Книга Kraniche über Otterndorf - читать онлайн бесплатно, автор Hedi Hummel. Cтраница 2
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Kraniche über Otterndorf
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Kraniche über Otterndorf

„Was hat er denn gearbeitet?“, meldete sich Dressler wieder zu Wort.

„Früher war er Beamter, aber dann erbte er viel Land bei Kehdingbruch, und das ließ er sich … na ja … das ließ er sich vergolden.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Ich hab keine Ahnung, was einem Grundeigentümer so eine Windkraftanlage bringt mit einem oder wer weiß wie vielen Windrädern. Man munkelte, bis zu 100.000 Euro pro Anlage und Jahr. Wenn man Verhandlungsgeschick hat und die Stromertragsbeteiligung über die 10 Prozent nach oben treibt, dann ist man bald ein gemachter Mann.“

„Und“, wollte Jochen Dressler wissen, „war er ein gemachter Mann?“

„Allerdings! Obwohl da unten ja schon eine große Windkraftanlage existiert, ließ er auf seinem Acker- und Weideland noch mal neun Windräder errichten.“

Dressler überschlug die Summe der Einnahmen und nickte anerkennend: „Nicht schlecht, aber dann steht ja dort ein Windrad am anderen?“

Der Kneipenwirt zuckte mit den Achseln: „Ich glaube, das war ihm egal. Aber irgendwie hat es ihm kein Glück gebracht. Denn in dieser Zeit ging seine Ehe in die Brüche.“

„Steht das vielleicht im Zusammenhang miteinander?“, schaltete sich Kommissar Frank ein.

„Da bin ich überfragt“, musste der Wirt zugeben.

„Okay, darüber reden wir dann mit seiner Ex-Frau. Und hier im Lokal – hat er sich da vielleicht mit jemandem angefreundet oder öfter mal unterhalten?“

„Das lässt sich doch gar nicht vermeiden. Wenn man den ganzen Abend an der Bar sitzt, mit Pieter hat er mal geredet und mit Claussen glaub ich auch, die waren aber beide heute nicht hier.“

Hartmut und Dressler befragten die vier Gäste, die noch im Lokal waren, aber das brachte rein gar nichts. Dressler wurde von einem Kollegen nach draußen geholt, und auch Kommissar Frank verließ die Gastwirtschaft. Er blieb für einen Augenblick alleine in der Marktstraße stehen, trat dann einige Schritte vom Tatort zurück und ließ alles noch einmal auf sich wirken.

Er stellte sich die Straße vor, wie sie wohl üblicherweise gegen Mitternacht aussah, und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen darauf. Dann öffnete er die Augen abrupt, um alle Veränderungen in sich aufzunehmen. Wie bei diesen Bilderrätseln in Zeitschriften ‚Original und Fälschung‘, wo es nur winzige Details gab, die im zweiten Bild anders waren, musterte er minutiös jeden Straßenabschnitt.

Natürlich war da jetzt mittlerweile mit Kreide die Stelle markiert, wo der Tote gelegen hatte. Das Lokal „Goldener Anker“ war nach wie vor erleuchtet, an den umliegenden Häusern fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Er sah hinüber zur Absperrung, forschte im Gesicht eines jeden Schaulustigen, die sich immer noch nicht hatten vertreiben lassen, nach einer Gefühlsregung, die sich von purer Sensationsgier unterschied, verfolgte den Einsatz seiner Kollegen von der Spurensicherung. Da fiel ihm ein kantig zusammengeknülltes Stück Papier auf dem Trottoir ins Auge. Wenn er den Tatort quasi wie ein Gemälde betrachtete, so kam ihm das Papierknäuel wie die Signatur des Malers am rechten unteren Bildrand vor. Während er hinüberging, streifte er sich seine Handschuhe über und wollte das Fundstück in eine Plastiktüte stecken. Da meinte er das Geräusch von Vogelschwingen in der Luft zu hören. Das konnte doch gar nicht sein, es musste sich um eine Sinnestäuschung handeln. Er hob den Blick und schaute hinüber zum Kranichhaus genau ins Auge des Wächters auf dem Dach, das ihn abschätzig, fast drohend musterte. Du hast alles gesehen, dachte Hartmut, da wurde ihm schwindlig, und er musste sich übergeben.

*

Der Schatten des Flügels zog Kreise über der Lichtung des kleinen Waldstücks, in dem Rob Zuflucht suchte. Überdimensional bewegte er sich am Firmament, und selbst wenn Rob seine Augen schloss, nahm er in gleichmäßigen Abständen dunkle Balken wahr. Sssst … ssst … ssst … ssst … ssst … dieses Geräusch drang tief in sein Bewusstsein und trat nur für kurze Zeit in den Hintergrund, wenn er völlig in seine Gedanken versunken war. Er lag im Gras und sah nach oben, und kein Vogel schwirrte da über ihn hin. Sondern die riesigen Arme des Windrads. Ssst … ssst … ssst … ssst … ssst … ssst ... hell – dunkel – hell – dunkel – Sonne – Rauschen – Surren.

Doch wie oft trugen ihn seine Gedanken mit sich fort, drehten sich in den Himmel hinein und breiteten sich dort aus, wurden zu einem Körper, zu echten Flügeln, zu staksigen Beinen, einem Schnabel und erhoben sich als Kraniche in die Luft … und folgten dort den Linien, den heiligen Linien, die über das ganze Land verteilt waren, es in gute und gefährliche Bezirke aufteilten. Die Linien, über die sein Vater ein Buch geschrieben hatte, das Rob wie seinen Augapfel hütete und aus dem er ihm und den anderen Kindern an guten Tagen vorgelesen hatte. Bruchstücke davon würde er stets in seinem Innern bewahren, wo er auch sein würde, was immer auch geschah … und es würde etwas geschehen, er spürte es in seinem Blut, in seinem Herzen, und er hatte Angst vor dieser Ahnung, Angst vor dem Kommenden, Angst vor sich selbst.

Ssst … ssst … ssst … von oben, ein Surren und Trompeten von vorn, da kamen sie … Flügel an Flügel … krarr … krruh … krarr … krruh … wie in Wellen wurden die Rufe zu ihm herübergetragen … ein Schwarm von Kranichen am Horizont … ein wundervoller Anblick … Rob blinzelte in die Sonne, beschattete seine Augen mit der einen Hand – es war ein gewaltiges Schauspiel … um Robs Mundwinkel trat ein milder, weicher Ausdruck. Vergessen waren alle Befürchtungen, denn wenn Kraniche in seiner Nähe waren, so fühlte er sich leicht und beschwingt und in Sicherheit. Er lag im Gras und lächelte.

Da hörte er ein dumpfes Geräusch und gleich darauf ein schrilles Krächzen. Er sah nach oben, musste mit der Hand die Sonne abschirmen, bevor er etwas erkennen konnte. War da nicht ein Vogel in der Luft, ganz oben in der Nähe des Windrades? Oder hatte er sich getäuscht? Da, was war das – er sah etwas Dunkles vom Himmel fallen. Vielleicht einer der Kraniche, die eben vorbeigezogen waren?

Rob sprang auf. Nie kam er der Windkraftanlage näher als bis zu dieser Waldlichtung. Nun überwand er seinen Widerwillen und stapfte durch das hohe Gras, zwängte sich durch einige Büsche hindurch, bis er vor dem mächtigen, tonnenschweren Stahlkörper des Windrades stand. Der untere Teil war in mattgrüner Tarnfarbe angelegt, die dann immer blasser wurde und schließlich ins Weiße überging. Auf einem Beton-Fundament verankert, mit einer kleinen Eisentreppe zur Eingangstür hinauf, umringt von einem Meer von Brennnesseln. Er schaute vom Fuße des Windrades zu den Rotorblättern hinauf: Wie ein ewig langer, immer spitzer werdender Schornstein bohrte sich der Turm in die Wolken. Rob stieg die paar Stufen der Treppe hinauf und blickte sich um. Überall Brennnesseln, dann Sträucher und Bäume, aber kein Tier, das Hilfe brauchte. Doch da bewegte sich etwas dicht neben einem Busch! Vorsichtig näherte sich Rob der Stelle. Da lag tatsächlich ein Kranich auf dem Boden!

Er war verletzt. Robs Herz krampfte sich zusammen. Es schien noch ein junges Tier zu sein und gab klägliche Laute von sich. Besänftigend sprach Rob auf den verängstigten Vogel ein und untersuchte ihn dabei behutsam. Am Kniegelenk stimmte etwas nicht. Er war sich nicht sicher, wie es zu der Verletzung gekommen war. Ob der Kranich die weißen Rotorblätter des Windrades als Wolkenschleier wahrgenommen oder ihre Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hatte? Der Vogel zuckte zusammen, als Rob den rechten Flügel berührte, gebrochen schien da aber nichts zu sein. Beim Kniegelenk war er sich nicht so sicher. Der Kranich wich vor ihm zurück, hielt aber dann einen Augenblick still, als spüre er, dass Rob es gut mit ihm meinte.

Immer diese verfluchten Windräder! Rob hasste diese Dinger, nicht nur, dass sie die Landschaft verschandelten, sie waren auch eine große Gefahr für Vögel.

Rob zog dem Kranich seine Jacke über den Kopf, worauf er sich sofort beruhigte, brachte ihn mit dem Motorrad zu seinem Hof und bereitete ihm einen Platz in seinem Gewächshaus. Hier untersuchte er ihn genauer, reinigte die Wunde und schiente mit einem Stöckchen sein Bein. Das war kein leichtes Unterfangen, denn der Vogel schlug ängstlich mit den Flügeln, war aber schon sehr entkräftet. Rob vermutete, dass er auch schon länger nichts zu fressen bekommen hatte, und er sah sich in seiner Küche um, ob er etwas hatte, was den ersten Hunger stillen könnte. Er weichte ein paar Haferflocken in Wasser ein. Heidelbeeren waren auch noch da. Mit einem Holzstäbchen versuchte er ihn zu füttern und hielt ihm dazwischen die Heidelbeeren hin. Rob stieß dabei leicht trillernde Laute aus, wie er es früher oft getan hatte, wenn er mit dem Vater oder auch alleine die Kraniche beobachtete. Dabei sah er dem jungen Tier in seine schönen, noch dunklen Augen, und der Vogel schaute zurück, als verstehe er alles, was Rob dachte und sagte. Und nach einer Weile erwiderte er zaghaft das Trillern. Und Rob strahlte übers ganze Gesicht, als der Kranich zu fressen begann.

*

Kommissar Frank erschien am nächsten Morgen zu der außerordentlichen sonntäglichen Zusammenkunft im Präsidium mit leichter Verspätung.

Alle Augen ruhten auf dem Chef, prüfend oder amüsiert.

„Na, geht’s wieder?“, Amelung klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

Heidi Lührens kam mit einem Tablett voller Tassen mit frisch gekochtem Kaffee ins Zimmer. „Hartmut“, rief sie erfreut, denn sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht, „was war denn los mit dir?“

„Hm“, man sah ihm an, dass ihm sein Schwächeanfall in der Nacht sehr unangenehm war, „ich weiß es auch nicht … wahrscheinlich der Alkohol, ich trinke sonst kaum was.“

„Na, wie dem auch sei“, sagte Heidi, „jetzt gibt’s erst mal Kaffee.“

„Ja, ja“, er versuchte die Erinnerung abzuschütteln, „lasst uns anfangen.“

Betretenes Schweigen. Irritiert schaute Hartmut in die Runde: „Was ist los?“

„Wir warten noch auf jemanden“, erklärte ihm Kollege Dressler, „wir haben es auch erst erfahren, es kommt noch jemand dazu. Sie sollte eigentlich erst am Montag hier sein, aber in Anbetracht der aktuellen Situation wurde sie wohl von unserem heutigen Treffen informiert“, erklärte Amelung.

Hartmut, der gerade einen Schluck Kaffee trinken wollte, setzte die Tasse wieder ab und stellte sie auf den Tisch: „Wie, es kommt noch jemand? Wer denn? Eine Frau? Und wieso wird sie über ein internes Treffen am Sonntag informiert, von wem denn?“

„Von mir“, sagte schuldbewusst Libuše, „es ist eine Bekannte von mir, die ich auf einem Lehrgang kennengelernt habe, und ich hatte ihr damals geraten, sich doch einmal bei uns zu bewerben. Sie ist Fallanalytikerin, besser gesagt eine Profilerin.“

„Wie bitte“, ereiferte sich Hartmut, „sind wir denn in einem Fernseh-Krimi? Seit wann brauchen wir einen Profiler?“

„Eine Profilerin“, die Betonung lag auf der letzten Silbe. Mit einem undefinierbaren Lächeln war Lisa Lehmann ins Zimmer getreten und betrachtete amüsiert Kommissar Frank, ging ein paar Schritte auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Ich glaube, wir wurden einander schon vorgestellt! Bleibt es beim Du?“

Hartmut sah sie mit offenem Mund an. Die mysteriöse Dame von der Party letzte Nacht, mit der er ganz unverschämt geflirtet hatte, weil er eigentlich angenommen hatte, sie nie wiederzusehen.

Libuše glaubte, die Situation etwas auflockern zu müssen: „Wahrscheinlich habt ihr Liz alle schon gestern bei mir kennengelernt oder sie zumindest einmal kurz gesehen.“

„Na, so jemanden kann man ja gar nicht übersehen“, murmelte Dressler, der eine Schwäche für schöne Frauen hatte.

Die Begrüßungsrunde begann, und schnell einigte man sich auch darauf, es bei allen beim ‚Du‘ zu belassen, da sich einige schon am Tag zuvor miteinander unterhalten hatten. Dennoch war das ein unübliches Vorgehen, und es hakte auch bei den meisten mit der Anrede. Und plötzlich war eine gewisse Zurückhaltung zwischen dem eingespielten Team und der Fremden zu spüren, von der man nicht wusste, ob sie sich eingliedern würde oder sich für das Allein-Seligmachende hielt.

*

Der Kranich, der sich als junges Weibchen entpuppte, hatte mittlerweile schon beachtliche Fortschritte gemacht. Am Anfang taumelte er immer wieder, wenn er versuchte, sich fortzubewegen. Da stellte Rob sich direkt vor ihn hin und breitete seine Arme aus. So weit, dass er Cara, wie er den Kranich nun nannte, am liebsten umarmt hätte, stattdessen wedelte er mit den Armen auf und ab und ahmte den Flügelschlag nach. Längst zutraulicher geworden, beobachtete Cara genau, was hier passierte, und versuchte dann vorsichtig, die Flügel zu benutzen.

Täglich übte Rob mit ihr. Und es war für ihn die schönste Zeit am Tag, auf die er sich immer besonders freute. Wenn Cara wieder etwas dazugelernt hatte, war Rob ganz stolz auf sie. Cara durfte bereits eigenmächtig ihren Verschlag verlassen, und wenn Rob in den Hof kam, wurde er freudig von dem Vogel begrüßt. Und wenn er die Arme hob, begann auch Cara mit den Flügeln zu schlagen. Die Wunde am Knie unterhalb der Schwingen im Gefieder war gut verheilt. Doch um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, musste Cara immer noch die Flügel bewegen. Sie konnte noch nicht richtig laufen und brachte lediglich ein lustiges Hopsen zustande. Rob hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel gelacht.

„Cara, süße Cara. Sieh mal, was würdest du denn von mir denken, wenn ich so herumliefe“, dabei hüpfte Rob durch den Hof und stellte sich dabei extra ungeschickt an.

Der Kranich legte den Kopf ein bisschen schief, und Rob hatte das Gefühl, als würde er schmunzeln. Und dann versuchte Cara wieder ein kleines Stück zu fliegen.

„Das war schon viel besser als gestern“, lobte Rob, „du willst doch keine Außenseiterin werden, wenn du erst zu deinen gefiederten Gefährten zurückkehrst.“

Als er hörte, was er da gesagt hatte, musste Rob schlucken, und er wurde traurig. Cara sah ihn forschend an und stupste ihn mit ihrem Schnabel.

„Du verstehst mich so gut“, er streckte seine Hand aus, und Cara machte noch einen Hopser zu ihm hin und knab­berte an seinen Fingern. Da traute Rob sich zögernd, ihr ganz sacht das Gefieder zu streicheln.

„So, und jetzt wird nach Nahrung gesucht. Denn du wirst dich ja irgendwann wieder selbst versorgen müssen“, riss Rob sich los, kniete sich hin und scharrte auf dem Boden herum.

Cara reckte ihren langen Hals nach vorne, betrachtete ihn genau und spielte dann mit. Als sie plötzlich ein Maiskorn fand, das Rob vorher dort versteckt hatte, schien sie zu begreifen, dass das ein sehr nützliches Spiel war.

Und endlich kam der Tag, als Cara ihm entgegenflog, als er einmal mit dem Motorrad in den Hof einfuhr. Rob war so froh, und es gab nichts auf der Welt, was er sich mehr wünschte, als dass Cara wieder ganz gesund werden würde. Von nun an begleitete der Kranich Rob bei seinen Fahrten. Er flog dann neben ihm her oder einfach ein Stück voraus. Und Rob drosselte die Geschwindigkeit oder neckte den Vogel, indem er ihm davonsauste. Und man konnte wahrlich von gemeinsamen Ausflügen sprechen, und wenn es das gab, auch von gemeinsamem Glück. Doch Rob wusste: Nun war der Tag nicht mehr fern, an dem er Abschied nehmen musste und Cara zu den anderen Kranichen zurückkehren würde.

*

„Okay“, sagte Hartmut Frank, „tragen wir doch erst einmal zusammen, was wir schon haben.“

Heute holte er nicht seine gefürchtete Schiefertafel und ein Stück Kreide hervor, denn auch bei Kommissar Frank hatte die Computertechnik Einzug gehalten und er hantierte am PC. Und alsbald erschienen an der kalkweißen Wand der Name und ein Foto des Opfers Holger Kling, und Hartmut kommentierte: „54 Jahre alt, lebt von seinem ererbten Grundbesitz, den er an Windparkbetreiber verpachtete, seit zwei Jahren geschieden. Die Ehefrau lebt drüben in Brunsbüttel und ist offenbar neu liiert. Kling galt als unauffälliger, regelmäßiger Besucher des Lokals ‚Goldener Anker‘, ein früherer Schulkamerad des Wirtes dort.“

„Jochen“, er wandte sich Dressler zu, „sprichst du mit seiner Frau? Es dürfte interessant sein, ob sie die Verpachtung der Gebiete guthieß. Dann könnte sich Helmut mal in der Umgebung seines Hofes umhören, was Kling so für ein Zeitgenosse war.“

Beide Kollegen nickten.

„Nun zu Ihnen, besser gesagt zu dir, Liz“, fast hätte er gestottert, „wir haben ja nun wenig konkrete Anhaltspunkte. Unser Mörder hat weder Fingerabdrücke noch Fußspuren hinterlassen. Die Spurensicherung vermutet sogar eher Tod durch einen Raubvogel. Ich weiß ja nun nicht …“

Amelung beendete den Satz für ihn: „… ob hier überhaupt ein echtes Betätigungsfeld für eine Profilerin sein wird. Oder wird jetzt überlegt, ob der Vogel psychisch gestört war?“

„Jetzt schießt du aber scharf“, verschaffte sich Heidi Gehör, „ihr wisst doch noch gar nichts, vielleicht ist es ja doch ein normaler Mörder. Nun gebt der neuen Kollegin doch mal eine Chance!“

„Danke, Heidi. Das ist total nett von dir!“ Im Gegensatz zu ihren Cuxhavener Kollegen hatte Liz keine Schwierigkeiten mit dem ‚Du‘, „aber ich komme schon klar. Und zudem … glaube ich nicht so recht an diese Raubtier-

Theorie. Tiere töten eher, um sich oder ihre Brut zu verteidigen oder weil sie Hunger haben. Die Tat war ausgesprochen grausam, das würde keinen Sinn machen. Gehen wir jetzt aber von einem menschlichen Täter aus, bekommt der Mord schon ein ganz anderes Gesicht. Dieser Mörder wollte nicht einfach nur töten, er wollte bestrafen, er wollte vernichten, auslöschen. Wut steckt dahinter, ein konkreter Anlass. Rache vielleicht, bestimmt sogar“, überlegte sie.

Sie ging zum Tisch, auf dem die Fotos vom Tatort lagen, betrachtete sie noch einmal der Reihe nach. „Es war ein regelrechtes Gemetzel. Und warum wurde er gerade auf diese Art umgebracht? Genau wie draußen in der rauen Natur ein Opfer von einem stärkeren Gegner gerissen wird.“

„Ich würde nicht sagen, genau wie in der rauen Natur, sondern tatsächlich in der Natur, es war ein Raubvogel“, sagte Amelung.

Liz zuckte mit den Achseln: „Da müssen wir den medizinischen Bericht abwarten. Wenn es ein Tier war, dann ein scharf abgerichtetes … und da stünde ja dann auch wieder ein Mensch dahinter.“

„Und was ist mit dem klitzekleinen Detail, dass keine Fußspuren in der Blutlache zu sehen waren?“, fragte Dressler.

Keiner sagte mehr etwas, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.

„Am besten nehme ich mir die Unterlagen einmal mit“, schlug Liz vor. „Ich habe im Best Western am Hafen gebucht. Vorerst kann ich von dort aus arbeiten, bis ich hier vielleicht ein Zimmer oder zumindest einen Schreibtisch bekomme“, dabei schaute sie Hartmut Frank fragend an.

„Das lässt sich sicher machen“, er lächelte sie nun doch an, „wir wurden ja mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt … “ Das konnte ja heiter werden, Hartmut war noch nicht einmal Zeit geblieben, sich darüber klar zu werden, was er denn nun davon hielt, seine Party-­Bekanntschaft so schnell wiederzusehen. Und nun würde er sie täglich treffen, auf engstem Raum mit ihr arbeiten, es machte ihn nervös, aber – er begann sich insgeheim auch ein bisschen darauf zu freuen.

Liz war eine selbstbewusste, geradlinige Frau, nicht ohne Ehrgeiz, der sie aber noch nie in ihrem Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte. Sie hatte lange Zeit in Berlin gelebt, doch sie musste weg aus der Stadt, und das hatte einen triftigen Grund ... einen Grund, der niemanden etwas anging.

Sie hatte sich auf gut Glück erkundigt, ob in den Nordregionen eine Fallanalytikerin gebraucht wurde, und man hatte ihr zugesagt, dass sie in Cuxhaven beim nächsten größeren Fall dabei sein würde. Dass es so schnell gehen würde, hatte sie jetzt wirklich nicht gedacht. Es konnte doch kein Zufall sein, dass sie nun ausgerechnet hier diesen Mann wiedertraf, der sie gestern Abend tatsächlich beeindruckt hatte mit seiner poetischen Schlagfertigkeit und, wenn sie ehrlich war, nicht nur damit. Sie erwiderte sein Lächeln und dachte dabei, mein kleiner „Bard of Avon“, dieser Spitzname Shakespeares klang in ihrer Vorstellung fast wie ein Kosewort.

„Wo ist das zerknitterte Papier?“, wie vom Donner gerührt war Hartmut aufgesprungen, das hatte er völlig vergessen, „ich hab es gestern nicht mehr gepackt, es einzutüten.“

Alle schauten ihn verständnislos an.

„Das gibt es doch nicht“, Hartmut konnte es nicht fassen, „es war ein zusammengeknülltes, gelbes Stück Papier. Ich weiß, dass es wichtig ist.“

„Wir haben die Sachen des Toten sichergestellt, es waren ihm ein paar Dinge aus der Jacke gefallen. Aber ein Papierknäuel war nicht dabei“, erklärte Jochen Dressler.

„Das ist doch nicht euer Ernst! Es muss ganz in der Nähe von dem Ort gelegen haben, an dem ich … nun sagen wir mal, ein bisschen in die Knie gegangen bin. Wie oft haben wir schon Tatort-Begehungen gemacht, wir dürfen einfach nicht nur den kleinsten Radius nehmen. Da muss alles, wirklich alles inspiziert werden“, sagte der Kommissar verärgert und griff sich seine Jacke, „ich fahre sofort wieder nach Otterndorf.“

„Jetzt mach mal halblang“, sagte Amelung, „vielleicht hat es auch der Wind weggeweht. Und du hattest es ja wohl auch wieder vergessen.“

„Warte“, sagte Libuše zu ihrem Chef, „ich komme mit. Wir sind doch hier ohnehin fertig für heute, nehme ich an.“


Dunkler Tanz des Kranichs

„Was sage ich euch schon die ganze Zeit“, Britta Peters ging ungeduldig vor der Bühne auf und ab, „mit Gefühl … mit mehr Gefühl!“

Die Tanzenden auf der Probebühne hielten außer Atem inne und schauten missmutig zu ihrer Choreografin hinunter. Sie hatten sich das alles leichter vorgestellt, sie waren doch keine Profitruppe, sondern ein zusammengewürfeltes Grüppchen der Volkshochschule. Und Britta Peters, die den Kurs leitete, war keine Pariser Ballett-Choreografin, sondern hatte gerade erst ihr Studium beendet, dafür aber höchst eigenwillige Vorstellungen.

„Entschuldigt“, kehrte Britta auf den Boden der Tatsachen zurück, „ich weiß, dass ich euch zu sehr trieze, aber ich habe die gesamte Vorstellung schon genau im Kopf und sehe alles vor mir ablaufen, und das sieht irgendwie anders aus.“

„Ja, aber es soll doch auch Spaß machen“, verteidigte sich Heiner und schaute Beifall heischend in die Runde. Manche nickten ihm zu, aber Henriette brachte es auf den Punkt: „Du hast bestimmt ein tolles Stück entworfen, aber irgendwie verzettelst du dich beim Erklären. Du gibst uns ein Bild und wir versuchen es umzusetzen, und schon kommt das nächste und das nächste.“

Ernüchtert schaute Britta zu ihren Mitstreitern auf der Bühne: „Ein bisschen liegt es auch daran, dass wir noch ein paar zusätzliche Mitwirkende brauchen könnten. So will ich zu viel in eine Person legen. Okay – lasst uns noch mal ganz neu anfangen – bitte?“

Einer nach dem anderen stieg zu ihr herunter, Henriette legte den Arm um ihre Schultern: „Klar machen wir das. Wir wollen doch schließlich gewinnen“, und sie schaute aufmüpfig die anderen an, „oder?“ Zustimmung kam von allen Seiten. Denn keiner hatte Lust, Britta ernsthaft anzugreifen, da sie eine dieser Frauen war, die beinahe jeder mochte: sympathisch, offen, freundlich.

Heute zur Probe hatte sie ihre langen, braunen Haare mit einer blauen Schleife zu einem flotten Zopf zurückgebunden, der sie noch sportlicher aussehen ließ als sonst. Und energisch – denn sie wusste, was sie wollte, ohne die anderen damit zu überfahren. Ein bisschen übereifrig war sie allerdings, gerade bei Dingen, an denen ihr Herz hing. Denn natürlich wollte auch sie gewinnen.

Die Otterndorfer Kranichhaus-Gesellschaft hatte zum bevorstehenden Jubiläum ihres 60-jährigen Bestehens einen Wettbewerb ausgeschrieben: Gruppen und Einzelpersonen sollten einen künstlerischen Beitrag zu einem Thema rund um das Kranichhaus leisten. Und Britta Peters hatte sich eine Choreografie ausgedacht, die nun wirklich zu dem Barockhaus passte: Der Tanz des Kranichs.

Es war ihr vor Kurzem eingefallen, als sie in Hamburg im Theater eine Szene aus „Schwanensee“ gesehen hatte. Plötzlich nahmen die herrlichen Balzgebärden der Kraniche vor ihren Augen Gestalt an, und die Idee war geboren. Das gab dann auch den Ausschlag, gänzlich in das Otterndorfer Haus ihrer Tante Beatrice zu ziehen. Bisher hatte sie in einer kleinen Studentenwohnung in Hamburg gewohnt, die sie jetzt aufgab. Beatrice Peters war nach Cuxhaven gezogen und kümmerte sich wieder mehr um die Führung ihrer Firma „Globus“. Sie war auf dem besten Weg, wieder zu der knallharten Geschäftsfrau zu werden, die sie gewesen war, bevor sie die Liebe für sich entdeckte. Doch sie hatte ihre große Liebe verloren, und dem schalen Beigeschmack des Verschmähtwerdens konnte sie bisher noch nichts anderes entgegensetzen.