Hierzu noch einige allgemeine Bemerkungen über den Stand der völkerkundlichen Forschung in den Kaukasusländern. Wie überall in der Welt, so verschwinden auch hier die alten Volkskulturen in ihren geistigen und materiellen Bestande immer mehr und mehr und werden durch die moderne Lebensführung westeuropäischer Herkunft verdrängt, die gerade durch den Krieg und besonders den Bolschewismus aufs intensivste verbreitet und bis in die entlegensten Gebirgstäler getragen worden ist. Aber ebenso eifrig ist man dabei, das noch vorhandene aufzuzeichnen und in Museen zu sammeln, bevor es endgültig verschwindet. An dieser gegenwärtig in vollem Gange befindlichen Arbeit ist jedoch der Anteil westeuropäischer Forscher, die in früheren Jahrzehnten doch in vorderster Front standen, recht gering. Allerdings dürfte das Interesse für den Kaukasus bei uns keineswegs nachgelassen haben, eher wohl im Gegenteil. Ganz unverhältnismäßig viel stärker ist aber auf russischer Seite das Interesse für landes- und volkskundliche Forschung und für Kaukasuskunde im besonderen gestiegen. Unterstützt wird diese Bewegung durch eine straffe Organisation, die die zahlreichen jährlich in den verschiedenen Teilen des Reisenreiches arbeitenden Expeditionen nach einheitlichem Plane leitet. Das hat freilich seinen besonderen Grund auch darin, daß als Quelle für die hierzu notwendigen Mittel ausschließlich die Staatskasse in Frage kommt, wie es ja in einem kommunistischen Staate nicht anders möglich ist. Vor allem aber muß berücksichtigt werden – ein Umstand, der viel zu wenig bekannt ist —, daß die landes- und volkskundliche Forschung nicht bloß von den Russen betrieben wird, sondern daß die zahlreichen Fremdvölker des Reiches, auf die sich die Untersuchungen doch hauptsächlich erstrecken, selbst schon tatkräftig dabei mitarbeiten, das eine mehr, das andere weniger. Größere Völker, wie das alte Kulturvolk der Georgier, haben das ja auch früher schon getan, aber bei den anderen kleinen Kaukasusvölkern, besonders den Nordkaukasiern, ist der Sinn für Heimatforschung in der letzten Zeit erwacht bzw. künstlich geweckt worden im allgemeinen Zusammenhange mit der Nationalitätenpolitik der Sowjetunion. Wesentlichen Anteil daran hat die Entwicklung des Volksbildungswesens. Während meines Aufenthaltes genossen im Tschetschenengebiet ungefähr 40% aller Kinder regelmäßigen Schulunterricht, in den Dörfern der Ebene mehr, im Hochgebirge weniger. Es waren nur einige wenige, schwer zugängliche Hochgebirgstäler, in denen noch keine Schule existierte. Die Fremdvölker haben eben durch den Bolschewismus außerordentliche Vorteile erhalten; auch als Gegner des Bolschewismus muß man dies zugeben2); ihre kulturelle Entwicklung ist auf Kosten der russischen Volksteile. Voll auswirken, besonders eben auch für die Heimatforschung, wird sich diese Wandlung der Dinge erst in einigen Jahren, wenn die jüngere Generation der Fremdvölker herangewachsen sein wird. Aber auch heute hat jedes der kleinen Autonomen Gebiete des Nordkaukasus – und in den anderen Teilen des Reiches ist es ebenso ß sein eigenes kleines heimatkundliches Museum. Zentren der Forschung sind die Museen und Institute von Wladikawkas und Petrowsk (Machatschkala), in denen ständige wissenschaftliche Kräfte arbeiten, wovon periodische Veröffentlichungen zeugen. Hier wurde mir auch bereitwilligst Gastfreundschaft gewährt, wofür ich auch an dieser Stelle danken möchte.
So muß derjenige, der heute Kaukasusforschung betreibt, ganz gleich, ob in natur- oder geisteswissenschaftlicher Richtung, sich eingehend mit den Arbeiten vertraut machen, die in den letzten Jahren von russischen Forschern und eingeborenen Kaukasiern an Ort und Stelle geleistet worden sind und noch werden, wenn seine Beobachtungen und die daraus gefolgerten Schlüsse dem jeweiligen Stande der Forschung entsprechen sollen. Freilich ist diese Forderung infolge des trotz mancher Bemühungen noch mangelhaften Literaturaustausches nicht leicht zu erfüllen.
Für die Reise standen mir nur sehr geringe Mittel zur Verfügung. Ein größerer Betrag, der mir, als ich mich schon im Kaukasus befand, in großzügiger Weise vom Hamburger Museum für Völkerkunde zum Erwerb völkerkundlicher Gegenstände noch zur Verfügung gestellt wurde, kam infolge mannigfacher Schwierigkeiten leider nur zum kleinen Teile in meine Hände. Einige der mitgebrachten Gegenstände sind hier veröffentlicht; die Anfertigung der betreffenden Zeichnungen geschah in dankenswerter Weise durch das Museum. Vom allem danke ich dem Leiter der kaukasischen Abteilung des Museums, Herrn Dr. A. Byhan, für sein oft bewiesenes freundliches Entgegenkommen. Manch wertvolle Anregung erhielt ich von meinem Freunde Dr. Friedlich Baumhauer, Osterode, Ostpr., auf Grund seiner auf eigenen Forschungen beruhenden eingehenden Kenntnis der georgischen Volkskunde.
Herrn Prof. Dr. Arved Schultz, dem Direktor des Geographischen Instituts der Universität Königsberg, des deutschen Institutes, das die besten Möglichkeiten für Studien zur allgemeinen Landeskunde des russischen Ostens bietet, gilt mein besonderer Dank für das rege Interesse und die Förderung, die er meinen kaukasischen Arbeiten zuteil werden ließ sowie dafür, daß die Veröffentlichung der vorliegenden Schrift in dieser Ausstattung ermöglicht wurde. (Naheres daruber enthalt mein Aufsatz in der Zeitschrift «Osteuropa» 1928, Heft 10 «Vom kulturellen Leben in den kleinen Autonomen Gebieten des Nordkaukasus»).
A. Geographische Grundlagen. I. Grenzlinien, Ausdehnung und Bevölkerungszahl des Tschetschenengebietes
Im folgenden sei zunächst kurz der Verlauf der Grenzen des Autonomen Gebietes der Tschetschenen angegeben.
Die Süd- und Südostgrenze verläuft längs der Wasserscheide zwischen dem Flußgebiet des Terek und des Ssulak, bzw. der Ssunscha und des Andischen Koissu. Sie zieht also vom Tebulos-mta die Pirikitelische Kette, bzw. den Basch-lam3) entlang bis zum Diklos-mta und folgt dann in nördlicher Richtung der Andischen Kette bis in die Gegend des Sees Esen-am, östlich an diesem vorbeiziehend. Hier greift die Grenze südostwärts ein wenig über die Wasserscheide hinüber. Vom Kerket-Paß aus verläuft sie wieder ostwärts auf der andischen Wasserscheide, die sie erst bei den Quellen des Jarykssu endgültig verläßt. Sich nach Norden wendend zieht sie etwa 20 km auf der Wasserscheide zwischen dem Aktasch im Osten und dem Jarykssu im Westen entlang, überschreitet dann in nordwestlicher Richtung den letzten sowie die Wasserläufe des Jamanssu und nördlich der Bahn Grosny-Petrowsk auch des Akssai und erreicht den Terek bei der Stanize Schelkosawodskaja ungefähr an der Stelle, an der er seinen Lauf nach Norden zu wenden beginnt. Die Nordgrenze wird nun überall durch den Terek gebildet. Etwa 20 km östlich von Mosdok verläßt sie den Terek und überschreitet in südlicher Richtung die Höhen des Terek-Ssunscha Gebirges. In der Ssunscha-Ebene bildet sie eine nach Westen offene Schleife und zieht dann, wieder in das Gebirge eindringend, auf der Wasserscheide zwischen den beiden Nebenflüssen der Ssunscha Assa und Fortanga nach Süben zum Gebirgsknoten des Muiti-ker. Von hier steigt sie in südöstlicher Richtung ins Tal des oberen Argun hinab und erreicht, sich südwärts wendend, wieder den Tebulos-mta.
Da die Tschetschenen in geschlossener Masse beisammen wohnen, so finden sich innerhalb der gezeigten, die in tschetschenischen Dörfern wohnen. Eine Ausnahme macht nur das ganz überwiegend russische Grosny mit seiner Erdölindustrie, das bisher ein Verwaltungsgebiet für sich bildete, neuerdings jedoch zum Autonomen Gebiete der Tschetschenen geschlagen worden ist. Umgekehrt gibt es außerhalb dieses autonomen Gebietes keine Tschetschenen, abgesehen von den Bewohnen einiger weniger Dörfer, die der Sowjetrepublik Daghestan zugeteilt worden sind.
Der Gesamtflächenraum des Gebietes mag nach roher Schätzung etwa 10 000 qkm betragen, würde also nur etwa ¼ der Fläche Ostpreußens ausmachen. An Einwohnern zahlte man im Jahre 1926, 311 000 ohne die 95 000 Einwohner des Bezirkes von Grosny.
Wie ein Blick auf die Karte zeigt, besteht das Tschetschenengebiet aus einem gebirgigen und einem ebenen Teil, die ungefähr gleich groß sind.
II. Lage des Tschetschenengebietes im Gebirgsbau des Kaukasus
Der Gebirgszug des Kaukasus läßt sich zwanglos in drei große Hauptteile zerlegen, eine Einteilung, die auch von den meisten Geographen bevorzugt wird, drängt sie sich doch sozusagen von selbst auf. Die lange Kette gewaltiger Schneegipfel und Firnfelder im zentralen Teil wird zunächst als Einheit empfunden. Der Grenzpunkt gegen die beiden äußeren Drittel kann verschieden gewählt werden. Der Geologe wird als Grenze nach Osten hin die Terekschlucht annehmen, da dort die kristallinen Gesteine unter die alten dunklen Schiefer des Ostkaukasus untertauchen; orographisch wird man als östlichen Grenzpunkt des zentralen Teils besser den Gebirgsknoten des großen Borbalo betrachten. Etwa 50 km westlich des Elbrus beginnt das westliche Drittel des Gebirges, das, rasch niedriger werdend, schließlich in der Halbinsel Taman sein ende findet.
Viel klarer als das westliche Drittel erscheint das östliche als eigenartiger, selbständiger Gebirgsteil abgesetzt, der Daghestan. Dies mächtige schildartige Dreieck scheint eigentlich nur eins mit dem übrigen Gebirge gemeinsam zu haben: die gleichsinnige, geradlinig fortgesetzte Erstreckung des wasserscheidenden Kammes von WNW nach OSO. Der ganze Südhang des Kaukasus fehlt hier; er ist abgesunken. An seiner Stelle breitet sich dafür die sonnige Ebene Kachetiens. Scharf, wie abgeschnitten, liegen hier Hochgebirge und flache Niederung unvermittelt nebeneinander. Man vergleiche damit die breite Entwicklung des Südhanges im zentralen und westlichen Kaukasus. Aber auch der stehengebliebene Nordhang des Daghestans ist in seiner Gliederung und in seinem Aufbau grundverschieden von dem des zentralen Kaukasus.
Seit langem unterscheidet man am Nordhang des Kaukasus mehrere parallele Ketten, die bald mehr, bald weniger klar zu erkennen sind. Allen Teilen des Gebirges gemeinsam ist der Hauptkamm. Diesen Namen führt er nicht deswegen, weil sich in ihm das Gebirge zu seiner größten Höhe erhebt, sondern weil er die Wasserscheide überall bildet; nirgends wird er von einem Flusse durchbrochen. Die höchsten Erhebeungen finden sich vielmehr in dem ihm nördlich vorgelagerten sogenannten Seitenkamme, wie Elbrus, Koschtan-tau, Dych-tau und Kasbek. Durch viele Quertäler erscheint er in einzelne Massive aufgelöst. Mehrfach ist er durch Querjoche mit dem Hauptkamme verbunden, nach Südosten glaubt man im hohen Basch-lam und der Bogosgruppe im Daghestan zu erkennen.
Weiter unterscheidet man den Felsigen Kamm (skalistyi chrebjet der Russen), darauf folgend den Almenkamm (pastbischtschnyi chr.) und schließlich den oder die Waldigen Kämme (ljessistyi chr.). Was jedoch den Felsigen Kamm anbelangt, so muß bemerkt werden, daß dieser Name im zentralen Kaukasus gepräht wurde, wo diese Kette größere Höhen erreicht als östlich der georgischen Heerstraße; im Tschetschenengebiete zeigt er nur noch stellenweise felsigen Charakter; der Felsige Kamm ist hier größtenteils genau so mit Almen bedeckt wie der nördlich von ihm sich hinziehende sogenannte Almenkamm.
Diese langen, durch viele Quertäler in einzelne Teile aufgelösten parallelen Kettenzüge sind charakteristisch für den zentralen Kaukasus. Die äußeren Ketten werden zwar durch den Einbruchskessel von Wladikawkas teilweise unterbrochen; doch ist östlich der Georgischen Heerstraße die ganze Reihenfolge der Kämme, vom Hauptkamm bis zu den Waldigen Kämmen, wieder klar zu erkennen. Das gilt noch für die ganze westliche Tschetschnja4), doch nur bis zum Argun. Östlich dieses Flusses tritt mit Macht eine andere Erhebungsrichtung in Erscheinung, die von SW nach NO zieht und die bisher ausschlaggebende Richtung WNW-OSO weitgehend verdrängt. Diese Erhebungsrichtung SW-NO ist bestimmend für die Gestaltung des Daghestans. Dadurch kommt ein fremdes Element in das System des Kaukasus, das seinen bis dahin so einheitlichen Charakter ganz verwischt. Gleich einer ungefügen schweren Masse, gleich einem Fremdkörper scheint der Daghestan in dem sonst so wohlgeordneten Kettengefüge des Kaukasus zu hängen. Abgesehen von der anderen Orientierung seiner Gebirgszüge ist es vor allem die seltsame Abgeschlossenheit, die den Daghestan so aus dem Rahmen des übrigen Kaukasus herausfallen läßt. Ein mächtiger Kalkgebirgswall umschließt ihn im NW, N und O und zwingt die Wasser der vier Koissuflüsse, sich in einem tiefen Caňon von seltener Großartigkeit sich durch diese Mauer einen Ausweg zum Kaspischen Meere zu bahnen.
Eigenartiger Faltenbau und tiefgreifende Erosion haben besonders im tiefer gelegenen nordwestlichen Teile dieser riesigen natürlichen Festung ein chaotisches Durcheinander von scharfen Kämmen, breiten, rings isolierten blockartigen Plateaus und tiefen Schluchten geschaffen, in dem es selbst von erhöhtem Standpunkt aus schwierig ist, sich zu orientieren. Erst bei genauerem Studium erkennt man, daß auch dieses vermeintliche Chaos gesetzmäßig gestaltet ist.
Es ist hier nur die Rede vom inneren Daghestan mit den vier Koissu-Flüssen; außer Betracht bleibt das ganze Gebirgsland zwischen diesem Koissu-Daghestan und dem Kaspischen Meere, also das Schach-dagh- und Dibrarsystem, da es für das hier näher zu behandelnde Gebiet keine Bedeutung besitzt.
Der Gebirgszung, bei dem diese bedeutungsvolle SW-NO Richtung am auffälligsten in Erscheinung tritt, ist gleichzeitig ein Teil jenes schon erwähnten Grenzwalls, der den Daghestan rings gegen die Außenwelt abschießt. Auf ihm verläuft die Wasserscheide zwischen dem flußgebiet des Sulak und dem des Terek; auf ihm zieht auch die politische Grenze entlang, wie schon eingangs erwähnt wurde. Sein Außenhang liegt ganz im Bereich der Tschetschnja; er ist der hervorstechendste Zug in der Orographie ihres östlichen Teils.
Die Folgerungen daraus ergeben sich nunmehr von selbst. In der Tschetschnja treffen die beiden großen Einheiten, des kaukasischen Gebirgsbaues aufeinander, das Kettengefüge des zentralen Kaukasus und der quer dazu liegende daghestanische Block. Der westliche Teil ist im zentralkaukasischen, der östliche im daghestanischen Sinne beeinflußt. Man kann somit die Tschetschnja als Übergangsgebiet zwischen dem Nordhang des zentralen und des östlichen Kaukasus bezeichnen.
Ebenso wie das Gebirge läßt sich auch Ziskaukasien oder, wie die Russen sagen, der Nordkaukasus in drei Hauptteile zerlegen. Es sind dies das Kubangebiet im W, in der Mitte die Stawropoler Höhen und im O die Niederung des Terek und der Kuma.
Das östliche Drittel Ziskaukasiens, mit dem wir es hier allein zu tun haben, zerfällt in zwei klar von einander geschiedene Teile. Der nördliche Teil, die weite, zwischen Terek und Kuma sich breitende Nogaier-Steppe, kann hier, wo es sich im wesentlichen nur um Feststellung der orographischen Beziehungen handelt, außer Betracht bleiben, da solche zum Tschetschenengebiet nicht vorhanden sind. Auch mit dem übrigen Gebirge steht sie nicht in Zusammenhang; kein Bergwasser durchrauscht sie; Kuma und Terek bilden nur die Grenzen der öden, teilweise wüstenhaften Steppen.
Anders das sich südlich anschließende Gebiet, die dem Gebirgsfuß unmittelbar vorgelagerte Niederung. Ich nenne sie die obere Terekniederung, wobei ich jedoch auch die Niederung seines sehr selbständigen größten Nebenflusses, der Ssunscha, mit einbegreife, der den Terek erst zu Beginn seines Unterlaufes erreicht. Diese Niederung wird von zahllosen Bergwassern durchströmt; sie ist geradezu ihr Werk, insofern als sie aus z. T. mehrere hundert Meter mächtigen Schottermassen besteht, unter denen die in die Tiefe gehenden kaukasischen Falten begraben liegen. Diese Falten tauchen jedoch in einiger Entfernung vom Gebirgsfuß plötzlich wieder empor und zwar in zwei langgezogenen parallelen Bodenwällen von etwa 200 – 300 m relativer Höhe. Man bezeichnet sie als das Terek-Ssunscha-Gebirge. Doch steht es auch oberflächlich mit dem Hauptgebirge noch in Verbindung. Der nördliche Zug hängt im O mit ihm etwa da zusammen, wo der Daghestan am weitesten nach N vorstößt; im W wird er durch die Fluren der Kabarda von ihm getrennt. Der südliche wiederum hängt mit seinem Ostflügel sozusagen in der Luft; unvermittelt bricht er in der Ssunscha-Ebene ab; auf seinen letzten Hügeln ragen die Bohrtürme der neuen Grosnyer Erdölfelder in die Höhe. Im W dagegen findet er den Anschluß zur Hauptkette, kurz nachdem er vom Terek durchbrochen wird, ähnlich wie im O sich die Ssunscha durch den nördlichen ihren Weg bahnt. Die Falten des Terek-Gebirges sind nach neueren Untersuchungen nach N überkippt; auf Störungen deutet u. a. die starke Thermentätigkeit an seinem Nordrande, z. B. nördlich von Grosny.
Zwischen diesen beiden Hügelkämmen und dem Hauptgebirge breitet sich die obere Terek-Niederung. In einem weiten Bogen dringt sie in das Gebirge ein, am tiefsten bei Wladikawkas, und verleiht damit dem zentralen Kaukasus die eigentümlich enggeschnürte Gestalt, so daß die Breite des Gebirges hier auf 120 km zusammenschrumpft, während sie im Elbrusgebiet 180 km und im Daghestan nicht viel weniger beträgt. Die Ziffer von 180 km hat jedoch auch für den zentralen Kaukasus ihre Bedeutung; sie würde nämlich der Entfernung vom Südfuß des Gebirges bis zum Nordrand der beiden Hügelkämme entsprechen, was gewiß mehr als bloßer Zufall ist.
Die zum Bogen der oberen Terek-Niederung gehörende Sehne wird also ungefähr durch den nördlichen der beiden Hügelkämme gebildet oder, wenn man will, durch den Mittellauf des Terek, der hier in streng kaukasischer Richtung am Nordhang des nördlichen Hügelkammes entlangfließt, bis er, vielleicht unter dem Einfluß der daghestanischen Erhebungsrichtung SW-NO, nach NO abbiegt.
Man darf mithin die obere Terek-Niederung bei einer Betrachtung des kaukasischen Gebirgsbaues nicht außer Acht lassen. Man kann sie sowohl als innerhalb, wie als außerhalb des Gebirges liegend ansehen. Für ersteres spricht in interessanter Weise eine anthropogeographische Tatsache, insofern nämlich, als sie noch von den eigentlichen Kaukasusvölkern besiedelt wird, nämlich den Kabardinern, Inguschen und Tschetschenen, während jenseits der beiden Hügelzüge das turko-tatarische Steppenvolk der Nogaier und die zur selben Völkergruppe zählenden Kumüken sich ausbreiten. In sich besteht die obere Terek-Niederung aus drei voneinander getrennten Gebieten, nämlich der Kabarda und dem Kessel von Wladikawkas, der von jener durch den südlichen der beiden Hügelkämme getrennt wird. Durch einen Vorsprung der Schwarzen Berge wird der Wladikawkaser Kessel vom dritten Teil geschieden, der Ssunscha-Ebene, die für sich ebenfalls wieder bogenförmig ins Gebirge eindringt. Die Ssunscha-Ebene nun bildet das Gebiet, dessen Stellung es in diesem Kapitel zu kennzeichnen galt, nämlich den ebenen Teil des Tschetschenengebietes.
Diese kurze Skizzierung der Lage des Tschetschenengebietes im Kaukasus mag für den Rahmen der vorliegenden Arbeit genügen.
III. Landeskundlicher Überblick über das Tschetschenengebiet.
a) Oberflächengestalt. Die Aufzählung der verschiedenen Ketten, wie sie für den Nordhang, des zentralen Kaukasus üblich ist und auch im vorigen Kapitel gebracht wurde, könnte die Vorstellung erwecken, daß wir hier parallel dem Hauptkamme eine Reihe von Ketten antreffen, von denen eine immer niedriger wird als die andere, bis sie schließlich in der Ebene verklingen. Im Osten ist dies ganz bestimmt nicht der Fall, vor allem nicht im Daghestan, aber auch nicht im Tschetschenengebiet. So sind hier z. B. die beiden Kämme, die zwischen dem Hochgebirge und den niedrigen Schwarzen Bergen liegen, einander an Höhe gleich, ja stellenweise überragt sogar der nördliche den südlichen. Am ehesten geeignet, einen raschen Überblick über die Orographie des Gebietes zu verschaffen, ist eine Einteilung nach den verschiedenen Höhenstufen, die sehr scharf ausgeprägt sind und das Auge des Bergwanderers zu dieser Einteilung geradezu zwingen. Es sind ihrer drei zu unterscheiden. I. Die Stufe der tertiären Vorberge oder «Schwarzen Berge» mit etwa 800—1000 m Höhe. Darauf nach S folgend 2. Die Stufe des Kalkgebirges der Kreide und des oberen Jura von 2000 m ab mit Gipfelhöhen bis zu 3000 m. Zu dieser Höhenstufe gehört noch ein Teil des Schiefer- und Sandsteingebirges des mittleren und unteren Jura. 3. Das Hochgebirge der alten dunklen Schiefer von etwa 3000 m ab bis 4500 m.
Betrachten wir zunächst die tertiären Vorberge. Aus der Ssunscha-Ebene, die am Gebirgsfuß etwa 300 m noch liegt, steigen ihre sanftwelligen Höhen empor, nach den dichten Buchenwäldern, mit denen sie einst bedeckt waren, «Schwarze Berge» genannt. Die O-W streichenden Falten sind durch die zur Ssunscha eilenden Flüsse und Bäche in einzelne Kuppen und S-N ziehende Rücken aufgelöst, von denen einige 1200 m erreichen. Bemerkenswert ist in diesem Gebiet die gewaltige eiszeitliche Schotterverhüllung, die, von den Flußterrassen abgesehen, ausgedehnte tischglatte Aufschüttungsebenen zwischen den Höhenzügen gebildet hat, die bis zu 30 qkm Flächenraum einnehmen können. Sie bestehen ausschließlich aus Kalkgeröll und werden durch die Flußterrassen wie durch schmale Bänder mit den Schottern der Ssunscha-Ebene verbunden. Die Breite der Schwarzen Berge verringert sich um so mehr, je tiefer die Ssunscha-Ebene in das Gebirge eindringt. So beträgt sie am Argunlauf und westlich von ihm nur etwa 15 km, während sie im O des Gebietes auf das doppelte anwächst.
Völlig unvermittelt erhebt sich aus den Schwarzen Bergen die zweite Höhenstufe des Kalkgebirges, bei dem selbst die Paßhöhen kaum unter 2000 m herabreichen (von den Durchbruchstälern natürlich abgesehen). Viel undeutlicher ist die südliche Begrenzung dieser Höhenstufe; der Anstieg zum Hochgebirge erfolgt allmählich. Im allgemein beginnt das Hochgebirge erst südlich der beiden Argun-Oberläufe. Der Tschanti-Argun bildet die Grenze zwischen beiden Höhenstufen jedoch nur bis zur Einmündung des Chotscharoi-Baches (von rechts), der Scharo-Argun bis zu der der Kiri-Baches (von rechts). Unterhalb dieser Punkte greift die Höhenstufe des Kalkgebirges bei beiden Flußläufen auf das rechte Ufer über.
Die Breite dieser Stufe beträgt im Tschetschenengebiet 25—30 km. Viel breiter wird sie im Daghestan.
Senkrecht zur Gebirgsachse gemessen, hält sich nämlich in der Linie von Chunsach das Gebirge in einer Tiefe von etwa 60 km ungefähr in der Höhe von 2000 m und darüber (Chunsach selbst nur 1800 m). Diese Feststellung wird hier besonders erleichtert durch die ausgedehnten, für den Daghestan charakteristischen Plateaulandschaften, z. B. der von Chunsach. Hand in Hand mit dieser Verbreiterung geht auch eine solche des Bereichs der verschiedenen geologischen Formationen. Der Nordhang des Daghestan scheint sich eben zum Ausgleich für den fehlenden Südhang um so breiter entfaltet zu haben. Er stößt ja auch, auf die Gebirgsachse bezogen, viel weiter nach N vor als im übrigen Kaukasus, wobei der Nordrand seines Kalkgebirges, nämlich die Andische Kette, wesentlich höher aufragt als dessen Mitte, ebenso, wie er auch die benachbarten tschetschenischen Kalkberge überragt. Man kann das seitlich schon von der Bahn beobachten, wenn man sich von W kommend Grosny nähert. Während das niedrigere tschetschenische Kalkgebirge die Waldgrenze stellenweise nur unwesentlich übersteigt, winken von O, besonders im Abendschein, die jähen Steilabstürze des 3040 m hohen Buzrach herüber, die mit ihren hellen Farben einen wirkungsvollen Kontrast zum Grün der Wälder am Fuße bieten. Der Abfall der Andischen Kette macht hier geradezu den Eindruck einer Landstufe, so besonders am Zobolgo (2910 m) und von ihm aus noch etwa 15 km weiter nach O. Den Fuß dieser Landstufe, deren Schichten nach meinen Beobachtungen nach SO einfallen, benagen die weit verzweigten Quellflüsse des Akssai.
Anders die Nordseite der Andischen Kette weiter östlich im Salatau-Gebiet, das schon zur Republik Daghestan gehört. Die Schichten fallen hier leicht nach N ein, wie ich es beim Durchwandern des wahrhaft grandiosen Ssulak-Caňons gut beobachten konnte; daher erfolgt dort der Anstieg von N her allmählich. Ganz flach ist der Außenhang der Andischen Kette besonders jenseits des Ssulak in Richtung Temir-Chan-Schura.
Die für den Daghestan bezeichnenden Plateaubildungen fehlen im Tschetschenengebiet, wenn sich auch auf den Höhen des Kalkgebirges stellenweise ziemlich ausgedehnte ebene Flächen vorfinden. Das Gesichtsfeld beherrschen vielmehr zwei ausgesprochene Ketten, besonders im W. Die nördliche, deren Nordrand durchweg leicht verkarstet ist, wird in ihrer Westhälfte durch Quertäler in mehrere Massive aufgelöst. Freilich sind diese Täler infolge ihrer caňonartigen Ausbildung eher verkehrshindernd als —fördernd, z. B. das der Gechi, wenn nicht wie im Tschanti-Argun-Tal, eine künstliche Straße angelegt ist. Östlich des Scharo-Argun bildet sie einen zusammenhängenden Rücken, der in seiner weiteren Fortsetzung in der Andischen Kette bis zum Kaspischen Meere hin nur noch einmal im Ssulak-Caňon durchbrochen wird.