Книга Kraniche über Otterndorf - читать онлайн бесплатно, автор Hedi Hummel. Cтраница 3
bannerbanner
Вы не авторизовались
Войти
Зарегистрироваться
Kraniche über Otterndorf
Kraniche über Otterndorf
Добавить В библиотекуАвторизуйтесь, чтобы добавить
Оценить:

Рейтинг: 0

Добавить отзывДобавить цитату

Kraniche über Otterndorf

Überraschenderweise fühlte sich Britta in dem großen Haus wohl, in dem sie glückliche Kindheitsjahre verbracht hatte. Obwohl doch ihr Vater dort …

Unsanft wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Auch alle anderen schauten erschrocken auf, als der Hausmeister plötzlich in die Halle stürzte. Aufgeregt berichtete er von dem grausigen Mord, der in der Nacht davor entdeckt worden war. Obwohl ihr Treffen noch gar nicht so lange dauerte, hatte keiner mehr Lust, weiter zu proben.

*

Eine Fremde kommt an einen neuen Ort, und ein Mord geschieht, überlegte Britta. So war es vor einiger Zeit der Urlauberin Rita Sieversen in Cuxhaven ergangen. War Britta etwa die Nächste, die das erleben musste? Aber so fremd war sie ja schließlich gar nicht. Voller Entsetzen stellte sie fest, wie sehr sie es immer wieder verdrängte, dass der Ermordete in Cuxhaven am Galgenberg ihr eigener Vater gewesen war. Immer von Neuem schob sie diese Tatsache weit von sich, und es funktionierte deshalb so gut, weil sie ihren Vater jahrelang nicht gesehen hatte, bevor der Mord passierte. Sie hatte sich immer nur vorgestellt, er lebt da in Otterndorf mit seiner Schwester Bea, hat bestimmt tausend Geliebte und braucht uns ja offensichtlich überhaupt nicht. Nach der Trennung der Eltern hielt sie zu ihrer Mutter und lebte auch bei ihr. Zu ihrem Vater hatte sie ein zwiespältiges Verhältnis und ihn nur selten auf sein Drängen hin getroffen. Sie gab ihm die Schuld am Unglück ihrer Mutter. Doch im tiefsten Inneren hatte sie sich immer nach ihm gesehnt und ihn schmerzlich vermisst. Nie hatte sie sich ganz gefühlt. Aber dieser Schmerz war dick in Watte verpackt, sodass sie ihn zwar wahrnahm, aber nicht darunter litt, als betreffe er sie gar nicht. Doch sein Tod hatte die Wunde wieder aufgerissen und sie tief erschüttert. Und sofort setzte das schlechte Gewissen ein, ihm nie mehr eine wirkliche Chance gegeben zu haben. Ihre Mutter war fassungslos, dass sie überhaupt mit dem Gedanken spielte, in das Haus ziehen zu wollen, das er der Tochter vererbt hatte. Und zunächst konnte Britta es sich auch nicht vorstellen. Doch als sie das Wohnhaus nach so vielen Jahren wieder betrat – zum Glück in Begleitung ihrer Tante Bea –, spürte sie, dass sie hierhergehörte, dass sie sich konfrontieren wollte und musste. Zudem liebte sie Otterndorf, genauso wie Cuxhaven, eigentlich die gesamte Nordseeregion.

Sie war auf dem Weg nach Hause und konnte sich nicht von den Bildern lösen, die nach den Schilderungen des grausamen Mordes in ihrem Kopf entstanden waren.

Das Piepen ihres Handys erinnerte sie daran, dass sie die Sprachnachricht immer noch nicht abgehört hatte. Eine Angestellte der Volkshochschule teilte ihr mit, dass sich auf die Annonce der VHS hin noch drei weitere Leute gemeldet hatten.

„Was“, rief Britta aus. Damit hatte sie nicht mehr gerechnet. Denn die Ballett-Szenen, die sie sich ausgemalt hatte, waren ohne zusätzliche Mitwirkende kaum zu realisieren.

Sofort sprach sie wiederum eine Nachricht auf den AB der VHS: „Danke für die tolle Neuigkeit! Wenn Sie so nett wären, teilen Sie den Interessenten doch auch die neue Adresse mit, die ich angegeben habe. Zudem haben wir uns einstimmig entschieden, die Proben auf abends zu verlegen, das können sich die Leute eher einrichten. Ich hoffe, das ist für Sie okay? Der nächste Treffpunkt wäre dann Dienstag um 19 Uhr. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich freu mich sehr.“

Die Euphorie kehrte zurück. Der Dämpfer, den ihr ihre Mitstreiter gerade verpasst hatten, löste sich in Luft auf. Mit drei weiteren Leuten werden wir es schaffen. Und plötzlich strahlte sie übers ganze Gesicht, und ihr Schritt beschleunigte sich von ganz allein. Sie wollte nichts als nach Hause und ihre Choreografie neu ausarbeiten. Dennoch hatte sie das seltsame Gefühl, als verfolge sie jemand, sie drehte sich mehrmals um, aber sie sah niemanden.

*

Kommissar Frank und seine Kollegin Libuše standen ratlos in der Marktstraße in Otterndorf. Keine Spur mehr von dem gelben Papier weit und breit.

Libuše fragte vorsichtig: „Und du bist dir ganz sicher, dass da Papier-Schnipsel gelegen haben?“ Es klang ungläubig.

Hartmut nickte: „Keine Papier-Schnipsel, so eine Art Papier-Stern. Auch wenn ich etwas getrunken hatte, glaub mir, er lag dort!“

Libuše rief noch einmal die Spurensicherung an. Und Hartmut inspizierte die hohen grauen Papierkörbe in der Nähe, und zwar richtig. Er leerte die Behälter aufs Trottoir und kramte hemdsärmelig im Müll herum.

„Pah, was stinkt das“, machte Hartmut doch seinem Unmut Luft. Denn am Wochenende sammelte sich eine riesige Menge Unrat an. Aber – beim zweiten Papierkorb hatte er Glück. Da war es! Er fischte ein gelbes Papierknäuel heraus. „Ich hab’s!“

Schon war Libuše zur Stelle. „Na, das hat ja keine so richtige Form mehr“, meinte sie skeptisch.

„Doch, siehst du das nicht“, ereiferte sich Hartmut, „es erinnert an eine Bastelfigur aus dem Kindergarten.“ Er zupfte an den Ecken des Papiers und zog es leicht auseinander, und allmählich schälte sich die ursprüngliche Form wieder heraus.

Libuše machte große Augen und lachte dann: „Das ist kein Bastelknäuel – sondern eine Origami-Figur. Meine Nichte hat da solche Bögen zu Hause mit Faltanleitung.“

Auf Hartmuts fragenden Blick erläuterte sie: „Japanische Faltkunst eben, und das scheint mir ein Kranich zu sein!“

*

Britta hatte es sich auf ihrem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und träumte sich zurück zu dem Abend vor ein paar Wochen, als sie mit ihrer Tante Beatrice in Hamburg im Ballett gewesen war.

„Ach herrje, wo hast du mich denn hingeschleppt?“, beschwerte sich Beatrice Peters. Sie saßen im Minerva-­Theater – natürlich auf den besten Plätzen, denn Tante Bea hatte ihren großzügigen Tag gehabt, als ihre Nichte sie bat, doch einmal wieder mit ihr in die Oper oder ins Ballett zu gehen. Aber weiter hatte sie sich um nichts gekümmert, lediglich bezahlt, eine ihrer leichtesten Übungen.

„Das ist Kunst, Bea“, erklärte Britta nachsichtig.

„Das ist verstaubter Kram aus der Mottenkiste“, war ihr sarkastischer Kommentar.

Britta prustete los, sollte sie jemals etwas Künstlerisches zuwege bringen, so würde sie es ihrer Tante zur Begutachtung vorlegen, denn was unter ihren Augen Gnade fand, das musste schon etwas Besonderes sein.

Sie saßen in Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“, Britta hatte Lust gehabt auf etwas Konventionelles, aber dass es so bieder inszeniert sein würde, dass hatte auch sie nicht geahnt. Die Musik war natürlich traumhaft, und sie merkte, dass sie den Tänzern auf der Bühne in ihrer Fantasie die rüschigen Kleider auszog und sie mit gewagten Kostümen ausstaffierte und dass sie ihre Bewegungen, ihre Tanzschritte, ihre Gebärden umwandelte in ein viel aufregenderes Ballett. Und da war es geschehen, in ihren Gedanken gingen die Tänze auf der Bühne eine atemberaubende Liaison ein mit der Ausschreibung der Otterndorfer Kranichhaus-Gesellschaft, die originelle Beiträge zu ihrem ehrwürdigen Barockhaus suchte. Und sie sah Kraniche vor sich, sich umtanzen, miteinander streiten, sich umwerben und verlieben.

„Bea, du bist einfach toll!“, teilte sie der Tante mit, als sie in der Pause auf den Barhockern im Foyer saßen und mit einem Sekt anstießen.

„Wie komm ich denn zu der Ehre?“, fragte Bea ehrlich interessiert, denn sie war eine Frau, bei der man mit Komplimenten gar nichts erreichte und die allem auf den Grund gehen musste.

„Deine Kritik hat mich zu einer ganz anderen Choreografie-Idee verleitet“, sie prostete ihr zu, „und die werde ich versuchen, in Otterndorf mit Laiendarstellern umzusetzen.“

„Da hast du dir ja was vorgenommen“, spottete sie, „wie willst du denn ausgerechnet in Otterndorf grazile Balletteusen finden … ich hätte nie gedacht, dass ich mich heute noch amüsieren würde. Es hat schon seinen Grund, warum ich aus dem Dorf weggezogen bin.“

Britta schlug scherzhaft mit dem Programmheft nach ihrer Tante: „Schlange!“

Sofort verfinsterte sich Beas Gesicht, und Britta merkte zu spät, was sie gemacht hatte.

„Tut mir leid“, sie guckte betreten auf ihr Glas, „ich wollte dich nicht an Erika erinnern.“ Beas große Liebe, die sie für die Urlauberin Rita Sieversen verlassen hatte und mit ihr nach Berlin gezogen war.

„Schon gut“, versuchte Beatrice die Vorstellung wegzuschieben, „es sagte eben niemand so liebevoll ‚Schlange‘ zu mir wie Erika. Aber na ja, was vorbei ist, ist vorbei. Wie sagst du immer so schön, auf zu neuen Ufern – aber es gibt hier wahrlich mehr neue Ufer als Flüsse, doch überall schmeckt das Wasser schal und banal.“

„Also, Tante Beatrice“, Britta betonte das Wort Tante, „bitte keine Details! Es wird schon wieder eine kommen, die dir das Herz stiehlt.“

*

Hartmut Frank lieferte das erbeutete Stück Papier bei der Spurensicherung ab und konnte endlich Feierabend machen. Für alle Fälle hatte er in seinem Handy ein Foto davon gespeichert.

Endlich zu Hause, parkte er seinen Wagen in der Garage. Er wohnte in einem der schönen, zurückgesetzten Häuser der Nordheimstraße in Sahlenburg mit kleinem Garten und Sitzecke im Hof. Schon seine Eltern hatten hier gelebt, und nach ihrem Tod war er hierher zurückgekehrt. Wie so oft war er den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und hatte sich quasi ins gemachte Nest gesetzt. Zwar war die Straße nicht eben die attraktivste, entsprechend den früheren Reihendörfern zog sie sich beinahe kerzengerade bis fast hinunter zum Strand, aber auf der gegenüberliegenden Seite gab es überall Durchgänge zum Wernerwald. Es war befreiend, abends noch einmal ein Stück in den Wald hinein zu schlendern und einfach abzuschalten oder, wenn es sich nicht vermeiden ließ, den jeweiligen Fall noch einmal neu zu überdenken.

Heute aber zog es ihn zu seinem Sessel im Erker, denn er fühlte sich schon wieder erschöpft. Hoffentlich bekam er keine Erkältung. Was hatte ihn nur so geschwächt auf Libušes Party? Es konnte nicht nur der Alkohol gewesen sein, er hatte den ganzen Abend über lediglich zwei, drei Gläser Wein getrunken und mindestens doppelt so viel Wasser. Irgendetwas am Tatort hatte ihn irritiert, er schloss die Augen, bekam es aber nicht zu fassen. Auf jeden Fall hatte es mit dem Kranich zu tun oben auf dem Kranichhaus, wie durchbohrt war er sich vorgekommen von seinen Blicken.

Plötzlich ertappte er sich dabei, dass er vor sich hinlächelte. Sie war ganz schön schneidig, die neue Mitarbeiterin, fiel ihm unpassenderweise an dieser Stelle ein. Sie wusste genau, was sie wollte, irgendwie gefiel ihm das. Er stand ja eigentlich mehr auf den sanften Typ Frau, aber diese Liz, die hatte was. Und sexy fand er sie auch. Auf der Party war es ein lockeres Umkreisen gewesen, diese Leichtigkeit war jetzt natürlich passé. Nun musste man sich erst mal beim Arbeiten zusammenraufen, aber – schon wieder lächelte er – sie flirtet da einfach weiter. Seine Stirn legte sich in Falten, ob ich ihr überhaupt gewachsen bin? Früher wäre er solchen Frauen aus dem Weg gegangen, aber jetzt … was hatte er zu verlieren? Ihm fiel eine Chanson-Zeile ein: „Lass sie fallen, die Bilder von dir und mir“, das wär’s doch: jemandem zu begegnen, bei dem man so sein konnte, wie man wirklich war.

Aber dass man ihnen einfach eine Profilerin zugeteilt hatte, war schon ein starkes Stück. Klang das nicht ein bisschen so, als glaube man, sie würden es alleine nicht schaffen? Um sich abzulenken, kramte Hartmut sein Handy aus dem Jackett und schaute sich noch einmal das Foto der Origami-Figur an. Und es erfasste ihn dieses rauschhafte Gefühl, als sei er auf eine heiße Spur gestoßen. An was erinnerte ihn nur dieses eckige Papierknäuel, und wo hatte er etwas Ähnliches schon einmal gesehen? Ein kantig gefaltetes Tier als Signatur eines Mordes? Richtig, jetzt fiel es ihm ein, es war kein anderer Fall, der ihm im Gedächtnis geblieben war, es war …

Hartmut sprang auf und suchte aus seinem Regal eine bestimmte DVD heraus, legte sie in den Player ein und spulte vor. Stopp, da war die Szene: Der beauftragte Killer hinterließ am Tatort des Mordes eine Origami-Figur, aber im Film war es kein Kranich, sondern ein Einhorn.

„Donnerwetter“, er war ganz aufgeregt, „da kopiert jemand ,Blade Runner‘“, einen seiner Lieblings-Sci­ence-Fiction-Filme!

*

Sie wusste gar nicht, was sie zuerst machen sollte, es gab so viel zu erledigen. Ihr praktischer Sinn siegte. Sie griff zum Telefon und wählte ihre Tante an: „Beaaa“, sie zog ihren Namen bittend in die Länge, sodass ihre Tante schon insgeheim den Geldbeutel zückte.

„Ja, bitte“, fragte sie „was kann ich für dich tun?“

Britta grinste: „Möchtest du nicht einen kleinen Obolus leisten für die Kunst?“

„Pah, wenn du so fragst, bekommst du gar nichts. Sag doch einfach, du brauchst Geld und basta.“

„Okay, Tante“, Britta gab sich einen Ruck, denn nie zuvor hatte sie das Angebot ihrer Tante angenommen, zumindest für sich selbst überhaupt erst in Betracht gezogen, „ich brauche Geld!“

Als Beatrice die Summe hörte, musste selbst sie erst einmal schlucken: „Du machst dich, Kleines … “, man hörte, wie sie sich am anderen Ende der Leitung etwas notierte, „ich überweise es dir – und Britta, gib nicht alles auf einmal aus.“

„Danke, Bea“, sagte Britta, aber ihre Tante hatte längst wieder aufgelegt, denn in ihrer Küche wartete eine entzückende Pizza-Lieferantin auf ihr Wechselgeld …

Die finanzielle Seite war ja jetzt gesichert, nun ging’s an Konzept. Sie musste die Szenen umschreiben … für drei weitere Tänzer. Sie war so aufgeregt. Wie die neuen Teilnehmer wohl sein würden? Ob sie Tanzerfahrung hatten? Ob sie sich gut in die Gruppe eingliederten?

*

Kommissar Frank und Jochen Dressler fuhren diesen Weg nun schon seit vielen Jahren, und nie, dachte Hartmut, nie konnte er dieses unangenehme Gefühl abstreifen, beinahe einen leichten Widerwillen, diese Schwelle zu überschreiten. Die Kühle der Räume, die auf eine andere Weise schauern machte, als wären sie in einen Eisregen geraten, die nüchterne Sprache, die dem Fall zwar zuträglich war, aber die doch einen Menschen betraf, der vor Kurzem noch lebte und Wünsche und Ängste hatte und nun reduziert wurde auf, na sagen wir mal, zwei bis drei Pfund Hirnmasse und einen perforierten Darm.

„Grübelst du wieder?“, fragte ihn sein Kollege Jochen.

Hartmut wandte ihm kurz sein Gesicht zu, konzentrierte sich aber sofort wieder auf die Straße. Wie gut sie sich kannten! „Ja“, sagte er mehr zu sich selbst.

„Immer hereinspaziert, die Herrschaften“, begrüßte sie Gerichtsmediziner Lohmeier, der Fuchs, wie er allgemein genannt wurde. Er hielt ihnen die Tür auf mit einer Geste, als lege er ihnen die Welt zu Füßen. „Achtung, Stolperfalle“, schon war man wieder in der Realität angekommen.

„Etwa gegen Mitternacht trat der Tod ein“, Fuchs Lohmeier kratzte sich hinterm Ohr: „Nun ja, ein Blutbad.“

Er lüftete das weiße Tuch, das über den Toten gebreitet war. Der gesamte Körper, auch das Gesicht, war mir Einstichen bedeckt, und überall waren leichte und tiefere Kratzwunden. Auch das rechte Auge und der Hals waren schwer verunstaltet, und Hartmut wandte sich ab.

„Ihr seht ja selbst“, fuhr Lohmeier fort, „übersät mit Kratzspuren und Stichen. Aber es könnten natürlich auch Hackspuren sein, von einem spitzen, kräftigen Schnabel. Dafür spricht, dass die Halsschlagader regelrecht zerfetzt wurde, was die eigentliche Todesursache ist.“ Er druckste ein wenig herum: „Aber grundsätzlich bin ich mir noch nicht sicher. Die Federn, die an Körper und Kleidung klebten, sind nicht von der Hand zu weisen. Dennoch glaube ich nicht so richtig an einen Raubvogel. Dafür erscheinen mir die Wunden zu … mechanisch und in der Form zu gleichförmig. Ich habe eine Kollegin hinzugezogen, die da einige Erfahrung hat. Sie ist allerdings tatsächlich der Ansicht, dass es sich bei den tödlichen Wunden um Tierbisse oder Risse von scharfen Krallen handelt.“

Hartmut und Dressler sahen ihn groß an. Allein dass Lohmeier zugab, es nicht genau zu wissen, und eine zweite Person hinzuzog, war schon eine Seltenheit und kam nur alle zehn Jahre einmal vor.

„Hm, das ist ja ziemlich verwirrend“, kommentierte Dressler.

„Es ist eine schwierige Sachlage“, verteidigte sich der Mediziner, „aber ich kann mich den Argumenten meiner Kollegin nicht ganz verschließen. Wir müssen bis morgen warten, dann werden wir erfahren, ob tierische DNA im Spiel ist. Da kommt man sonntags nicht allzu weit.“

„Was mich noch interessiert“, überlegte Kommissar Frank, „wie war denn die körperliche Verfassung von Horst Kling? War da irgendetwas ungewöhnlich, hat er getrunken, war er tätowiert und solche Sachen?“

Jetzt schaute er wirklich wie ein Fuchs, dachte Dressler und musste grinsen.

Lohmeier räusperte sich vielversprechend: „Auf den ersten Blick alles normal, er war nicht gerade fit, aber alles im Rahmen. Getrunken hat er wohl nicht, seine Fingerkuppen deuten allerdings darauf hin, dass er geraucht hat, und zwar Selbstgedrehte. Das war ja lange Zeit völlig out, aber seit die Zigaretten so teuer sind, kommt es wieder häufiger vor … aus Geldgründen, aber oft auch … aus Nostalgie.“

„Interessant“, murmelte Hartmut, aber Geld hatte Kling ja wohl reichlich, überlegte er.

Der Gerichtsmediziner reichte dem Kommissar eine silberne OP-Schale mit zunächst undefinierbarem Inhalt: „Das hatte er im rechten Ohr, ein hochmodernes Luxus-Hörgerät. Das spricht nun wirklich dafür, dass er sich seine Zigaretten hätte leisten können. So etwas kostet mindestens 3000 Euro. Ich hab so eine Ausfertigung noch nie gesehen.“

„Okay, wenn du hier fertig bist, Tobias, schick es uns bitte ins Büro.“

„Mach ich. Ansonsten hab ich erst mal nichts zu bieten.“

*

„In der Umgebung seines Gehöfts bei Kehdingbruch konnten die Leute nicht viel über Holger Kling erzählen“, berichtete Amelung bei der Lagebesprechung, „er tauchte da nur selten auf und blieb auch weiterhin in Otterndorf wohnen. Befragt man dort seine Nachbarn, so galt er als ruhiger Zeitgenosse, war freundlich und umgänglich, nur in der Zeit, als ihn seine Frau verließ, wirkte er niedergeschlagen und fahrig. Jeder, den man fragte, war entsetzt über seinen gewaltsamen Tod.“

„Ich war in Brunsbüttel und hab mich mit Klings Ex-Frau unterhalten“, referierte als Nächster Jochen Dressler. „Eine durch und durch bodenständige, sehr sympathische Frau. Sie lebt dort allein, hat einen neuen Freund, war aber ehrlich erschüttert über das Schicksal ihres früheren Ehemanns. Was die Verpachtung seines Ackerlandes an die Windanlagenfirma angeht, das fand sie wohl nicht toll, sie ist aber keine ausgesprochene Windkraft-Gegnerin. Die Eheleute haben sich zwar kurz danach getrennt, doch sie betonte, dass das rein private Gründe hatte.“

„Glaubst du, sie könnte irgendetwas mit der Tat zu tun haben?“, fragte Hartmut.

Dressler schüttelte heftig den Kopf: „Auf keinen Fall! An dem Abend feierte sie in großer Runde das 25. Firmenjubiläum einer Freundin. Das dauerte bis in die Morgenstunden, und sie hat etwa dreißig Zeugen, die ihr Alibi bestätigen können. Nur …, ich hab sie nach dem Hörvermögen ihres Ex-Mannes gefragt, wegen des teuren Hörgerätes ...“, er zögerte, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „er hörte tatsächlich ein bisschen schlechter, aber ein so spezielles Hörgerät hatte er ihrer Meinung nach nicht nötig.“

„Na ja“, warf Libuše ein, „so was Besonderes ist das doch nicht. Die beiden sind doch schon zwei Jahre getrennt, in der Zwischenzeit kann sich das doch verschlechtert haben.“

„Selbstverständlich“, überlegte Dressler, „aber irgendetwas daran macht mich stutzig.“

Hartmut bekräftigte seine Einschätzung: „Mir kam das auch gleich seltsam vor. Wir lassen das Gerät auf jeden Fall von einem Fachmann untersuchen.“

„Ich habe die Nachbarn der umliegenden Häuser des Tatorts befragt“, setzte Libuše die Runde fort, „die meisten haben nichts mitbekommen. Bis auf den Schrei natürlich. Bis dann jemand am Fenster oder auf der Straße war, hatte man sich nur noch für die Leiche interessiert. Frau Bedecker allerdings, die über dem Bäcker wohnt, hat einen großen Vogel wegfliegen gesehen. Und jetzt haltet euch fest, der Junge von Paulsens erzählte mir ganz aufgeregt, er habe die Tat beobachtet. Ein großer Vogel habe den Ermordeten von hinten angefallen und immer wieder auf ihn eingehackt. Der junge Paulsen hatte heimlich zu später Stunde ferngesehen und hätte es erst gar nicht glauben können, weil es wohl wirkte wie in einem Gruselfilm. Alles sei so schnell gegangen, dass es schon vorbei gewesen war, als er seine Eltern holte. Und die hatten dann gedacht, er erzähle Märchen.“

„Das ist ja wirklich der Hammer“, machte Dressler sich Luft.

Und Hartmut wollte wissen: „Wie schätzt du den Jungen ein? Kann man ihm trauen?“

„Also, ich glaube ihm schon“, überlegte Libuše, „im Gegensatz zu seinen Eltern. Selbst als sie die Leiche sahen, sprachen sie nur von seiner ungezügelten Fantasie. Was allerdings wirklich sehr dubios klingt, er behauptet stock und steif, es hätte sich um einen Kranich gehandelt.“

„Ein Kranich?“, Dressler konnte es nicht fassen, „die greifen doch niemanden an, und vor allem töten sie keine Menschen!“

„Das wäre dann der Erste“, stellte Libuše trocken fest.

„Ist das dein Ernst?“, fragte Hartmut sie mit eindringlicher Stimme.

„Nun könnten wir ja vielleicht noch einmal neu über meine Vermutung diskutieren, inwieweit man Kraniche abrichten kann“, mischte sich Liz mit süffisantem Lächeln ein und trat in die Mitte des Raums.

„Dazu kann euch mit Sicherheit Maria Marquard etwas sagen“, trumpfte Amelung auf, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, „sie ist Falknerin und eine enge Freundin meiner Schwester!“

„Na, dann mal her mit ihr!“, sagte Hartmut Frank, „ist doch interessant, was ihr alle für Freunde und Bekannte habt.“ Dabei ruhte sein Blick wohlgefällig auf Liz, die ihn daraufhin so herausfordernd anschaute, dass er plötzlich gute Laune bekam.

*

Endlich war Dienstagabend. Britta schwang sich stolz auf ihren neuen Motorroller. Es war schon ein prächtiges Teil, eine schicke cremefarbene Vespa, genau das Richtige für den Stadtverkehr und kurze Fahrten über Land. Es war die erste Anschaffung vom Geld ihrer Tante, es würden noch weitere folgen. Da die Proben seit heute in den Seelandhallen Achtern Diek stattfinden sollten, fühlte sich die junge Choreografin für die An- und Abreise gewappnet. Zu Fuß war das schon ein Angang, die Hallen befanden sich außerhalb in der Nähe des Campingplatzes, nahe der Medemmündung in die Elbe. Und sie war sich noch nicht sicher, ob sie den Ort beibehalten sollten. Vor allem für den Rückweg sollten sich Fahrgemeinschaften zusammenfinden.

Heiner, Henriette und die anderen waren schon da und hatten sich zusammen in den Zuschauerraum gesetzt. Eine unbekannte Frau stand bei ihnen, und das Gespräch schien zu florieren. Ein etwa dreißigjähriger Mann versuchte anzudocken, was nicht so gut gelang.

Britta ging auf die Gruppe zu, war aber dennoch nicht ganz bei der Sache, sollte nicht noch ein Dritter dazukommen?

„Hallo“, sie gab zuerst der Frau die Hand, dann dem Mann, „ich bin Britta Peters. Toll, dass Sie zu unserer Gruppe stoßen!“

Es stürmten nun Begeisterungsbekundungen, Kurz-Biografien und allerlei Fragen auf sie ein. Aber nichts davon drang wirklich bis zu ihr vor. Sie stand nur lächelnd da und nickte und gab Laute von sich, die als Zustimmung gedeutet werden konnten. Denn sie hatte ganz hinten im Saal in einer der letzten Reihen einen Mann entdeckt, der die Gruppe interessiert beobachtete, aber aus irgendeinem Grund nicht nach vorne kam. Entweder war er zu schüchtern oder noch nicht sicher, ob er wirklich teilnehmen sollte. Britta wusste auch nicht, warum sie der Fremde so nervös machte, immer wieder schaute sie zu ihm.

„Hallo, junger Mann“, rief sie ihm schließlich zu. Das war eine ziemliche Übertreibung, aber sie wusste nicht, wie sie die Anrede formulieren sollte, „möchten Sie nicht zu uns kommen?“

Unbehaglich rutschte der auf seinem Stuhl hin und her, schien sich dann aber einen Ruck zu geben, stand auf und kam nach vorne. Sein Gang war langsam und vorsichtig, entbehrte jedoch nicht einer gewissen Eleganz. Ganz in Schwarz gekleidet, aufrechte Körperhaltung, dunkle Haare, stechend blaue Augen, die er jedoch meistens abzuwenden versuchte. Britta bemerkte durchaus die Schärfe seines Blicks, hätte aber die Augen eher als leuchtend blau beschrieben. Unwillkürlich lächelte sie ihn an. Sie schätzte ihn auf etwa 30 Jahre, nur ein paar Jahre älter als sie.