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Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке
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Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке

‚Komm, aber duck dich, wenn wir unter der Drehbrücke hergehen, sonst stößt du dir ’ne Delle in den Kopf – und darfst nicht mehr herkommen. Wie bist du ihnen denn entkommen?‘

‚Nettlinger kam im Morgengrauen in meine Zelle, er brachte mich an den Hintereingang, wo die unterirdischen Gänge bis zum Bahndamm führen, an der Wilhelmskuhle. Er sagte: ,Hau ab, renn los – aber ich kann dir nur eine Stunde Vorsprung geben, in einer Stunde muss ich’s der Polizei melden’ – ich bin um die ganze Stadt herum bis hierhergekommen.‘

‚So, so‘, sagte der Alte, ‚ihr musstet also Bomben schmeißen! Ihr musstet euch verschwören und – gestern hab ich schon einen von euch verpackt und über die Grenze geschickt.‘

‚Gestern‘, fragte ich, ‚wen?‘

‚Den Schrella‘, sagte er, ‚er hat sich hier versteckt, und ich habe ihn zwingen müssen, mit der ,Anna Katharina’ abzufahren.‘

‚Auf der ,Anna Katharina’ wollte Alois immer Steuermann werden!‘

‚Er ist Steuermann auf der ,Anna Katharina’ – komm jetzt.‘

Ich stolperte, als wir an der schrägen Kaimauer entlang unterhalb der Böschung auf Trischlers Haus zugingen, stand auf, fiel wieder, stand auf, und die ruckhaften Bewegungen rissen Hemd und Haut immer wieder auseinander, verklebten sie, rissen sie auseinander, und der ständig neu gestachelte Schmerz hob mich in einen Zustand der Besinnungslosigkeit, in dem Bewegungen, Farben, Gerüche aus tausend Erinnerungen sich ineinander verfingen, übereinander lagerten; bunte Chiffren von wechselnder Farbe, wechselndem Gefälle, wechselnder Richtung, wurden vom Schmerz aus mir herausgeschleudert.

Hochwasser, dachte ich, Hochwasser, immer schon hatte ich den Wunsch gespürt, mich hineinzuwerfen und auf den grauen Horizont zutreiben zu lassen.

Im Traum beschäftigte mich lange die Frage, ob man in einem Henkelmann eine Stacheldrahtpeitsche verbergen könne; Erinnerungen an Bewegungen setzten sich in Linien um, die sich zu Figuren fügten; grüne, schwarze, rote Figuren waren wie Kardiogramme, die Rhythmen einer bestimmten Person darstellten: der Ruck, mit dem Alois Trischler die Angel hochgezogen hatte, wenn wir im alten Hafen fischten, wie er die Schnur mit dem Köder ins Wasser schnellte, sein wandernder Arm, der das Tempo des Wassers anzeigte: grün auf grau gezeichnete genaue Figur; Nettlinger, wie er den Arm hob, um Schrella den Ball ins Gesicht zu werfen, das Zittern seiner Lippen, das Beben seiner Nasenflügel, es setzte sich in eine graue Figur, die der Spur einer Spinne glich; wie von Fernschreibern, die ich nicht orten konnte, wurden mir Personen ins Gedächtnis stigmatisiert: Edith am Abend nach dem Schlagballspiel, als ich mit Schrella nach Hause ging; Ediths Gesicht im Park draußen in Blessenfeld, unter mir; als wir im Gras lagen, wurde es naß vom Sommerregen, Tropfen glänzten auf ihrem blonden Haar, rollten an ihren Brauen entlang, ein Kranz silberner Tropfen, den Ediths atmendes Gesicht hob und senkte: der Kranz blieb mir in Erinnerung wie das Skelett eines Meerestieres, auf rostfarbenem Strand gefunden und vervielfältigt zu unzähligen Wölkchen gleichen Ausmaßes, die Linie ihres Mundes, als sie zu mir sagte: ‚Sie werden dich töten.‘ Edith.

Der Verlust der Schulmappe quälte mich im Traum – korrekt war ich immer – , ich riss einem mageren Huhn den grüngrauen Band Ovid aus dem Schnabel; ich feilschte mit der Platzanweiserin im Kino um das Hölderlingedicht, das sie aus meinem Lesebuch gerissen hatte, weil sie es so schön fand: Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest.

Abendessen, von Frau Trischler gebracht: Milch, ein Ei, Brot, ein Apfel; ihre Hände wurden jung, wenn sie meinen zerschundenen Rücken mit Wein wusch, Schmerz flammte auf, wenn sie den Schwamm ausdrückte und der Wein in den Furchen meines Rückens abfloss; sie goss Öl nach, und ich fragte sie: ‚Woher wussten Sie, dass man es so machen kann?‘

‚In der Bibel kannst du nachlesen, wie man es macht‘, sagte sie, ‚und ich hab’s schon mal gemacht, bei deinem Freund Schrella! Alois wird übermorgen kommen, Sonntag fährt er dann von Ruhrort nach Rotterdam! Du brauchst keine Angst zu haben‘, sagte sie, ‚die machen das schon; auf dem Fluss kennt man sich, wie man sich in einer Straße kennt. Noch etwas Milch, Junge?‘

‚Nein, danke.‘

‚Keine Sorge. Montag oder Dienstag bist du in Rotterdam. Was ist denn, was hast du denn?‘

Nichts. Nichts. Immer noch liefen die Suchmeldungen: rote Narbe überm Nasenbein. Vater, Mutter, Edith – ich wollte nicht das Differential der Zärtlichkeiten errechnen, nicht die Litanei der Schmerzen abbeten; heiter war der Fluss, weiße Feriendampfer mit bunten Wimpeln; heiter waren auch die Frachter, rot gestrichen, grün und blau, brachten Kohle und Holz von hier nach dort, von dort nach hier; drüben am Ufer die grüne Allee, schneeweiß die Terrasse vom Cafe Bellevue, dahinter der Turm von Sankt Severin, die scharfe rote Lichtkante am Hotel Prinz Heinrich, nur hundert Schritte von dort bis zum Elternhaus; dort saßen sie gerade beim Abendessen, einer gewaltigen Mahlzeit, über die Vater wie ein Patriarch regierte: Samstag, mit sabbatischer Feierlichkeit begangen; war der rote Wein nicht zu kühl, der weiße kühl genug?

‚Keine Milch mehr, Junge?‘

‚Nein, danke, Frau Trischler, wirklich nicht.‘

Motorisierte Boten rasten durch die Stadt, mit rotumrandeten Zetteln, von Plakatsäule zu Plakatsäule: ‚Hinrichtung!‘ ‚Der Schüler Robert Fähmel…‘; Vater betete beim Abendbrot: Der für uns ist gegeißelt worden, Mutter beschrieb eine demütige Figur vor ihrer Brust, bevor sie sagte: ‚Die Welt ist böse, es gibt so wenig reine Herzen‘, und Ottos Schuhe, noch schlugen sie den Takt Bruder, Bruder auf den Boden, auf die Fliesen, die Straße hinab bis zum Modesttor.

Es war die ‚Stilte‘, die draußen tutete, die hellen Töne rissen den Abendhimmel auf, furchten sich weiß wie Blitze ins dunkle Blau. Ich lag schon auf der Zeltbahn, wie jemand, der auf offener See gestorben ist und dem Meer überliefert werden soll; Alois hielt die Zeltbahn schon hoch, um mich einzuwickeln; weiß in grau eingewebt las ich deutlich: ‚Morrien. Ijmuiden.‘ Frau Trischler beugte sich über mich, weinte, küsste mich, und Alois rollte mich langsam ein, als wäre mein Leichnam ein besonders kostbarer, nahm mich auf den Arm. ‚Söhnchen‘, rief der Alte, ‚Söhnchen, vergiss uns nicht.‘

Abendwind, noch einmal tutete die ‚Stilte‘ freundlich mahnend, in der Hürde blökten die Schafe, der Eismann rief ‚Eis, Eis‘, schwieg dann und spachtelte gewiss Vanilleeis in bröcklige Waffeln. Leicht federte die Planke, über die Alois mich trug, und eine Stimme fragte leise: ‚Ist er das?‘ Und Alois sagte ebenso leise: ‚Das ist er.‘ Murmelte mir zum Abschied zu: ‚Denk daran, Dienstag abend im Hafen von Rotterdam.‘ Andere Arme trugen mich, Treppen hinunter, es roch nach Öl, nach Kohlen, dann nach Holz, fern klang das Tuten, die ‚Stilte‘ bebte, dunkles Dröhnen schwoll an, und ich spürte, dass wir fuhren, rheinabwärts, immer weiter weg von Sankt Severin.“

Der Schatten von Sankt Severin war näher gerückt, füllte schon das linke Fenster des Billardzimmers, streifte das rechte; die Zeit, von der Sonne vor sich hergeschoben, kam wie eine Drohung näher, füllte die große Uhr auf, die sich bald erbrechen und die schrecklichen Schläge von sich geben würde; weiß über grün, rot über grün rollten die Kugeln; Jahre zerschnitten, Jahrzehnte übereinander gehäuft und Sekunden, Sekunden wie Ewigkeiten serviert mit ruhiger Stimme; nur jetzt nicht wieder Cognac holen müssen, dem Kalenderblatt begegnen und der Uhr, nicht der Schafspriesterin und So was dürfte nicht geboren werden; nur noch einmal den Spruch hören Weide meine Lämmer, und von der Frau hören, die im Sommerregen im Gras gelegen hatte; ankernde Schiffe, Frauen, die über Stege schritten, und der Ball, den Robert schlug, Robert, der nie vom Sakrament des Büffels gegessen hatte, stumm weiterspielte, immer neue Figuren mit dem Stock aus zwei Quadratmetern schlug.

„Und du, Hugo“, sagte er leise, „willst du mir heute nichts erzählen?“

„Ich weiß nicht, wie lange es war, aber ich meine, es wäre ewig gewesen: immer, wenn die Schule aus war, schlugen sie mich. Manchmal wartete ich, bis ich sicher wusste, sie waren alle zum Essen gegangen, und die Frau, die die Schule putzte, war schon unten bei dem Flur, wo ich wartete, angekommen und fragte: ‚Was machst du denn noch hier, Junge? Deine Mutter wartet doch sicher auf dich.‘

Aber ich hatte Angst, wartete, bis auch die Putzfrau ging, und ließ mich in die Schule einschließen; es gelang mir nicht immer, denn meistens warf mich die Putzfrau hinaus, bevor sie abschloss, aber wenn es mir gelang, eingeschlossen zu werden, war ich froh; zu essen fand ich in den Pulten und in den Abfalleimern, die die Putzfrau für die Müllabfuhr im Flur bereitgestellt hatte, genug belegte Brote, Äpfel und Kuchenreste. So war ich allein in der Schule, und sie konnten mir nichts tun. Ich duckte mich in die Lehrergarderobe, hinter dem Kellereingang, weil ich Angst hatte, sie könnten zum Fenster hereinschauen und mich entdecken, aber es dauerte lange, bis sie herausbekamen, dass ich mich in der Schule versteckte. Oft hockte ich da stundenlang, wartete, bis es Abend wurde, bis ich ein Fenster öffnen und hinaussteigen konnte. Oft blickte ich lange auf den leeren Schulhof: gibt es etwas Leereres als so einen Schulhof am späten Nachmittag? Das waren herrliche Zeiten, bevor sie herausbekamen, dass ich mich in der Schule einschließen ließ. Ich hockte da, in der Lehrergarderobe oder unterhalb der Fensterbank, und wartete auf etwas, das ich nur dem Namen nach kannte: auf Hass. Ich hätte sie so gern gehasst, aber ich konnte nicht, Herr Doktor. Nur Angst. An manchen Tagen wartete ich auch nur bis drei oder bis vier und dachte, sie wären jetzt alle gegangen, ich hätte schnell über die Straße, an Meids Stall vorüber und um den Kirchhof nach Hause laufen und mich dort einschließen können. Aber sie hatten einander abgelöst, waren abwechselnd zum Essen gegangen – denn aufs Essen verzichten, das konnten sie nicht – , und wenn sie auf mich zurannten, roch ich schon von weitem, was sie gegessen hatten: Kartoffeln mit Sauce, Braten, oder Kraut mit Speck, und während sie mich schlugen, dachte ich: Wozu ist Christus gestorben, was nützt mir denn sein Tod, was nützt es mir, wenn sie jeden Morgen beten, jeden Sonntag kommunizieren und die großen Kruzifixe in ihren Küchen hängen, über den Tischen, von denen sie Kartoffeln mit Sauce, Braten oder Kraut mit Speck essen? Nichts. Was soll das alles, wenn sie mir jeden Tag auflauern und mich verprügeln? Da hatten sie also seit fünfhundert oder sechshundert Jahren – und waren sogar stolz auf das Alter ihrer Kirche —, hatten vielleicht seit tausend Jahren ihre Vorfahren auf dem Friedhof begraben, hatten seit tausend Jahren gebetet und unterm Kruzifix Kartoffeln mit Sauce und Speck mit Kraut gegessen. Wozu? Und wissen Sie, was sie schrien, während sie mich verprügelten? Lamm Gottes. Das war mein Spitzname.“

Rot über grün, weiß über grün, neue Figuren tauchten wie Zeichen auf; rasch verweht, nichts blieb; Musik ohne Melodie, Malerei ohne Bild; nur Vierecke, Rechtecke, Rhomben in vielfacher Zahl; klingende Bälle am schwarzen Rand.

„Und später versuchte ich es anders, verschloss die Tür zu Hause, schob Möbel davor, türmte auf, was ich finden konnte. Kisten, Gerümpel und Matratzen, bis sie die Polizei alarmierten, und die kam, den Schulschwänzer abzuholen; die umstellte das Haus, schrie: ‚Komm raus, du Bengel‘, aber ich kam nicht raus, und sie brachen die Tür auf, schoben die Möbel beiseite, und sie hatten mich, brachten mich in die Schule, auf dass ich weiter geprügelt, weiter in die Gosse gestoßen, weiter Lamm Gottes geschimpft würde; er hatte doch gesagt: weide meine Lämmer, aber sie weideten seine Lämmer nicht, wenn es überhaupt seine Lämmer waren. Alles vergebens, Herr Doktor, umsonst weht der Wind, umsonst fällt der Schnee, umsonst blühen die Bäume und fallen die Blätter – sie essen Kartoffeln mit Sauce oder Speck mit Kraut.

Manchmal war sogar meine Mutter zu Hause, betrunken und schmutzig, roch nach Tod, dunstete Verwesung aus und schrie: wozuwozuwozu, schrie es öfter als alle Erbarme dich unser[28 - Worte aus dem Ordinariumstext, feststehendem Messtext der römisch-katholischen Kirche.] in allen Litaneien; es machte mich wahnsinnig, wenn sie so stundenlang wozuwozuwozu schrie, und ich lief weg, ein nasses Gotteslamm, lief durch den Regen, hungrig, Lehm klebte mir an den Schuhen, am Körper, ganz eingepackt in nassen Lehm war ich, hockte da auf ihren Rübenfeldern, aber ich lag lieber in lehmigen Furchen, ließ den Regen auf mich regnen, als dieses schreckliche Wozu zu hören, und irgendwer erbarmte sich meiner, irgendwann, brachte mich nach Hause, in die Schule zurück, heim in dieses Nest, das Denklingen hieß, und sie schlugen mich wieder, riefen mich Lamm Gottes, und meine Mutter betete ihre endlose, schreckliche Litanei: Wozu?, und ich lief wieder weg, und wieder erbarmten sie sich meiner, und diesmal brachten sie mich in die Fürsorge. Dort kannte mich niemand, keins von den Kindern, keiner von den Erwachsenen, aber ich war noch nicht zwei Tage in der Fürsorge, nannten sie mich auch dort Lamm Gottes, und ich bekam Angst, obwohl sie mich nicht schlugen: sie lachten nur über mich, weil ich so viele Worte nicht kannte; das Wort Frühstück; ich kannte nur: essen, irgendwann, wenn etwas da war oder ich etwas fand; aber als ich auf der Tafel las: Frühstück 30 Gramm Butter, 200 Gramm Brot, 50 Gramm Marmelade, Milchkaffee, fragte ich einen: ‚Was ist das, Frühstück?‘ Und sie umringten mich alle, auch die Erwachsenen kamen, sie lachten und fragten: ‚Frühstück, weißt du nicht, was das ist, hast du denn noch nie gefrühstückt?‘ ‚Nein‘, sagte ich. ‚Und in der Bibel‘, sagte der eine Erwachsene, ‚hast du da nie das Wort Frühstück gelesen?‘, und der andere Erwachsene fragte den einen: ‚Sind Sie so sicher, dass in der Bibel das Wort Frühstück überhaupt vorkommt?‘ ‚Nein‘, sagte der eine, ‚aber irgendwo, in irgendeinem Lesestück oder zu Hause, muss er doch das Wort Frühstück einmal gehört haben, er ist doch bald dreizehn, das ist schlimmer als bei Wilden; jetzt kann man sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Sprachzerfalls machen. ‘ Und ich wusste nicht, dass Krieg gewesen war, vor kurzer Zeit, und sie fragten mich, ob ich denn nie auf einem Friedhof gewesen sei, wo auf den Grabsteinen stand: ‚Gefallen‘, und ich sagte, doch, das hätte ich gesehen, und was ich mir denn unter ‚gefallen‘ vorgestellt hätte, und ich sagte, ich hätte mir vorgestellt, die dort beerdigt seien, wären tot umgefallen; da lachten sie noch mehr als bei dem Frühstück, und sie gaben uns Geschichtsunterricht, vom Anfang der Zeiten an, aber bald war ich vierzehn, Herr Doktor, und der Hoteldirektor kam ins Heim, und wir vierzehnjährigen Jungen mussten uns auf dem Flur vor dem Zimmer des Rektors aufstellen, und der Rektor kam mit dem Hoteldirektor. Und sie gingen an uns vorbei, blickten uns in die Augen und sagten beide, sagten wie aus einem Munde: ‚Dienen, wir suchen Jungen, die dienen können‘, aber sie suchten nur mich heraus. Ich musste sofort meine Sachen in einen Karton packen und fuhr mit dem Hoteldirektor hierher, und er sagte im Auto zu mir: ‚Hoffentlich erfährst du nie, wieviel dein Gesicht wert ist. Du bist ja das reinste Lamm Gottes‘, und ich hatte Angst, Herr Doktor, habe sie immer noch und warte immer darauf, dass sie mich schlagen.“

„Schlagen sie dich?“

„Nein, nie. Nur möcht ich so gern wissen, was der Krieg war, ich musste ja aus der Schule weg, bevor sie es mir erklären konnten. Kennen Sie den Krieg?“

„Ja.“

„Haben Sie ihn mitgemacht?“

„Ja.“

„Was haben Sie getan?“

„Ich war Spezialist für Sprengungen, Hugo. Kannst du dir darunter etwas vorstellen?“

„Ja, ich habe gesehen, wie sie im Steinbruch hinter Denklingen sprengten.“

„Genau das hab ich gemacht, Hugo, nur habe ich nicht Felsen gesprengt, sondern Häuser und Kirchen. Das hab ich noch nie jemandem erzählt, außer meiner Frau, aber die ist schon lange tot, und so weiß es niemand außer dir, nicht einmal meine Eltern und meine Kinder wissen es. Du weißt, dass ich Architekt bin und eigentlich Häuser bauen sollte, aber ich hab nie welche gebaut, immer nur welche gesprengt, und auch die Kirchen, die ich als Junge auf zartes Zeichenpapier zeichnete, weil ich davon träumte, sie zu bauen; die hab ich nie gebaut. Als ich zur Armee kam, fanden sie in meinen Papieren einen Hinweis, dass ich eine Doktorarbeit über ein statisches Problem geschrieben hatte. Statik, Hugo, das ist die Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte, die Lehre vom Spannungs- und Verschiebungszustand von Tragwerken; ohne Statik kannst du nicht einmal eine Negerhütte bauen, und das Gegenteil von Statik ist die Dynamik, das klingt nach Dynamit, wie man es beim Sprengen braucht, und hängt auch mit Dynamit zusammen. Den ganzen Krieg über hatte ich nur mit Dynamit zu tun. Ich verstand was von Statik, Hugo, verstand auch was von Dynamik, verstand eine ganze Menge von Dynamit, hab alle Bücher verschlungen, die es darüber gab. Man muss, wenn man sprengen will, nur wissen, wo man die Ladung anbringt und wie stark sie sein muss. Das konnte ich, Junge, und ich sprengte also, ich sprengte Brücken und Wohnblocks, Kirchen und Bahnüberführungen, Villen und Straßenkreuzungen, ich bekam Orden dafür und wurde befördert: vom Leutnant zum Oberleutnant, vom Oberleutnant zum Hauptmann, und ich bekam Sonderurlaub und Belobigungen, weil ich so gut wusste, wie man sprengen muss. Und am Schluss des Krieges war ich einem General unterstellt, der hatte nur ein Wort im Kopf: Schussfeld. Weißt du, was Schussfeld ist? Nein?“

Fähmel hob den Billardstock wie ein Schießgewehr an die Schulter, zielte mit der Spitze nach draußen, auf den Turm von Sankt Severin.

„Siehst du“, sagte er, „wenn ich jetzt auf die Brücke schießen wollte, die hinter Sankt Severin liegt, würde die Kirche im Schussfeld liegen, also müsste Sankt Severin gesprengt werden, ganz rasch, sofort und schnell, damit ich auf die Brücke schießen könnte, und ich sag dir, Hugo, ich hätte Sankt Severin in die Luft gesprengt, obwohl ich wusste, dass mein General verrückt war, und obwohl ich wusste, dass Schussfeld ein leerer Wahn ist, denn von oben, verstehst du, brauchst du kein Schussfeld, und schließlich konnte es auch dem einfältigsten aller Generale nicht verborgen bleiben, dass inzwischen die Flugzeuge erfunden worden waren, aber meiner war verrückt und hatte seine Lektion gelernt: Schussfeld, und ich besorgte es ihm; ich hatte eine gute Mannschaft beisammen: Physiker und Architekten, und wir sprengten, was uns in den Weg kam; das letzte war was Großes, was Gewaltiges, ein ganzer Komplex riesiger, sehr solider Gebäude: eine Kirche, Stallungen, Mönchszellen, ein Verwaltungsgebäude, ein Bauernhof, eine ganze Abtei, Hugo – die lag genau zwischen zwei Armeen, einer deutschen und einer amerikanischen —, und ich besorgte der deutschen Armee ihr Schussfeld, das sie gar nicht brauchte; da knieten sich Mauern vor mir nieder, auf den Höfen brüllte das Vieh in den Ställen, und die Mönche verfluchten mich, aber ich war nicht aufzuhalten, die ganze Abtei Sankt Anton im Kissatal sprengte ich, drei Tage vor Kriegsschluss. Korrekt, Junge, immer korrekt, wie du mich kennst.“

Er senkte den Stock, den er immer noch auf sein imaginäres Ziel gerichtet hielt, legte ihn wieder in die Fingerbeuge, stieß die Billardkugel an; weiß rollte sie über grün, schlug in wildem Zickzack vom schwarzen Rand zum schwarzen Rand. Dumpf erbrachen die Glocken von Sankt Severin die Zeit, aber wann, wann schlug es elf?

„Sieh doch mal nach, Junge, was der Lärm an der Tür bedeutet.“

Noch einmal stieß er zu: rot über grün, ließ die Kugeln auslaufen, legte den Stock hin.

„Der Herr Direktor bittet Sie, einen Herrn Dr. Nettlinger zu empfangen.“

„Würdest du einen empfangen, der Nettlinger heißt?“

„Nein.“

„Zeig mir, wie ich hier herauskomme, ohne durch diese Tür zu müssen.“

„Sie können durch den Speisesaal gehen, Herr Doktor, dann kommen Sie in der Modestgasse heraus.“

„Auf Wiedersehen, Hugo, bis morgen.“

„Auf Wiedersehen, Herr Doktor.“

Kellnerballett, Boyballett: sie deckten die Tische zum Mittagessen, schoben in genau vorgeschriebener Ordnung Teewagen von Tisch zu Tisch, legten Silber auf, wechselten die Blumenvasen aus; statt der weißen Nelken in schlanken Vasen demütige Veilchen in runden Vasen; nahmen Marmeladegläser vom Tisch, stellten Weingläser, runde für roten, schlanke für weißen, auf die Tische; nur eine einzige Ausnahme; Milch für die Schafpriesterin, sie sah in der Kristallkaraffe grau aus.