Эмиль и сыщики Книга для чтения на немецком языке
От составителей
Предлагаемый вашему вниманию роман Эриха Кестнера «Эмиль и сыщики» – одно из самых популярных его произведений для детей и о детях. Центральными персонажами книги являются подростки, которые, столкнувшись лицом к лицу с проблемами и противоречиями жизни, учатся их преодолевать.
Роман адаптирован с учетом уровня знаний немецкого языка школьников и разделен на три части, к каждой из которых составлены упражнения на отработку лексических и грамматических трудностей. Сложные обороты речи даны в сносках, в конце книги приводится словарь.
Книга может быть использована на ранней стадии обучения немецкому языку как в школах и гимназиях, так и в университетах, и на курсах немецкого языка.
Erich KästnerErich Kästner (1899–1974) gehört wohl zu den bekanntesten Schriftstellern Deutschlands. Allgemein bekannt ist er als Verfasser von Romanen „für Kinder von 9-90 und darüber“, und das ist schade. In erster Linie ist er nämlich Moralist und Satiriker. Ganz besonders tritt dies in seinen Gedichten hervor, in denen er, oftmals in ungemein scharfer Form, aber nicht ohne Humor, all das bloß stellt, was Unrecht ist. Zwar hat er gesehen, wie wenig ein Verfasser mit solchen Mitteln erreichen kann. Denn: „Immer wieder kommen Staatsmänner mit großen Farbtöpfen des Wegs und erklären, sie seien die neuen Baumeister. Und immer wieder sind es nur die Anstreicher. Die Farben wechseln, und die Dummheit bleibt!“, schrieb er einmal. Und dennoch führte er seinen Kampf weiter gegen alles Unechte, gegen den Militarismus, gegen die Bürokratie.
Werke:Gedichtsammlungen: Herz auf Taille (1927); Gesang zwischen den Stühlen (1932); Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke (1936).
Prosa: Emil und die Detektive (1928); Pünktchen und Anton (1931); Fabian (1931); Das fliegende Klassenzimmer (1933); Drei Männer im Schnee (1934); Die verschwundene Miniatur (1935); Der kleine Grenzverkehr (1949); Die Konferenz der Tiere (1949); Das doppelte Lottchen (1949); Als ich ein kleiner Junge war (1957); Notabene 45 (1961).
Teil I
Emil hilft Köpfe waschen„So“, sagte Frau Tischbein, „und nun bringe mir mal den Krug mit dem warmen Wasser nach!“ Sie selber nahm die kleine blaue Flasche mit der flüssigen Seife und spazierte aus der Küche in die Stube. Emil nahm seinen Krug und lief hinter der Mutter her.
In der Stube saß eine Frau und hielt den Kopf über das weiße Waschbecken. Ihre Frisur war aufgebunden und hing wie drei Pfund Wolle nach unten. Emils Mutter goss die Kamillenseife in das blonde Haar und begann, den fremden Kopf zu waschen.
„Ist es nicht zu heiß?“, fragte sie.
„Nein, es geht“, antwortete der Kopf.
„Ach, das ist ja Frau Bäckermeister Wirth! Guten Tag!“, sagte Emil.
„Du hast’s gut, Emil. Du fährst nach Berlin, wie ich höre“, meinte der Kopf.
„Erst hatte er keine rechte Lust“, sagte die Mutter. „Aber wozu soll der Junge in den Ferien hier bleiben? Er kennt Berlin überhaupt noch nicht. Und meine Schwester Martha hat uns schon immer mal einladen wollen. Ihr Mann verdient ganz gut. Er ist bei der Post. Ich kann nicht mitfahren. Vor den Feiertagen gibt’s viel zu tun. Na, er ist ja groß genug. Außerdem holt ihn meine Mutter am Bahnhof Friedrichstraße ab. Sie treffen sich am Blumenkiosk“.
„Berlin wird ihm sicher gefallen. Das ist was für Kinder. Da gibt es doch wirklich Straßen, die nachts genau so hell sind wie am Tage. Und die Autos!“
„Viele ausländische Wagen?“, fragte Emil.
„Woher soll ich denn das wissen?“, sagte Frau Wirth und musste niesen. Ihr war Seifenschaum in die Nase gekommen.
„Na, nun mach aber, dass du fertig wirst“, sagte die Mutter. „Deinen guten Anzug hab ich ins Schlafzimmer gelegt. Zieh ihn an, damit wir dann sofort essen können, wenn ich Frau Wirth frisiert habe.“
„Was für’n Hemd?“, erkundigte sich Emil.
„Liegt alles auf dem Bett. Und zieh die Strümpfe vorsichtig an. Und wasch dich erst. Und zieh dir neue Schnürsenkel in die Schuhe. Dalli, dalli!“
„Puh“, bemerkte Emil und verschwand.
Als Frau Wirth gegangen war, trat die Mutter ins Schlafzimmer und sah, wie Emil unglücklich herumlief.
„Kannst du mir nicht sagen, wer die guten Anzüge erfunden hat?“
„Nein, tut mir leid1. Aber warum willst du’s wissen?“
„Gib mir die Adresse, und ich erschieße den Kerl.“
„Ach, hast du’s schwer! Andere Kinder sind traurig, weil sie keinen guten Anzug haben. So hat jeder seine Sorgen … Ehe ich’s vergesse: heute abend hängst du den Anzug ordentlich auf. Vorher wird er aber saubergemacht. Vergiss es nicht! Und morgen kannst du schon wieder deinen Pullover anziehen. Sonst noch was? Der Koffer ist gepackt. Die Blumen für die Tante sind in Papier eingewickelt. Das Geld für Großmutter gebe ich dir nachher, und nun wollen wir essen. Kommen Sie, junger Mann!“ Frau Tischbein legte den Arm um seine Schulter und transportierte ihn nach der Küche. Es gab Makkaroni mit Schinken. Emil futterte wie ein Scheunendrescher. Nur manchmal blickte er zur Mutter hinüber.
„Und schreib sofort eine Karte. Ich habe sie dir in den Koffer gelegt, gleich obenauf.“
„Wird gemacht“, sagte Emil.
„Grüß sie alle schön von mir. Und pass gut auf. In Berlin geht es anders zu als bei uns in Neustadt. Und benimm dich anständig.“
„Aber ja“, sagte Emil.
Nach dem Essen gingen beide in die Stube. Die Mutter holte einen Blechkasten aus dem Schrank und zählte Geld. Dann schüttelte sie den Kopf und zählte noch einmal. Dann fragte sie: „Wer war eigentlich gestern nachmittag da, hm?“
„Fräulein Thomas“, sagte er, „und Frau Homburg.“
„Ja. Aber es stimmt noch nicht.“ Sie dachte nach, rechnete und meinte schließlich: „Es fehlen acht Mark.“
„Der Gasmann war heute früh hier.“
„Richtig, nun stimmt es leider.“ Die Mutter holte drei Scheine aus dem Blechkasten. „So, Emil! Hier sind hundertvierzig Mark. Ein Hundertmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine. Hundertzwanzig Mark gibst du der Großmutter und sagst ihr, sie solle nicht böse sein, dass ich voriges Mal nichts geschickt hätte2. Und gib ihr einen Kuss. Verstanden? Die zwanzig Mark, die übrig bleiben, behältst du. Davon kaufst du dir die Fahrkarte, wenn du wieder heimfährst. Das macht ungefähr zehn Mark. Genau weiß ich’s nicht. Und von dem Rest bezahlst du, was du isst und trinkst, wenn ihr ausgeht. Außerdem ist es immer gut, wenn man ein paar Mark in der Tasche hat. Ja. Und hier ist ein Kuvert. Da stecke ich das Geld hinein. Pass mir ja gut auf, dass du es nicht verlierst; wo willst du es hintun?“
Sie legte die drei Scheine in den Briefumschlag und gab ihn Emil.
Der schob ihn in die rechte innere Tasche, tief hinunter und sagte überzeugt: „So, da klettert er nicht heraus.“
„Und erzähle keinem Menschen im Kupee, dass du so viel Geld bei dir hast!“
„Aber Muttchen!“ Dann trug sie den Blechkasten wieder zum Schrank.
Manche von euch werden sicher der Ansicht sein, man brauche sich wegen hundertvierzig Mark wahrhaftig nicht so gründlich zu unterhalten wie Frau Tischbein mit ihrem Jungen. Aber falls ihr es nicht wissen solltet: für sehr viele Menschen sind hundert Mark fast so viel wie eine Million.
Emil hatte keinen Vater mehr. Doch seine Mutter hatte zu tun, frisierte in ihrer Stube, wusch blonde Köpfe und braune Köpfe und arbeitete, damit sie zu essen hatten3 und die Gasrechnung, die Kohlen, die Miete, die Kleidung, die Bücher und das Schulgeld bezahlen konnten. Nur manchmal war sie krank und lag zu Bett. Der Doktor kam und verschrieb Medikamente. Und Emil kochte in der Küche für sie und sich. Und wenn sie schlief, wischte er sogar die Fußböden, damit sie nicht sagen sollte: „Ich muss aufstehen. Die Wohnung verkommt ganz und gar.“
Könnt ihr es begreifen, und werdet ihr nicht lachen, wenn ich euch jetzt erzähle, dass Emil ein Musterknabe war? Seht, er hatte seine Mutter sehr lieb. Sie arbeitete, rechnete und arbeitete, und da wollte er nicht faul sein.
Emil war ein Musterknabe4, aber keiner von der Sorte, die feig sind und nicht richtig jung. Er war ein Musterknabe, weil er es sein wollte. Er hatte sich dazu entschlossen, und oft fiel es ihm recht schwer.
Wenn er aber zu Ostern nach Hause kam und sagen konnte: „Mutter, ich bin wieder der Beste!“, dann war er sehr zufrieden. Er liebte das Lob, das er in der Schule und überall erhielt, weil es seiner Mutter Freude machte. Er war stolz darauf, dass er ihr ein bisschen zurückzahlen konnte, was sie für ihn, ohne müde zu werden, tat…
„Hoppla“, rief die Mutter, „wir müssen zum Bahnhof. Es ist schon Viertel nach eins. Und der Zug geht kurz vor zwei Uhr.“
„Also los, Frau Tischbein!“, sagte Emil zu seiner Mutter, „aber, dass Sie es nur wissen, den Koffer trage ich selber!“
Vor dem Hause sagte die Mutter: „Falls die Pferdebahn kommt, fahren wir bis zum Bahnhof.“
Wer von euch weiß, wie eine Pferdebahn aussieht? Aber da sie gerade um die Ecke biegt und hält, weil Emil winkt, will ich sie euch rasch beschreiben.
Also, die Pferdebahn läuft auf Schienen, wie eine richtige Straßenbahn und hat auch ähnliche Wagen, aber es ist eben doch nur ein Pferd davor. Emil und seine Freunde fantasierten von elektrischen Bahnen, aber der Magistrat von Neustadt fand die Pferdebahn gut genug. Bis jetzt konnte also von Elektrizität gar keine Rede sein, und der Wagenführer hielt also in der linken Hand die Zügel und in der rechten die Peitsche. Hü, hott!
Und wenn jemand in der Rathausstraße 12 wohnte, und er saß in der Pferdebahn und wollte aussteigen, so klopfte er ganz einfach an die Fensterscheibe. Dann machte der Herr Schaffner „Brr!“, und der Fahrgast war zu Hause. Die richtige Haltestelle war vielleicht erst vor der Hausnummer 30 oder 46. Aber das war der Neustädter Straßenbahn ganz egal. Sie hatte Zeit. Das Pferd hatte Zeit. Der Schaffner hatte Zeit. Die Neustädter hatten Zeit. Und wenn es wirklich einmal jemand besonders eilig hatte, ging er zu Fuß …
Auf dem Bahnhofsplatz stiegen Frau Tischbein und Sohn aus.
Dann kaufte die Mutter am Schalter die Fahrkarte und eine Bahnsteigkarte. Und dann gingen sie auf den Bahnsteig I – bitte sehr, Neustadt hat vier Bahnsteige – und warte-ten auf den Zug nach Berlin. Es fehlten nur noch ein paar Minuten.
„Lass nichts liegen, mein Junge! Und setz dich nicht auf die Blumen! Du kommst um 18.17 Uhr in Berlin an. Am Bahnhof Friedrichstraße. Steige ja nicht vorher aus, etwa am Bahnhof Zoo!“
„Nur keine Bange, junge Frau.“
„Und sei zu den anderen Leuten nicht so frech wie zu deiner Mutter. Und wirf das Papier nicht auf den Fußboden, wenn du deine Wurstbrote isst. Und – verliere das Geld nicht!“
Emil fasste sich entsetzt an die Jacke und in die rechte Brusttasche5 und meinte dann erleichtert: „Alles in Ordnung.“
Er fasste die Mutter am Arm und spazierte mit ihr auf dem Bahnsteig hin und her.
„Und arbeite nicht zu viel, Muttchen! Und werde ja nicht krank. Und schreib mir auch einmal. Und ich bleibe höchstens eine Woche, dass du’s weißt.“ Er drückte die Mutter fest an sich. Und sie gab ihm einen Kuss auf die Nase.
Dann kam der Personenzug nach Berlin. Emil fiel der Mutter noch ein bisschen um den Hals6. Dann kletterte er mit seinem Koffer in ein Abteil. Die Mutter reichte ihm die Blumen und die Wurstbrote nach und fragte, ob er Platz hätte. Er nickte.
„Also, Friedrichstraße aussteigen!“
Er nickte.
„Und die Großmutter wartet am Blumenkiosk.“
Er nickte.
„Und benimm dich, du Schurke!“
Er nickte.
„Und sei nett zu Pony Hütchen7. Ihr werdet euch gar nicht mehr kennen.“
Er nickte.
„Und schreib mir.“
„Du mir auch.“
So wäre es wahrscheinlich noch stundenlang fortgegangen, wenn es nicht den Eisenbahnfahrplan gegeben hätte8. Der Zugführer rief: „Alles einsteigen! Alles einsteigen!9“ Die Wagentüren klappten zu. Die Lokomotive ruckte an. Und fort ging’s.
Die Mutter winkte noch lange mit dem Taschentuch. Dann drehte sie sich langsam um und ging nach Hause. Und weil sie das Taschentuch sowieso schon in der Hand hielt, weinte sie noch ein bisschen.
Aber nicht lange. Denn zu Hause wartete schon Frau Fleischermeister Augustin und wollte gründlich den Kopf gewaschen haben.
Beantworten Sie die Fragen!1. Wie heißt der Hauptheld mit dem Vornamen und Familiennamen?
2. Aus wieviel Personen besteht die Familie?
3. Ist die Familie reich?
4. Wer verdient Geld?
5. Was ist Emils Mutter?
6. Wie stehen die Mutter und der Sohn zueinander?
7. Warum war Emil ein Musterknabe?
8. Wie heißt die Stadt, in der Emil lebte?
9. Wohin und wozu musste Emil fahren?
10. War er schon in der Hauptstadt Deutschlands?
11. Wer lebte dort?
12. Welche Aufgabe hat Emil erhalten?
13. Was hat Emil in den Briefumschlag gelegt?
14. Wieviel Geldscheine waren drin?
15. Was hatte Emil an und wie fühlte er sich dabei?
16. Für wie lange sollte er fahren?
17. Welche Ratschläge hat die Mutter ihm gegeben?
18. Womit hat Emil seiner Mutter Freude gemacht?
19. Wie hat Emil der Mutter geholfen?
20. Beschreiben sie die Stadt, in der Emil lebte!
21. Hat man auf ihn in Berlin gewartet?
Die Reise nach Berlin kann losgehenEmil nahm seine Schülermütze ab und sagte: „Guten Tag, meine Herrschaften!10 Ist vielleicht noch ein Plätzchen frei?“
Natürlich war noch ein Platz frei. Und eine dicke Dame, die sich den linken Schuh ausgezogen hatte, weil er drückte, sagte zu ihrem Nachbarn, einem Mann: „Solche höflichen Kinder sind heutzutage selten. Wenn ich da an meine Jugend zurückdenke. Gott! Da herrschte ein anderer Ton.11“
Dass es Leute gibt, die immer sagen: Gott, früher war alles besser, das wusste Emil längst. Und er hörte überhaupt nicht mehr hin, wenn jemand erklärte, früher sei die Luft gesünder gewesen, oder die Kühe hätten größere Köpfe gehabt, denn das war meistens nicht wahr, und die Leute gehörten bloß zu der Sorte, die nicht zufrieden sein wollen, weil sie sonst zufrieden wären.
Er befühlte seine rechte Jackentasche und war erst beruhigt, als er das Kuvert knistern hörte. Die Mitreisenden sahen auch nicht gerade wie Diebe und Mörder aus. Neben dem Mann und der dicken Frau saß eine andere Frau. Und am Fenster, neben Emil, las ein Herr im steifen Hut12 die Zeitung.
Plötzlich legte er die Zeitung weg, holte aus seiner Tasche ein Stück Schokolade und sagte: „Na, junger Mann, wie wär’s?“
„Gerne“, antwortete Emil und nahm die Schokolade. Dann nahm er schnell seine Mütze ab und sagte: „Emil Tischbein ist mein Name.“ Die Mitreisenden lächelten. Der Herr nahm nun auch ernst den steifen Hut ab und sagte: „Sehr angenehm, ich heiße Grundeis.“
Dann fragte die dicke Dame, die den linken Schuh ausgezogen hatte: „Lebt denn in Neustadt der Herr Kurzhals noch?“
„Ja, freilich lebt Herr Kurzhals noch“, sagte Emil, „kennen Sie ihn?“
„Ja, grüß ihn schön von Frau Jakob aus Großgrünau.“
„Ich fahre doch aber nach Berlin.“
„Das hat ja auch Zeit, bis du zurückkommst“, sagte Frau Jakob.
„So, so, nach Berlin fährst du?“, fragte Herr Grundeis.
„Jawohl, und meine Großmutter wartet am Bahnhof Friedrichstraße am Blumenkiosk“, antwortete Emil und fasste sich wieder ans Jackett. Und das Kuvert knisterte, Gott sei Dank, noch immer.
„Kennst du Berlin schon?“
„Nein.“
„Na, da wirst du aber staunen! In Berlin gibt es jetzt Häuser, die sind hundert Stockwerke hoch, und die Dächer hat man am Himmel festbinden müssen, damit sie nicht wegfliegen … Und wenn es jemand besonders eilig hat und er will in ein anderes Stadtviertel, so packt man ihn auf dem Postamt in eine Kiste und schießt sie wie einen Rohrpostbrief zu dem Postamt, das in dem Viertel liegt, wo er hin möchte… Und wenn man kein Geld hat, geht man auf die Bank und lässt sein Gehirn als Pfand dort13 und kriegt dafür tausend Mark. Der Mensch kann nämlich nur zwei Tage ohne Gehirn leben; und er kriegt es von der Bank erst wieder, wenn er zwölfhundert Mark zurückzahlt…“
„Sie haben wohl Ihr Gehirn auch gerade auf der Bank“, sagte der Mann neben der Frau Jakob zu dem Herrn im steifen Hut und fügte hinzu: „Lassen Sie doch den Unsinn!“14
Emil lachte gezwungen. Und die beiden Herren redeten eine Zeit lang recht unhöflich miteinander. Emil dachte: Was geht das mich an! und packte seine Wurstbrote aus, obwohl er eben erst Mittag gegessen hatte. Wenig später hielt der Zug auf einem großen Bahnhof. Emil sah kein Stationsschild, und er verstand auch nicht, was der vor dem Fenster rief. Fast alle Fahrgäste stiegen aus, nur der Mann im steifen Hut blieb.
„Also grüße Herrn Kurzhals schön“, sagte Frau Jakob noch. Emil nickte.
Und dann waren er und der Herr mit dem steifen Hut allein. Das gefiel Emil nicht sehr. Ein Mann, der Schokolade verteilt und verrückte Geschichten erzählt, ist nichts Genaues. Emil wollte wieder nach dem Kuvert fassen. Er wagte es aber nicht, sondern ging, als der Zug weiterfuhr, auf die Toilette, holte dort das Kuvert aus der Tasche, zählte das Geld – es stimmte immer noch – und war ratlos, was er machen sollte. Endlich kam ihm ein Gedanke. Er nahm eine Nadel, die er im Jackett fand, steckte sie erst durch die drei Scheine, dann durch das Kuvert und schließlich durch das Anzugfutter. So, dachte er, nun kann nichts passieren. Und dann ging er wieder ins Kupee.
Herr Grundeis hatte es sich in einer Ecke gemütlich gemacht und schlief. Emil war froh, dass er sich nicht zu unterhalten brauchte, und blickte durchs Fenster. Bäume, Windmühlen, Felder, Fabriken, Kühe, winkende Bauern zogen draußen vorbei. Und es war sehr hübsch anzusehen, wie sich alles vorüberdrehte, fast wie auf einer Grammofonplatte. Aber schließlich kann man nicht stundenlang durchs Fenster starren.
Herr Grundeis schlief weiter und schnarchte ein bisschen. Emil war in der anderen Ecke des Kupees und betrachtete den Schläfer. Warum der Mann nur immer den Hut aufbehielt? Und ein langes Gesicht hatte er, einen ganz dünnen schwarzen Schnurrbart und hundert Falten um den Mund, und die Ohren waren sehr dünn und standen weit ab.
Wupp! Emil erschrak. Beinahe wäre er eingeschlafen15. Das durfte er ja nicht. Wenn doch jemand zugestiegen wäre!16 Der Zug hielt ein paar Mal, aber es kam kein Mensch. Dabei war es erst vier Uhr, und Emil hatte noch über zwei Stunden zu fahren. Er kniff sich in die Beine.17 In der Schule half das immer in Herrn Bremsers Geschichtsstunden.
Eine Weile ging’s. Und Emil dachte an Pony Hütchen. Aber er konnte sich gar nicht mehr ihr Gesicht vorstellen. Er wusste nur, dass sie – als sie und die Großmutter und Tante Martha in Neustadt gewesen waren – mit ihm hatte boxen wollen. Er hatte natürlich nein gesagt, weil sie Papiergewicht war und er mindestens Halbschwergewicht. Das wäre unfair, hatte er damals gesagt. Und wenn er ihr einen Uppercut ge-ben würde, müsse man sie hinterher von der Wand abkratzen. Sie hatte aber erst Ruhe gegeben, als Tante Martha da. zwischenkam.
Schwupp! Er fiel fast von der Bank. Schon wieder eingeschlafen? Er kniff und kniff sich in die Beine. Und trotzdem wollte es nichts nützen.
Er versuchte es mit Knopfzählen. Er zählte von oben nach unten und dann noch einmal von unten nach oben.
Von oben nach unten waren es dreiundzwanzig Knöpfe. Und von unten nach oben vierundzwanzig. Emil lehnte sich zurück und überlegte, woran das wohl liegen könnte.
Und dabei schlief er ein.
Beantworten Sie die Fragen!1. War Emil ein höflicher Mensch? Beweisen sie das!
2. Was für Nachbarn hatte Emil bei seiner Reise?
3. Schienen die Mitreisenden ihm verdächtig?
4. Wer hat ihn mit Schokolade bewirtet?
5. Wie hat sich Emil gefühlt?
6. Hat sich Emil mit Fahrgästen bekannt gemacht?
7. Welchen Auftrag hat Frau Jakob Emil gegeben?
8. Auf welchen Gedanken ist Emil gekommen?
9. Was hat er mit dem Briefumschlag gemacht?
10. Was hat Herr Grundeis gemacht?
11. Beschreiben Sie sein Äußeres!
12. Wodurch ist Herr Grundeis Emil aufgefallen?
13. Wovon hat Emil geträumt?
Emil steigt an der falschen Station ausAls er aufwachte, setzte sich die Bahn eben wieder in Bewegung. Er war, während er schlief, von der Bank gefallen, lag jetzt am Boden und war sehr erschrocken. Er wusste noch nicht recht, warum. Sein Herz klopfte wie ein Dampfhammer. Da saß er nun in der Eisenbahn und hatte fast verges. sen, wo er war. Dann fiel es ihm nach und nach wieder ein. Richtig, er fuhr nach Berlin. Und war eingeschlafen. Genau wie der Herr im steifen Hut…
Emil fuhr hoch und flüsterte: „Er ist ja fort!“ Die Knie zitterten ihm. Ganz langsam stand er auf und klopfte sich mechanisch den Anzug sauber. Jetzt war die nächste Frage: Ist das Geld noch da? Und vor dieser Frage hatte er eine große Angst.18
Lange Zeit wagte er nicht, sich zu rühren. Dort drüben hatte der Mann, der Grundeis hieß, gesessen und geschlafen und geschnarcht. Und nun war er fort. Natürlich konnte alles in Ordnung sein. Denn eigentlich war es dumm, gleich ans Schlimmste zu denken. Es mussten ja nun nicht gleich alle Menschen nach Berlin-Friedrichstraße fahren, nur weil er hinfuhr. Und das Geld war gewiss noch da. Erstens steckte es in der Tasche. Zweitens steckte es im Briefumschlag. Und drittens saß es mit einer Nadel am Futter fest. Also, er griff sich langsam in die rechte innere Tasche.
Die Tasche war leer! Das Geld war fort!
Emil fuhr mit der linken Hand in der Tasche herum. Er befühlte und drückte die Jacke von außen mit der Rechten. Es blieb dabei: Die Tasche war leer, und das Geld war weg.
„Au!“, Emil zog die Hand aus der Tasche. Und nicht bloß die Hand, sondern auch die Nadel. Nichts als die Nadel war übrig geblieben!19 Und sie saß im linken Zeigefinger, dass er blutete.
Er wickelte das Taschentuch um den Zeigefinger und weinte. Natürlich nicht wegen des bisschen Bluts. Er weinte wegen des Geldes. Und er weinte wegen seiner Mutter. Wer das nicht versteht, dem ist nicht zu helfen. Emil wusste, wie seine Mutter monatelang gearbeitet hatte, um die hundertvierzig Mark für die Großmutter zu sparen und um ihn nach Berlin schicken zu können. Und kaum saß der Herr Sohn im Zug, so schlief er auch schon in einer Ecke ein und ließ sich von einem gemeinen Kerl das Geld stehlen. Und da sollte er nicht weinen?20 Was sollte er nun anfangen? In Berlin aussteigen und zur Großmutter sagen: Da bin ich. Aber Geld kriegst du keins, dass du es weißt. Gib mir lieber schnell das Reisegeld, damit ich wieder nach Neustadt fahren kann. Sonst muss ich laufen?
Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kindern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und dann stahl er ihr Geld. Pfui, war das eine feine Welt!
Emil presste die Tränen zurück und sah sich um. Wenn er die Notbremse zöge, würde der Zug sofort stehen bleiben. Und dann käme ein Schaffner. Und noch einer. Und immer noch einer. Und alle würden fragen: „Was ist los?“
„Mein Geld ist gestohlen worden“, würde er sagen.
„Ein anderes Mal passt du besser auf“, würden sie antworten. „Wie heißt du? Wo wohnst du? Einmal die Notbremse ziehen kostet hundert Mark. Die Rechnung wird geschickt.“
In Schnellzügen konnte man wenigstens durch die Wagen laufen bis zum Dienstabteil und Diebstähle melden. Aber hier! In so einem Bummelzug! Da musste man bis zur nächsten Station warten, und inzwischen war der Mensch im steifen Hut über alle Berge21. Nicht einmal die Station, wo der Kerl ausgestiegen war, wusste Emil. Wie spät mochte es sein? Wann kam Berlin?22 An den Fenstern des Zuges wanderten große Häuser vorbei und Villen mit Gärten und dann wieder hohe Schornsteine. Wahrscheinlich war das schon Berlin.
Er holte den Koffer aus dem Gepäcknetz, setzte die Mütze auf, steckte die Nadel wieder in den Jackenaufschlag und machte sich fertig. Er hatte zwar keine Ahnung23, was er beginnen sollte, aber hier, in diesem Kupee, hielt er es keine fünf Minuten länger aus. Das stand fest.
Inzwischen wurde der Zug langsamer. Man fuhr an Bahnsteigen vorbei. Ein paar Gepäckträger liefen neben den Wagen her. Der Zug hielt!