus Granit, die über ganze Armeen befahlen, Münder wurden in Gesichtern abgewischt, die einstmals, in Bronze gegossen, auf Denkmalsockeln späteren Geschlechtern von ihrer Größe künden wurden. Fähmel, wenn er um halb neun aus dem Hinterhaus kam, brachte keine Frühstücksspuren mit, war – wie es einem Chef geziemt hatte – weder nervös noch gesammelt; seine Unterschrift, auch wenn er vierzigmal seinen Namen unters Hochachtungsvoll zu schreiben hatte, blieb leserlich und schön; er rauchte, unterschrieb, blickte selten einmal in eine Zeichnung, nahm Punkt halb zehn Mantel und Hut, sagte: „Bis morgen dann“ und verschwand. Von halb zehn bis elf war er im Hotel Prinz Heinrich zu erreichen, von elf bis zwölf im Cafe Zons, erreichbar nur für ‚seine Mutter, seinen Vater, seine Tochter, seinen Sohn – und Herrn Schrella‘ – ab zwölf beim Spaziergang und um eins traf er sich mit seiner Tochter ‚Im Löwen‘ zum Mittagessen. Sie wusste nicht, wie er seine Nachmittage, seine Abende verbrachte, wusste nur, dass er morgens um sieben der heiligen Messe beiwohnte, von halb acht bis acht mit seiner Tochter, von acht bis halb neun allein frühstückte. Immer wieder war sie überrascht über die Freude, die er zeigte, wenn sein Sohn sich anmeldete; immer wieder öffnete er dann das Fenster, blickte die Straße hinunter bis zum Modesttor, Blumen wurden gebracht, eine Haushälterin für die Dauer des Besuchs engagiert; die kleine Narbe über seinem Nasenbein wurde rot vor Erregung, Reinmachefrauen bevölkerten das düstere Hinterhaus, förderten Weinflaschen zutage, die im Flur für den Altwarenhändler bereitgestellt wurden; immer mehr Flaschen sammelten sich, wurden erst in Fünfer —, dann in Zehnerreihen aufgestellt, da die Lange des Flures nicht ausreichte; dunkelgrüner, starrer Staketenwald, dessen Spitzen sie errötend, sich der unziemlichen Neugier bewusst, zählte: zweihundertundzehn Flaschen, leergetrunken zwischen Anfang Mai und Anfang September, mehr als eine Flasche täglich.