Tallhamer seufzte und sagte: »Earl, darüber haben wir doch auch vor kurzem gesprochen, oder nicht? Wir kennen doch beide Harvey Cardin schon unser ganzes Leben lang. Er durchquert die ganze Gegend, weil er ein herumreisender Klempner ist. Er reißt ab und zu die Klappe auf, aber er ist nicht wie sein Bruder. Er tut keiner Fliege etwas zuleide. Ganz zu schweigen davon, dass er irgendjemand auf so scheußliche Weise umbringen könnte.«
Jake schweifte gedanklich kurz ab, um zu verarbeiten, was er gehört hatte.
Er wünschte sich, dass Tallhamer ihm bereits ganz zu Anfang von Harvey Cardin erzählt hatte.
Tja, Polizisten in der Kleinstadt, dachte er. Einige von ihnen waren sich so sicher, dass sie über jeden im Distrikt alles wussten, dass sie leicht übersahen, was wichtig war.
Jake sagte zu Sheriff Tallhamer: »Ich möchte mit Harvey Cardin sprechen.«
Der Sheriff hob die Schultern, als ob er das als Zeitvergeudung ansehen würde.
Er sagte: »Also, wenn Sie das wünschen. Harvey lebt nur ein paar Blocks weiter von hier. Ich nehme sie dorthin mit.«
Als Jake sich mit dem Sheriff in Bewegung setzte, sah er, dass Gibson ihnen folgte. Das Letzte, was Jake gerade brauchte, war ein trauernder und erzürnter Witwer, der sich in das Interview mit einem möglichen Verdächtigen einschaltete.
Er sagte so sachte er konnte: «Dr. Gibson, der Sheriff und ich müssen das alleine machen.«
Als Gibson den Mund öffnete, um zu widersprechen, fügte Jake hinzu …
»Ich möchte Sie in Kürze interviewen. Wo kann ich Sie finden?«
Gibson blieb für einen Augenblick still.
»Ich bin in meiner Arztpraxis,» sagte Gibson. »Der Sheriff kann Ihnen sagen, wo sie ist.«
Gibson drehte sich um und stürmte ärgerlich von dannen.
Jake und Tallhamer liefen eine kurze Strecke zu einem kleinen, weißen Haus, wo Harvey Cardin lebte. Es war ein baufälliges Häuschen mit einem verwilderten Rasen.
Tallhamer klopfte an der Haustür. Als niemand antwortete, klopfte er abermals, aber immer noch keine Antwort.
Tallhamer sagte: »Er ist wahrscheinlich auf Reisen, vielleicht arbeitet er in irgendeinem anderen Dorf. Wir erwischen ihn das nächste Mal.«
Jake wollte auf dieses „nächste Mal» nicht warten. Er versuchte, durch eine der Glasscheiben in der Haustür zu spähen. Er konnte einige kahle, einfache Möbelstücke erkennen. Ansonsten gab es da im Inneren wenig – die Einrichtung vermittelte ganz sicher keinen persönlichen Touch. Das Haus sah so aus, als ob es möbliert vermietet worden wäre, es gab jedoch keine Anzeichen dafür, dass jemand dort wohnte.
Jake nahm an, dass Harvey Cardin gerade nicht im Dorf war, in Ordnung …
Aber würde er je zurückkommen?
Seine Überlegungen wurden jäh von einer Männerstimme von nebenan unterbrochen …
»Sheriff, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Jack drehte sich um und sah einen Mann im Garten stehen.
Tallhamer antwortete ihm: »Dieser Typ vom FBI und ich, wir suchen Harvey Cardin.«
Der Mann schüttelte den Kopf und sagte: »Da haben Sie kein Glück, glaube ich. Ich habe gesehen, wie er letzte Woche seinen Laster beladen hat – gerade nachdem sein Bruder wegen dem Mord an Alice Gibson verhaftet worden war. Es sah so aus, als ob er alle seine Habseligkeiten mitgenommen hat. Nicht dass es da so viel zum Mitnehmen gab. Ich habe ihn gefragt, wo er hinwollte und er sagte: „Überall hin, nur nicht nach Hyland. Mir reicht‘s mit diesem gottverdammten Ort.»
Jake durchfuhr ein Ruck, der ihn aufrüttelte.
Dieser mögliche Verdächtige war bereits verschwunden.
»Kommen Sie,« sagte Jake zu Tallhamer. »Lassen Sie uns mit ein paar Leuten sprechen.«
* * *Jake und Sheriff Tallhamer verbrachten den Rest des Tages damit, fruchtlose Interviews durchzuführen. Sie fingen in der Nachbarschaft an, wo Harvey Cardin gelebt hatte. Alles, was Harveys andere Nachbaren wussten, war, dass sie ihn nicht mehr gesehen hatten, seit er vor zwei Wochen weggefahren war.
Bei Alices Freunden und Bekanntschaften hatten sie auch nicht mehr Glück. Alices Kolleginnen im Schönheitssalon waren sich einig, dass Phil Cardin am Tag vor Alice Ermordung ihr hier eine furchtbare, erschreckende Szene gemacht hatte.
Als Jake und Tallhamer einen Halt bei Mick’s Diner einlegten, sagte der Besitzer, dass Phil Cardin seinen Job als Koch aus einer Vielzahl von Gründen verloren hatte – er war nicht zur Arbeit erschienen oder manchmal betrunken und war in Faustkämpfe mit anderen Angestellten verwickelt gewesen.
Keiner von ihnen wusste irgendetwas darüber, wo sich Phils Bruder Harvey vermutlich aufhalten konnte.
Schlussendlich statteten Jake und der Sheriff Earl Gibson in seiner Arztpraxis einen Besuch ab. Der Doktor schäumte noch vor Wut über Phil Cardins Entlassung. Er regte sich zusätzlich auf, als er hörte, dass Harvey verschwunden war. Jake gelang es, ihn soweit zu beruhigen, um ihm einige Fragen zu stellen. Aber Gibson war nicht dazu in der Lage, etwas Licht ins Dunkle zu bringen, wer denn außerdem noch geplant haben könnte, seine Frau zu töten.
Ihre Befragungen machten das Rätsel nur noch größer – zumindest was Jake anging. Er suchte nach einem Anhaltspunkt, dass die zwei Cardin-Brüder die zwei Morde abwechselnd verübt haben können. Oder dass sogar der als vermisst geltende Harvey Cardin beide Morde begangen hatte …
Aber wenn nicht?
Jake hatte gerade noch keine alternativen Szenarios parat. Er hatte kein Bauchgefühl gehabt, dass irgendjemand in Hyland auch nur einen der Morde verübt hatte. Alle, mit denen sie an diesem Tag sprachen, schienen Alice gern gemocht zu haben und niemand in Hyland hatte anscheinend Hope Nelson gekannt, außer dem Namen nach. Alice Gibson hatte sie offenbar auch nicht gekannt. Die zwei Frauen kamen aus derselben Region dieses Bundesstaats, aber hatten ihr Leben in verschiedenen Kleinstädten und unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen verbracht.
Als sie nach einem fruchtlosen Tag wieder bei der Polizeiwache ankamen, sagte Jake dem Wachtmeister in Tallhamers Büro, dass er Phil Cardin gut im Auge haben solle, besonders um sicherzustellen, dass er nicht versuchte, die Stadt zu verlassen.
»Einmal halte ich noch an,« sagte er zu Tallhamer, »und dann gebe ich für heute auf.
Der Sheriff fuhr Jake hinaus zum ersten Tatort.
Der Abend dämmerte, bis sie dort ankamen. Der Zaunpfosten, an dem die baumelnde Leiche von Alice Gibson gefunden worden war, war mit einem Kreuz markiert, das der Wachtmeister von Sheriff Tallhamer auf den Pfosten gemalt hatte. Der Zaun grenzte an eine Weide mit sanften Hügeln an. Genau wie der Ort, wo man Hope Nelsons Körper gefunden hatte.
Jake unterdrückte ein Seufzen, als er sich dieses baumelnde, scheußliche Bündel vorstellte …
Unter anderen Umständen wäre dies ein netter Ort für einen Besuch.
Er nahm an, dass es einen auffallend kranken Menschen brauchte, um so ein grässliches Objekt in einer so schönen Umgebung zurückzulassen.
War Phil Cardin ein solcher Mensch?
Könnte sein Bruder so jemand sein?
Jake ging bei dem Zaunpfosten in die Knie und atmete tief und langsam durch. Er hoffte, ein Gefühl zu erhaschen, was dort wohl passiert war. Jake war bekannt dafür, dass seine Intuition an Tatorten auf die Sprünge kam und er oft ein verblüffendes Gefühl für die Denkweise eines Kriminellen entwickelte. Jake kannte niemanden anderen, der das beherrschte – außer vielleicht der jungen Riley Sweeney. Aber ihr Instinkt war noch sehr schwankend und ungebändigt.
An diesem Morgen am anderen Schauplatz des Verbrechens hatte Jake nicht einmal eine derartige Verbindung herstellen können – nicht mit dem ganzen Tumult, der da um ihn herum getobt hatte und dazu noch die Ankunft des Helikopters dieses TV-Senders.
Klappt es jetzt? fragte er sich.
Jake schloss die Augen und konzentrierte sich. Er versuchte, irgendeine Art von Bauchgefühl zu bekommen.
Es kam nichts.
Als er seine Augen öffnete, sah er drei schwarz-weiße Black Angus Kühe, die herbeigewandert waren und ihn neugierig ansahen. Er fragte sich, ob sie gesehen hatten, was in jener Nacht passiert war? Falls ja, hatte das blanke Entsetzen, dessen sie Zeugen geworden waren, irgendeine Auswirkung auf sie gehabt?
»Wenn ihr nur sprechen könntet,« murmelte Jake den Kühen zu.
Er erhob sich und fühlte sich vollkommen entmutigt.
Es war Zeit, wieder nach Dighton hinüberzufahren und beim Spurensicherungsteam vorbeizuschauen. Er würde sich die Notizen des Tages noch einmal ansehen und dann im einzigen Motel der Stadt zum Schlafen hinlegen. Dann am nächsten Tag früh aufstehen. Jake hatte noch ein paar unerledigte Sachen in Dighton zu Ende zu bringen, darunter ein ernstes Gespräch mit dem Ehemann von Hope Nelson, dem Bürgermeister von Dighton. Mason Nelson war noch zu sehr unter Schock gestanden, als dass Jake mit ihm am Tatort hätte reden können.
Was die Bestimmung von Harvey Cardins möglichem Aufenthaltsort anging, wusste Jake, dass das weder ein Job für die örtlichen Polizisten, noch für das Spurensicherungsteam war. Er würde technische Unterstützung aus Quantico anfordern müssen.
Er sagte zu Sheriff Tallhamer: »Bringen Sie mich zu meinem Wagen, ich muss los.«
Aber ehe er in das Auto des Sheriffs einsteigen konnte, sah er, dass sich ein Lieferwagen mit dem Logo eines TV-Senders näherte. Der Lieferwagen hielt in der Nähe und eine Crew mit Beleuchtung, Kamera und einem Mikrofon quoll heraus.
Jake stöhnte verzweifelt auf.
Dieses Mal konnte er den Medien nicht entkommen.
Kapitel neun
Riley war enttäuscht, als sie nach einem Tag voller Führungen, Kursen und ihrem ersten Abendessen in der Cafeteria der Akademie den Computerraum aufgesucht hatte. Immer noch keine E-Mail von Ryan. Im Moment waren ihr die anderen Mails im Posteingangsfach egal.
Letzte Nacht hatte sie Ryan eine E-Mail geschickt, um ihn zu informieren, dass sie in Quantico angekommen und eingezogen war. Sie hatte keine Antwort von ihm bekommen. Sie fragte sich – sollte sie ihm jetzt noch eine Nachricht schicken und von ihrem Tag hier erzählen? Oder sollte sie ihn anrufen?
Riley seufzte tief, als sie versuchte, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken …
Er ist immer noch sauer.
Sie fragte sich, ob sie vielleicht einen Fehler begangen hatte, als sie den erstmöglichen Zug nach Quantico genommen hatte. Vielleicht hätte sie erst zurück zur gemeinsamen Wohnung fahren, mit Ryan reden und herausfinden sollen, wie die Dinge zwischen ihnen standen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie das jemals hinkriegen sollte, wenn sie auf diese Weise getrennt waren.
Aber sie kehrte stets zu demselben Gedanken zurück …
Wenn ich gestern heimgefahren wäre, würde ich vermutlich immer noch dort sein.
Sie beschloss, dass das Beste war, im Moment gar nichts weiter zu tun. Vielleicht schickte sie Ryan morgen früh eine weitere E-Mail.
Eine andere E-Mail im Posteingangsfach war Spam und wurde gleich von Riley gelöscht. Aber als die die letzte weitere öffnete, war sie verstört und beunruhigt.
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