„Wie hat er sie herausbekommen?“ fragte ich, mit dem professionellen Interesse jedes Emigranten.
„Er hat alte, belanglose, geöffnete Briefe mitgenommen und die Marken zwischen das Futter und den Umschlag gesteckt. Die Zollbeamten revidierten die Briefe, nicht die Umschläge.“ „Gut“, sagte ich.
„Er hatte außerdem noch zwei kleine Porträts von Ingres* mitgenommen. Bleistiftzeichnungen. Er hatte sie in breite Passepartouts* und geschmacklose Talmirahmen gesteckt und behauptet, es seien Porträts seiner Eltern. Hinter die Passepartouts hatte er zwei Degas-Zeichnungen so geklebt, dass sie nicht zu sehen waren.“
„Gut“, sagte ich wieder.
„Er bekam einen Herzanfall im April und gab mir seinen Pass, die Marken, die er noch hatte, und die Zeichnungen. Er gab mir auch die Adressen von Leuten, die die Marken kaufen würden. Als ich am nächsten Morgen nach ihm sah, lag er tot in seinem Bett, und ich erkannte ihn kaum, so verändert hatte die Stille ihn. Ich nahm das Geld, das er noch besaß, und einen Anzug und etwas Wäsche mit mir. Er hatte mir am Tage vorher gesagt, es zu tun; es sei besser, Schicksalsgenossen bekämen es, als der Wirt.“
„Sie haben den Pass geändert?“ fragte ich. „Nur das Photo und das Geburtsjahr. Schwarz war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Unsere Vornamen waren gleich.“
„Wer hat es gemacht? Brünner?“
„Jemand aus München.“
„Das war Brünner, der Passdoktor, Er war sehr tüchtig.“
Brünner war bekannt gewesen für seine guten Korrekturen. Er hatte manchem geholfen, besaß aber selbst keinen Ausweis, als er gefasst wurde, weil er abergläubisch war; er glaubte, er sei ehrlich und ein Wohltäter und ihm würde nichts passieren, solange er seine Kunst nicht für sich selbst benützte. Vor der Emig ration hatte er eine kleine Druckerei in München gehabt.
„Wo ist er jetzt?“ fragte ich.
„Ist er nicht in Lissabon?“
Ich wusste es nicht. Aber es war möglich, wenn er noch lebte.
* * *„Es war merkwürdig, als ich den Pass hatte“, sagte Schwarz II. „Ich getraute mich nicht, ihn zu benutzen. Es dauerte ohnehin ein paar Tage, ehe ich mich an den neuen Namen gewöhnte. Ich sagte ihn mir immerfort vor. Ich ging über die Champs-Elysees*und murmelte meinen Namen und meine neuen Geburtsdaten. Ich saß im Museum vor den Renoirs und flüsterte, wenn ich allein war, einen imaginären Dialog; – mit scharfer Stimme: „Schwarz!“, um sofort aufzuspringen und zu antworten: „Das bin ich!“ —, oder ich schnarrte, „Name!“ um sofort automatisch daherzuleiern: „Josef Schwarz, geboren in Wiener Neustadt am 22. Juni 1898.“ Sogar abends vor dem Schlafengehen trainierte ich. Ich wollte nicht irgendwann von einem Polizisten nachts aufgeweckt werden und im Halbschlaf das Falsche sagen. Ich wollte meinen früheren Namen vergessen. Es war ein Unterschied, keinen Pass oder einen falschen zu haben. Der falsche war gefährlicher.
Ich verkaufte die beiden Ingres-Zeichnungen. Man gab mir weniger dafür, als ich erwartet hatte, aber ich besaß auf einmal Geld, mehr Geld, als ich lange Zeit gesehen hatte.
Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ. Konnte ich nicht mit diesem Pass nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen. Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte…“
Schwarz sah mich an. „Sie kennen das ja sicher! Den Emigranten-Koller in seiner reinsten Form. Den Krampf im Magen, in der Kehle und hinter den Augen. Das, was man fünf Jahre hindurch in die Erde ge stampft, zu vergessen gesucht, gemieden hat wie einen Cholerakranken, steht wieder auf: die tödliche Erinnerung, der Krebs der Seele für den Emigranten!
Ich versuchte mich zu befreien. Ich ging wie frü her zu den Bildern des Friedens und der Stille, zu den Sisleys und Pissaros und Renoirs, ich saß stundenlang im Museum – aber jetzt war die Wirkung umgekehrt. Die Bilder beruhigten mich nicht mehr – sie begannen zu rufen, zu fordern, zu erinnern – an ein Land, noch nicht verwüstet von dem braunen Aussatz, an Abende in Gassen, über deren Mauern Flieder hing, an die goldene Dämmerung der alten Stadt, an ihre schwalbenumflogenen grünen Kirchtürme – und an meine Frau.
Ich bin ein mittelmäßiger Mensch und habe keine besonderen Eigenschaften. Ich hatte mit meiner Frau vier Jahre gelebt, wie man so zu leben pflegte: ohne Schwierigkeiten, angenehm, aber auch ohne große Passion. Nach den ersten Monaten war unser Verhältnis das geworden, was man eine gute Ehe nennt – eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die akzeptieren, dass Rücksicht aufeinander die Grundlage für ein behagliches Zusammensein ist. Wir vermissten die Träume nicht. So wenigstens schien es mir. Wir waren vernünftige Menschen. Wir hatten uns herzlich gern. Jetzt verschob sich alles. Ich begann mich anzukla gen, eine so mittelmäßige Ehe geführt zu haben. Ich hatte alles versäumt. Wozu hatte ich gelebt? Was tat ich jetzt? Ich verkroch mich und vegetierte. Wie lange würde es noch dauern? Und wie würde es enden? Der Krieg würde kommen, und Deutschland musste siegen. Es war das einzige Land, das voll bewaffnet war. Was würde dann passieren? Wohin konnte ich kriechen, wenn ich noch Zeit und Atem hatte? In welchem Lager würde ich verhungern? An welcher Mauer durch einen Genickschuss umgelegt werden, wenn ich Glück hatte? Der Pass, der mir hätte Ruhe geben sollen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich lief auf den Straßen umher, bis ich so müde war, dass ich fast umfiel; aber ich konnte nicht schlafen, und wenn ich schlief, weckten mich die Träume wieder auf. Ich sah meine Frau in einem Gestapokeller*: ich hörte sie vom Hinterhof des Hotels um Hilfe rufen; und eines Tages, als ich ins Cafe de la Rose eintrat, glaubte ich, im Spiegel, der schräg gegenüber der Tür hängt, ihr Gesicht zu sehen, das sich mir flüchtig zuwandte – bleich, mit trostlosen Augen – und dann wegglitt. Es war so deutlich, dass ich annahm, sie sei da, und rasch in den hinteren Raum lief. Das Zimmer war, wie immer, voll von Menschen, aber sie war nicht darunter.
Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: dass sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinkam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich – es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn – und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlusslichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.
Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau* gewesen. Er riet mir, weniger allein zu sein. „Finden Sie eine Frau“, sagte er.
Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen lässt mit dem schalen Geschmack, dass man sich missbraucht hat?
Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich musste zurück. Ich musste meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, dass sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich musste sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.
Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, dass Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetendeutschland*, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg musste kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich musste mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wusste ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrükte tun.
Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkünde ten für jeden, der sie lesen konnte.
Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Pass auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.
Der Mann sah den Pass an. Es war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, dass er den Himmel und die Freiheit abschlösse – als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Pass zurück.
„Sie haben vergessen, ihn zu stempeln“, sagte ich in der Welle der Erleichterung, ohne es zu wollen, rasch.
Der Beamte lächelte. „Ich werde ihn schon noch stempeln. Ist Ihnen das so wichtig?“
„Das nicht. Es macht ihn nur zu einer Art von Souvenir.“
Der Mann stempelte den Pass und ging. Ich biss mir auf die Lippen. Wie nervös ich geworden war! Dann fiel mir ein, dass der Pass mit dem Stempel schon etwas echter aussah.
* * *In der Schweiz überlegte ich einen Tag, ob ich auch mit dem Zuge nach Deutschland fahren sollte; aber ich hatte nicht den Mut. Ich wusste auch nicht, ob man Heimkehrer, selbst solche aus dem früheren Österreich, nicht besonders revidieren würde. Wahrscheinlich hätte man es nicht getan; ich beschloss trotzdem, schwarz über die Grenze zu gehen.
In Zürich begab ich mich deshalb, wie früher, zuerst zur Hauptpost. Am Schalter für postlagernde Sendungen traf man dort meistens Bekannte – Wanderer ohne Aufenthaltsbewilligung, wie man selbst, die einem Informationen geben konnten. Von dort ging ich ins Cafe Greif – dem Gegenstück zum Cafe de la Rose. Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, dass es mir ernst war, vor mir zurückwich. Wer zurückwollte, musste ein Überläufer sein; denn wer wollte schon zurück, wenn er das Regime nicht auch akzeptierte? Und was würde jemand, der so weit war, sonst noch tun? Wen verraten? Was verraten?
Ich war plötzlich allein. Man mied mich, wie man jemand meidet, der gemordet hat. Ich konnte auch nichts erklären; mir wurde selbst manchmal so heiß, dass ich vor Panik schwitzte, wenn ich daran dachte, was ich vorhatte; wie hätte ich es da anderen begreiflich machen können?
Am dritten Morgen kam die Polizei um sechs Uhr früh und holte mich aus dem Bett. Man fragte mich genau aus. Ich wusste sofort, dass einer meiner Bekannten mich angezeigt hatte. Mein Pass wurde misstrauisch betrachtet, und ich wurde zum Verhör mitgenommen. Es war jetzt ein Glück, dass der Pass gestempelt worden war. Ich konnte so nachweisen, dass ich legal eingereist und „erst drei Tage im Lande war. Ich erinnere mich genau an den frühen Morgen, als ich mit dem Beamten durch die Straßen ging. Es war ein klarer Tag, und die Türme und Dächer der Stadt standen scharf, wie aus Metall geschnitten, vor dem Himmel. Aus einer Bäckerei roch es nach warmem Brot, und aller Trost der Welt schien in diesem Geruch zu sein. Kennen Sie das?“
Ich nickte. „Die Welt erscheint einem nie schöner als in dem Augenblick, wenn man eingesperrt wird. Bevor man sie verlassen muss. Wenn man sie nur immer so fühlen könnte! Vielleicht hat man zuwenig Zeit dazu. Zuwenig Ruhe.“
Schwarz schüttelte den Kopf. „Es hat mit Ruhe nichts zu tun. Ich habe es so gefühlt,“ „Konnten Sie es halten?“ fragte ich. „Das weiß ich nicht,“ erwiderte Schwarz langsam. „Das ist es ja, was ich herausfinden muss. Es ist mir aus den Händen geglitten – aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? Kann ich es jetzt nicht vielleicht stärker wieder zurückgewinnen und es für immer halten? Jetzt, wo es sich nicht mehr verändert? Verliert man nicht immerfort, was man zu halten glaubt, weil es sich bewegt? Und steht es nicht still erst, wenn es nicht mehr da ist und sich nicht mehr ändern kann? Gehört es einem nicht erst dann?“
Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Es war das erste Mal, dass er mich voll anblickte. Die Pupillen waren groß. Ein Fanatiker oder ein Verrückter, dachte ich plötzlich.
„Ich habe es nie gekannt“, sagte ich. „Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?“
Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter. „Darling, warum müssen wir zurück?“ sagte sie zu dem Mann im weißen Smoking. „Wenn wir doch hierbleiben könnten! Ich habe gar keine Lust, wieder nach Amerika zu gehen.“
Aufgaben zum Text
1) Warum vergleicht der Ich-Erzähler das Passagierschiff im Tejo mit einer Arche und Amerika mit dem Berg Ararat?
2) Warum war der Ich-Erzähler gegenüber dem Mann auf dem Quai misstraurisch?
3) Was haben Sie aus diesem Kapitel über den Ich-Erzähler erfahren: wo war er bereits gewesen, wo wollte er hin? Was war der Grund seiner Wanderungen?
4) Warum wollte Schwarz in dieser Nacht mit jemandem sprechen?
5) Erzählen Sie, wie Schwarz einen gültigen Pass bekam.
6) Warum beschloss Schwarz nach Deutschland zu gehen, obwohl es todesgefährlich war? Erklären Sie, was Emmigranten-Koller ist.
Texterläuterungen
Tejo der, der längste Strom der Pyrenäenhalbinsel, mündet bei Lissabon in den Atlantischen Ozean
Arche (lat. „Kasten“) die, Schiff Noahs
Sintflut die, im Alten Testament Überflutung der Erde als göttliche Strafe für die Sünden der Menschheit, die nur Noah mit seiner Familie und einem Paar aller Tiere überlebte
Ararat der, erloschener Vulkan in der östlichen Türkei, nahe der iranischarmenischen Grenze. Im Alten Testament wird ein Land Ararat als Landungsstelle der Arche Noahs genannt.
Bordeaux, kultureller Mittelpunkt sowie Haupthandels- und Hafenstadt im Südwesten Frankreichs
Lazarus (herb. „Gott hilft“), Bruder der Maria und Martha von Bethanien, von dem mit ihm befreundeten Jesus nach 3 Tagen Grabesruhe wieder zum Leben erweckt (Joh. 11). Als Symbol der Auferweckung des Lebens gehört zu den frühesten Darstellungen der christlichen Kunst. Nach einer Legende soll er Bischof von Marseille geworden sein.
Fado (portugies. „Schicksal“) der, in Portugal in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufgekommenes, traurig gestimmtes Volkslied mit freiem, stark synkopiertem Rhythmus und Gitarrenbegleitung. Die Texte haben überwiegend sentimentalen Charakter, sie erzählen von Sehnsucht, Schicksal, Liebe und Trennungsschmerz. Herkunft wahrscheinlich aus der Musik Brasiliens oder Afrikas.
Koller der, Ausbruch angestauter Gefühle, Wutanfall
Garnele die, ein kleiner Krebs mit langen Fühlern und zehn Beinen, dessen Fleisch als Delikatesse gegessen wird
Münchener Pakt der, am 29.9. 1938 von A. Hitler, B. Mussolini, A.N. Chamberlain und É. Daladier abgeschlossenes Abkommen über die Abtretung des Sudetenlands an Deutschland durch die Tschechoslowakei.
Louvre der, ehemaliges Schloss der französischen Könige in Paris, seit 1793 Museum
Impressionismus der, zwischen 1860 und 1870 in der französischen Malerei entstandene Stilrichtung, die den zufälligen Ausschnitt aus der Wirklichkeit darstellt und bei der Farbe und Komposition vom subjektiven Reiz des optischen Eindrucks des Lichts bestimmt ist. Bedeutende Vertreter waren C. Monet, É. Manet, C. Pissarro, A. Sisley, E. Degas, A. Renoir, P. Cézanne.
Ingres, Jean Auguste Dominique, französischer Maler und Grafiker des Klassizismus
Passepartout das, aus Karton geschnittene Umrahmung für Zeichnung, Grafik u.a. Gestapo die, Abkürzung für Geheime Staatspolizei, die politische Polizei im Nationalsozialismus; konnte „Schutzhaft“ in Gefängnissen und Konzentrationlslagern verhängen, foltern, liquidieren; unter anderem auch mit „Einsatzgruppen“ an der Massenvernichtung der Juden beteiligt.
Champs-Elysées („elysäische Gefilde“), Prachtstraße in Paris, zwischen Place de la Concorde und Place Charles de Gaulle
Breslau, Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft, (Provinz) Niederschlesien
Sudeten Pl., Gebirgszug zwischen Schlesien und Böhmen
Sudetenland, ehemalige deutsche Reichsgau, 1938 gebildet aus den von der Tschechoslowakei abgetretenen sudetendeutschen Gebieten; 1946 an die Tschechoslowakei zurückgefallen
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„Die Polizei in Zürich hielt mich nur einen Tag fest“, sagte Schwarz. „Aber es war ein schwerer Tag für mich. Ich hatte Furcht, dass man meinen Pass kontrollieren würde. Ein Telefongespräch mit Wien konnte schon genügen; ebenso eine Überprüfung der veränderten Daten durch einen Spezialisten.
Nachmittags wurde ich ruhig. Ich betrachtete das, was geschehen würde, als eine Art Gottesurteil. Die Entscheidung schien mir abgenommen worden zu sein. Steckte man mich ins Gefängnis, so würde ich nicht versuchen, nach Deutschland zu gehen. Aber abends ließ man mich frei und empfahl mir dringend, meine Reise aus der Schweiz hinaus so rasch wie möglich fortzusetzen.
Ich beschloss, es über Österreich zu tun. Die Grenze dort kannte ich etwas, und sie war sicher nicht so scharf bewacht wie die deutsche. Warum sollten beide überhaupt scharf bewacht sein? Wer sollte schon hinein? Aber viele wollten wahrscheinlich hinaus.
Ich fuhr nach Oberriet, um irgendwo von dort aus den Übergang zu versuchen. Am liebsten hätte ich auf einen regnerischen Tag gewartet; aber das Wetter blieb zwei Tage lang klar. In der dritten Nacht ging ich, um nicht durch zu langes Bleiben aufzufallen.
Es war eine Nacht mit allen Sternen. Sie war so still, dass ich glaubte, die leisen Geräusche des Wachsens hören zu können. Sie wissen, dass bei Gefahr eine andere Form des Sehens sich einstellt – nicht so sehr scharf, im Focus, durch die Augen, sondern mehr ausgebreitet über den Körper, als ob man mit der Haut sähe, besonders nachts. Es ist dann fast so, als ob man auch Geräusche sehen könnte, so sehr ist auch das Hören auf die Haut verlagert. Man öffnet den Mund und lauscht, und auch der Mund scheint zu sehen und zu hören.
Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich war meiner selbst voll bewusst, alle meine Sinne waren weit offen, ich war auf alles gefasst, aber ganz ohne Angst. Mir war, als ginge ich über eine hohe Brücke, von einer Seite meines Lebens auf die andere, und ich wusste, dass diese Brücke sich hinter mir auflösen würde wie silberner Rauch und dass ich nie zurückkehren könne. Ich ging von der Vernunft in das Gefühl, von der Sicherheit in das Abenteuer, vom Rationalen in den Traum. Ich war vollkommen einsam, aber dieses Mal war die Einsamkeit ohne jede Qual; sie hatte fast etwas Mystisches.
Ich kam an den Rhein, der an dieser Stelle noch jung und nicht sehr breit ist. Ich zog mich aus und machte ein Bündel aus meinen Kleidern, um sie über den Kopf halten zu können. Es war ein sonderbares Gefühl, als ich nackt in das Wasser tauchte. Es war schwarz und sehr kühl und fremd, als tauchte ich in den Fluss Lethe*, um Vergessenheit zu trinken. Auch dass ich nackt hindurchmusste, schien mir ein Symbol zu sein, als ließe ich alles hinter mir.
Ich trocknete mich ab und suchte weiter meinen Weg. Als ich an einem Dorf vorbeikam, hörte ich einen Hund anschlagen. Ich wusste nicht genau, wie die Grenze lief, und hielt mich deshalb am Rande einer Straße, die an einem Gehölz entlangführte. Kein Mensch begegnete mir für lange Zeit. Ich ging, bis es Morgen wurde. Der Tau fiel plötzlich stark, und ein Reh stand am Rande einer Lichtung. Ich ging weiter, bis ich die ersten Bauern mit ihren Fuhrwerken kommen hörte. Dann suchte ich mir ein Versteck, nicht weit von der Straße. Ich wollte nicht verdächtig erscheinen, weil ich so früh auf war und aus der Richtung der Grenze kam. Später sah ich zwei Zollbeamte auf Fahrrädern die Landstraße entlangfahren. Ich erkannte ihre Uniform. Ich war in Österreich. Österreich gehörte damals seit einem Jahr zu Deutschland.“
* * *Die Frau im Abendkleid verließ mit ihrem Begleiter die Terrasse. Sie hatte sehr braune Schultern und war größer als der Mann, der bei ihr war. Auch ein paar andere Touristen schlenderten langsam die Treppen hinunter. Sie alle gingen wie Leute, die nie gejagt worden waren. Sie drehten sich nicht um.
„Ich hatte Butterbrote bei mir“, sagte Schwarz, „und ich fand einen Bach mit Wasser. Mittags wanderte ich weiter. Mein Ziel war der Ort Feldkirch, von dem ich wusste, dass er im Sommer von Ferienreisenden besucht wurde. Ich erwartete, da nicht so aufzufallen. Auch Züge hielten dort. Ich erreichte ihn. Mit dem nächsten Zug fuhr ich von der Grenze weg, um aus der gefährlichsten Zone herauszukommen. Als ich in das Abteil trat, saßen dort zwei SA-Männer* in Uniform.
Ich glaube, dass mein Training mit der Polizei Europas mir in diesem Augenblick zu Hilfe kam, sonst wäre ich wohl zurückgesprungen. So stieg ich ein und setzte mich in eine Ecke neben einen Mann in Lodentracht, der ein Gewehr bei sich hatte.
Es war mein erster Zusammenstoß nach fünf Jahren mit allem, was für mich die Verkörperung des Abscheus war. Ich hatte es mir in den vergangenen Wochen oft vorgestellt, aber die Wirklichkeit war anders. Es war der Körper, nicht der Kopf, der reagierte; es war der Magen, der zu Stein, der Mund, der eine Raspel wurde.
Der Jäger und die SA-Leute führten ein Gespräch über eine Witwe Pfundner. Sie schien sehr munter zu sein, denn die drei zählten einige ihrer Liebschaften auf. Dann begannen sie zu essen. Sie hatten Schinkenbrote bei sich.
„Wo wollen denn Sie hin, Herr Nachbar?“ fragte mich der Jäger.
„Zurück, nach Bregenz*“, sagte ich – „Sie sind fremd hier, wie?“
„Ja. Ich bin auf Ferien.“ – „Und woher kommen Sie?“
Ich zauderte eine Sekunde. Hätte ich Wien gesagt, wie es im Pass stand, wäre den dreien vielleicht aufgefallen, dass ich nicht den weichen Wiener Dialekt sprach. „Aus Hannover“, sagte ich. „Ich wohne da schon über dreißig Jahre.“
„Hannover! Das ist aber weit weg.“
„Das ist es. Aber in den Ferien will man ja nicht zu Hause bleiben.“
Der Jäger lachte. „Stimmt. Schönes Weiler haben Sie erwischt!“
Ich fühlte, dass mein Hemd klebte. „Schön, ja“, sagte ich, „aber heiß, als wäre es bereits Hochsommer.“
Die drei begannen wieder die Witwe Pfundner durchzuhecheln. Ein paar Stationen später stiegen sie aus, und ich blieb allein im Abteil. Der Zug fuhr jetzt durch eine der schönsten Landschaften Europas, aber ich sah sehr wenig davon. Ich hatte plötzlich einen fast unerträglichen Anfall von Reue, Furcht und Verzweiflung. Ich verstand einfach nicht mehr, weshalb ich die Grenze überschritten hatte. Ohne mich zu rühren, saß ich in meiner Ecke und starrte aus dem Fenster. Ich war gefangen, und ich hatte selbst die Tür hinter mir ins Schloss geworfen. Ein dutzendmal wollte ich aussteigen, um zu versuchen, nachts in die Schweiz zurückzukehren.
Ich tat es nicht. Meine linke Hand hielt in meiner Tasche den Pass des toten Schwarz umklammert, als könne mir Kraft daraus zufließen. Ich sagte mir vor, dass es jetzt gleich sei, ob ich mich länger in der Nähe der Grenze aufhielte oder nicht, und dass ich sicherer sei, je weiter ich ins Land hineinführe. Ich beschloss auch, die Nacht durchzufahren. Im Zuge fragte man weniger nach Papieren als in einem Hotel.