Riley schluckte schwer.
Er hatte natürlich recht. Das letzte Mal, als der Tod sie kurz gestreift hatte, hatte sie sich in den Fängen des Clown-Killers befunden. Davor, während des letzten Semesters am College, war sie um ein Haar von einem psychopathischen Psychologieprofessor umgebracht worden, der weiterhin auf seinen Prozess wartete, weil er zwei ihrer Kommilitoninnen ermordet hatte. Riley hatte beide Frauen gekannt. Eine davon war ihre beste Freundin und Zimmergenossin gewesen.
Durch ihre Hilfe bei der Aufklärung dieses furchtbaren Mordfalls war Riley in das Sommer-Praktikantenprogramm aufgenommen worden. Einer der Hauptgründe, warum sie daran dachte, FBI-Agentin zu werden.
Mit erstickter Stimme fragte Riley: »Willst du, dass ich nicht an die Akademie gehe? Möchtest du, dass ich morgen nicht nach Quantico fahre?«
Ryan antwortete: »Es ist doch egal, was ich will.«
Riley kämpfte jetzt mit den Tränen.
»Nein, es ist wichtig, Ryan,« sagte sie, »es macht viel aus.«
Ihre Blicke trafen sich sehr lange, wie es schien.
Dann sagte er: »Ich glaube, das möchte ich. Dass du nicht fährst, meine ich. Ich weiß, dass du es aufregend fandst; ein tolles Abenteuer war das für dich. Aber es ist an der Zeit, dass wir zwei uns häuslich niederlassen. Es ist an der Zeit, dass wir mit unserem wirklichen Leben weitermachen.«
Riley kam es plötzlich so vor, als ob sie sich in einem schlechten Traum befände, sie konnte bloß nicht aufwachen.
Unser wirkliches Leben! dachte sie.
Was bedeutete das?
Und was hieß das für sie, dass sie nicht wusste, was es bedeutete?
Sie wusste nur eine Sache mit Sicherheit …
Er will nicht, dass ich nach Quantico fahre!
Dann sagte Ryan: »Schau mal, du kannst doch alle möglichen Arten von Jobs hier in D.C. annehmen. Und du hast jede Menge Zeit zum Nachdenken, was du machen willst – langfristig gesehen. In der Zwischenzeit ist es doch nicht wichtig, ob du viel verdienst. Wir werden von dem, was ich in der Firma verdiene, nicht reich, aber für uns zwei ist es genug, und irgendwann wird es mir finanziell richtig gut gehen.«
Ryan wandte sich wieder dem Essen zu und sah erstaunlicherweise erleichtert aus – so als ob sie gerade alles besprochen hätten.
Aber hatten sie denn eigentlich etwas besprochen? Riley hatte den ganzen Sommer lang von der FBI-Akademie geträumt. Sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Traum von jetzt auf gleich aufzugeben.
Nein, dachte sie, das kann ich einfach nicht.
Nun merkte sie, wie die Wut in ihr hochkroch.
Mit angespannter Stimme sagte sie: »Es tut mir leid, dass es dir so geht. Ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich fahre morgen nach Quantico.«
Ryan starrte sie an, als könne er seinen Ohren nicht trauen.
Riley erhob sich vom Tisch auf und sagte: »Lass dir dein restliches Essen schmecken. Es gibt noch Käsekuchen im Kühlschrank. Ich bin müde. Ich werde duschen und ins Bett gehen.«
Ehe Ryan etwas erwidern konnte, ging Riley schnell ins Badezimmer. Sie weinte ein paar Minuten und duschte sich dann lange unter heißem Wasser. Als sie ihre Pantoffeln und ihren Bademantel angezogen hatte und aus dem Badezimmer kam, sah sie, dass Ryan in der Küche saß. Er hatte den Tisch abgeräumt und arbeitete am Rechner. Er schaute nicht auf.
Riley ging ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett und weinte wieder.
Als sie sich die Augen wischte und die Nase putzte, fragte sie sich …
Warum bin ich so wütend?
Hat Ryan Unrecht?
Trägt er Schuld an irgendetwas?
Ihre Gedanken waren so verworren, dass sie die Dinge nicht klar durchdenken konnte. Und eine schreckliche Erinnerung bahnte sich wieder einmal den Weg in ihr Gedächtnis – wie sie in diesem Bett mit stechenden Schmerzen aufgewacht war und gesehen hatte, wie sie in einer Blutlache lag …
Meine Fehlgeburt.
Sie fragte sich – war das einer der Gründe, warum Ryan nicht wollte, dass sie zum FBI ging? Der Fall mit dem Clown-Killer hatte sie äußerst gestresst, als es geschah. Aber die Ärztin im Krankenhaus hatte ihr versichert, dass Stress mit ihrer Fehlgeburt nichts zu tun gehabt hätte.
Stattdessen, hatte sie gesagt, war der Abgang durch „chromosomale Anomalien“ verursacht worden.
Jetzt, wo Riley abermals darüber nachdachte, verstörte sie dieses Wort …
Anomalien.
Sie fragte sich – war sie irgendwie anomal – tief in ihr drin, wo es wirklich darauf ankam?
War sie unfähig, eine dauerhafte Beziehung zu führen, geschweige denn, eine Familie zu haben?
Als sie in den Schlaf sank, war sie sich nur einer einzigen Sache gewiss …
Ich fahre morgen nach Quantico.
Sie war schon eingeschlafen, ehe sie darüber nachdenken konnte, was wohl danach passieren würde.
Kapitel zwei
Der Mann war zufrieden, das leise Stöhnen der Frau zu hören. Er wusste, dass wie dabei war, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Genau, er konnte sehen, wie sich ihre Augen ein wenig öffneten.
Sie lag auf die Seite gedreht auf einem sägerauen Holztisch in einem kleinen Zimmer mit Lehmboden, die Wände aus Schlackenbetonsteinen und einer niedrigen Balkendecke. Sie war in zusammengerollter Körperhaltung fest verschnürt und rasch mit Industrieklebeband umwickelt worden. Ihre Beine waren straff angewinkelt und ihr fest auf die Brust gebunden worden, ihre Hände umschlagen ihre Schienbeine. Ihr auf die Seite gedrehter Kopf lag auf ihren Knien.
Sie erinnerte ihn an Aufnahmen, die er von menschlichen Föten gesehen hatte – und auch an die Küken-Embryos, die er manchmal fand, wenn er ein frisches Ei einer seiner Hühner, die er hielt, aufschlug. Sie sah so zart und unschuldig aus, es war irgendwie ein ziemlich anrührender Anblick.
Hauptsächlich erinnerte sie ihn natürlich an die andere Frau – Alice hatte sie geheißen, glaubte er. Er hatte einmal gedacht, dass Alice die Einzige wäre, die er so behandeln würde, aber dann hatte es ihm gefallen … und es gab so wenige Freuden in seinem Leben … wie könnte er damit aufhören?
»Es tut weh,« murmelte die Frau, als ob sie im Traum spräche. »Warum tut es weh?«
Er wusste, dass es daran lag, dass sie in einem dichtmaschigen Bett aus Stacheldraht lag. Das Blut tropfte bereits auf die Tischplatte. Es würde also noch ein paar weitere Flecken auf dem unbehandelten Holz geben. Nicht, dass das etwas ausmachte. Der Tisch war älter als er selbst, und er war sowieso der Einzige, der ihn zu Gesicht bekam.
Er hatte auch Schmerzen und blutete etwas. Er hatte sich geschnitten, als er sie auf die mit Stacheldraht gefüllte Ladefläche seines Pick-up-Trucks geschafft hatte. Es war schwieriger gewesen, als er erwartet hatte, weil sie stärker gegen ihn angekämpft hatte als die andere.
Sie hatte sich gekrümmt und verdreht, bis das selbst hergestellte Chloroform zu wirken begann. Aber ihr Widerstand hatte mehr und mehr nachgelassen und am Ende hatte er sie vollkommen gebändigt.
Trotzdem machten ihm Verletzungen durch scharfe Stacheln nichts aus. Er wusste aus harter Erfahrung, dass solche Einstiche ziemlich schnell heilten, selbst wenn sie schauderhafte Narben hinterließen.
Er beugte sich hinunter und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht.
Ihre Augen waren jetzt fast unnatürlich weit aufgerissen. Ihre Regenbogenhaut zuckte, als sie ihn ansah.
Sie versucht immer noch, meinen Anblick zu vermeiden, stellte er fest.
Jeder verhielt sich ihm gegenüber so, wo er auch hinging. Er machte den Leuten keinen Vorwurf, wenn sie so taten, als ob er unsichtbar sei oder überhaupt nicht existierte. Manchmal sah er in den Spiegel und spielte, dass er sich verschwinden lassen konnte.
Dann murmelte die Frau abermals …
»Es tut weh.«
Er war sich sicher, dass neben den Schnitten auch ihr Kopf böse schmerzte durch die kräftige Dosis des selbst hergestellten Chloroforms. Als er das Zeug hier das erste Mal zusammengemischt hatte, war er selbst beinahe davon ohnmächtig geworden. Noch Tage danach hatten ihn stechende Kopfschmerzen geplagt. Aber die Herstellung des Chloroforms funktionierte richtig gut, deshalb würde er es auch weiterhin verwenden.
Er war bereits gut vorbereitet, was den nächsten Schritt anging. Er hatte sich feste Arbeitshandschuhe und eine dicke Steppjacke angezogen. Er würde sich jetzt nicht mehr verletzen, während er die Sache erledigte.
Er machte sich mit einem Drahtschneider an einem Bündel Stacheldraht zu schaffen. Dann umwickelte er den Körper der Frau mit einem Strang und verknotete die Enden behelfsmäßig, damit der Draht auch hielt.
Die Frau winselte laut auf und versuchte, das Klebeband durch Verdrehungen zu lockern, als die Stacheln durch ihre Haut und ihre Kleidung drangen.
Während er weiterarbeitete, sagte er …
»Du musst nicht leise sein. Wenn du willst, kannst du schreien – wenn es dir hilft.«
Er machte sich ganz sicher keine Sorgen, dass jemand sie hörte.
Sie wimmerte lauter und versuchte anscheinend zu schreien, aber ihre Stimme war schwach.
Er kicherte leise in sich hinein. Er wusste, dass sie ihre Lungen nicht ausreichend mit Atemluft füllen konnte, um loszuschreien – so wie er ihre Beine auf die Brust gebunden hatte.
Er umwickelte sie mit einem weiteren Stück Stacheldraht und zog den Strang fest zu. Er sah zu, wie das Blut aus jedem Einstich durch ihre Kleider hervorquoll, den Stoff durchnässte, sich ausbreitete und Flecken bildete, die größer waren als die Wunden selbst.
Er schlang Strang um Strang um ihren Körper, bis sie völlig umwickelt war – sie sah aus wie eine Art gigantischer Stachelkokon, kein bisschen menschenartig. Das Bündel gab alle Arten von seltsamen, leisen Lauten von sich – es seufzte, keuchte, wimmerte und stöhnte. Das Blut tropfte hier und spritzte da ein wenig, bis die ganze Tischfläche einer roten Badewanne ähnelte.
Dann trat er einen Schritt zurück und bewunderte sein Werk.
Er knipste die Deckenlampe aus und ging in die Nacht hinaus, wobei er die schwere Holztür hinter sich schloss.
Der Himmel war klar und sternenübersät. Er hörte jetzt nur noch das laute Zirpen der Grillen.
Er atmete langsam und intensiv die frische, saubere Luft ein.
Die Nacht schien gerade besonders lieblich zu sein.
Kapitel drei
Als Riley sich mit dem Rest der Praktikanten für ihr offizielles Abschlussfoto aufreihte, hörte sie, wie sich die Tür zur Empfangshalle öffnete.
Ihr Herz tat einen Sprung und sie drehte sich erwartungsvoll um, um zu sehen, wer gekommen war.
Aber es war nur Hoke Gilmer, ihr Ausbilder während des Programms, der für ein paar Minuten vor die Türe getreten war.
Riley unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste bereits, dass Agent Crivaro heute nicht hier sein würde.
Gestern hatte er ihr zum Abschluss des Kurses gratuliert. Er meinte, er würde zusehen, zurück nach Quantico zu kommen. Es war offensichtlich, dass er schlichtweg keinen Nerv für Zeremonien oder Empfänge hatte.
Insgeheim hatte sie gehofft, dass Ryan vielleicht hereinschneien würde, um mit ihr den Abschluss des Sommer-Praktikantenprogramms zu feiern.
Natürlich wusste sie sehr wohl, dass sie nicht ernsthaft erwarten konnte, dass dies auch geschah.
Trotzdem stellte sie sich zwangsläufig vor, dass er vielleicht seine Meinung geändert hatte. Er würde auf die letzte Minute hier ankommen und sich für sein gestriges kühles Benehmen entschuldigen. Dann würde er endlich die Worte sagen, die sie so gerne von ihm hören wollte …
»Ich möchte, dass du an die Akademie gehst. Ich will, dass du deine Träume weiterverfolgst.«
Aber ganz klar, das würde nicht passieren …
Und je eher ich das kapiere, umso besser, dachte sie.
Die zwanzig Praktikanten stellten sich in drei Reihen für das Foto auf – die erste Reihe saß an einem langen Tisch und die anderen zwei Reihen standen dahinter. Da die Praktikanten in alphabetischer Reihenfolge angeordnet waren, befand sich Riley in der letzten Reihe zwischen den andern beiden Studenten, deren Nachname mit einem S begann – Naomi Strong und Rhys Seely.
Sie hatte Naomi oder Rhys nicht sonderlich gut kennengelernt.
Aber schließlich galt das beinahe für alle der anderen Praktikanten. Seit dem ersten Tag des zehnwöchigen Programms fühlte sie sich unter ihnen deplatziert. Dem einzigen Studenten, dem sie während der ganzen Zeit etwas nähergekommen war, war John Welch, der ein paar Studenten weiter links von ihr stand.
An jenem ersten Tag hatte John ihr erklärt, warum die anderen sie so komisch ansahen und über sie leise flüsterten …
»Fast jeder hier weiß, wer du bist. Du könntest also sagen, dass dein Ruf dir vorauseilt.«
Sie war schließlich die einzige Praktikantin, die schon etwas „Praktische Erfahrung“, wie man es landläufig nannte, geschnuppert hatte.
Beim Gedanken an das Wort unterdrückte sie einen weiteren Seufzer.
„Praktische Erfahrung.“
Sie fand es seltsam, die Geschehnisse damals an der Lanton Universität als „praktische Erfahrung“ zu bezeichnen. Der Begriff „Alptraum» traf es eher. Sie würde niemals in der Lage sein, diese Erinnerungen abzuschütteln, als sie ihre beiden engen Freundinnen im Studentenwohnheim mit durchschnittener Kehle in ihrem Blut liegend fand.
Das letzte, was ihr zu der Zeit eingefallen wäre, war ein Training beim FBI zu machen. Sie war in den Fall verwickelt worden, ohne überhaupt eine Wahl gehabt zu haben – und sie hatte dabei geholfen, ihn aufzuklären. Darum wusste auch so ziemlich jeder hier vom ersten Tag an, wer sie war.
Und als das Programm dann angelaufen war und alle anderen Studenten etwas über Gerichtsmedizin lernten und wie sie ihre Computer zu bedienen hatten, hatte Riley den totbringenden Clown-Killer aufgespürt. Beide Fälle waren traumatisch und lebensbedrohlich gewesen.
Ein direkter Sprung ins kalte Wasser in punkto „praktischer Erfahrung“ hatte sie bei den anderen Praktikanten nicht sonderlich beliebt gemacht. Vielmehr war die ganze Zeit über die stillschweigende Abneigung ihr gegenüber fühlbar gewesen.
Und jetzt beneideten sie mindestens eine Handvoll Praktikanten dafür, dass es nun für sie weiterging – auf die Akademie.
Wenn die wüssten, was ich durchgemacht habe, dachte sie.
Sie bezweifelte, dass sie sie dann weiterhin beneiden würden.
Sie fühlte das Entsetzen und die Schuld, wenn sie an ihre beiden ermordeten Freundinnen in Lanton dachte. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und es verhindern, bevor es überhaupt passierte. Nicht genug damit, dass ihre Freundinnen dann noch am Leben wären – ihr eigenes Leben wäre jetzt vollkommen anders. Sie hätte einen Abschluss in Psychologie und irgendeinen 08/15-Job. Und sie würde sich ziemlich unsicher fühlen, was den Rest ihres Lebens betraf.
Und Ryan wäre überglücklich.
Sie bezweifelte jedoch, dass sie selbst glücklich sein würde. Sie hatte keine besondere Neigung zu einer bestimmten beruflichen Laufbahn an den Tag gelegt, bis sich die Möglichkeit ergeben hatte, FBI-Agentin zu werden – auch wenn es sich so anfühlte, dass der Beruf sie gewählt hatte und nicht andersherum.
Als die drei Reihen ordentlich saßen bzw. standen, erzählte Hoke Gilmer einen Witz. Damit alle lachten, wenn der Fotograf den Auslöser drückte. Riley war nicht zu Scherzen aufgelegt, deswegen erschien ihr der Witz als nicht besonders lustig. Sie war überzeugt, dass ihr Lächeln gezwungen und unsicher aussah.
Sie fühlte sich zudem nicht ganz wohl in ihrem Hosenanzug, den sie vor ein paar Monaten in einem Kleiderladen für gemeinnützige Zwecke gekauft hatte. Die meisten anderen Praktikanten waren finanziell bessergestellt als sie und auffallend besser gekleidet. Sie freute sich nicht darauf, das gerade geknipste Foto zu Gesicht zu bekommen.
Dann löste sich die Gruppe auf, um an einem anderen Tisch in der Mitte des Raumes den Imbiss und die Erfrischungsgetränke zu sich zu nehmen. Jeder scharte sich in seinem Freundesgrüppchen zusammen und wie gewöhnlich, fühlte sich Riley isoliert.
Sie bemerkte, dass Natalie Embry an Rollin Sloan hing. Er war ein Praktikant, der direkt auf einen gut bezahlten Posten als Daten-Analytiker rückte – in einem großen Büro in einer Außenstelle im Mittleren Westen.
Riley hörte eine Stimme neben sich sagen …
»Also Natalie hat sicher das bekommen, wofür sie gekommen ist, oder?«
Riley drehte sich um und sah, dass John Welch neben ihr stand.
Sie lächelte und sagte: »Also komm, John. Ist das nicht ein bisschen zynisch?«
John sagte achselzuckend: »Willst du mir erzählen, dass ich auf dem falschen Dampfer bin?«
Riley sah nochmals in Richtung Natalie, die jemandem stolz ihren brandneuen Verlobungsring präsentierte.
»Nö, wahrscheinlich nicht,« erwiderte sie.
Natalie hatte ihren Ring überall herumgezeigt, seit Rollin ihn ihr vor ein paar Tagen angesteckt hatte. Die beiden hatten sich wirklich überraschend schnell zum Pärchen entwickelt – dabei hatten sie sich vor Beginn des Sommerprogramms noch gar nicht gekannt.
John seufzte mit gespieltem Mitgefühl.
»Armer Rollin,« sagte er, »da geht er denn hin mit Gottes Gnaden – an meiner statt.«
Riley lachte laut auf. Sie wusste genau, was John meinte. Schon am allerersten Tag des Programms hatte Natalie sich auf die Suche nach einem potentiellen Verlobten gemacht. Sie hatte sogar John ins Visier genommen, bis dieser klargestellt hatte, dass er sie wirklich nicht mochte.
Riley fragte sich, ob Natalie jemals ein wirkliches Interesse am Programm gehabt hatte? Schließlich war Natalie schlau und versiert genug gewesen, um in das FBI Honors-Praktikantenprogramm aufgenommen zu werden.
Wahrscheinlich nicht, schlussfolgerte sie.
Natalie schien das Training aus demselben Grund absolviert zu haben, weswegen einige ihrer Freundinnen aufs College gegangen waren – um sich einen vielversprechenden Ehemann zu angeln.
Riley versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, mit Natalies Prioritäten durchs Leben zu gehen. Die Dinge würden sicherlich einfacher sein – zumindest dann, wenn Entscheidungen derart schablonenhaft ausfielen …
Einen Mann finden, in ein schönes Haus ziehen, ein paar Kinder bekommen …
Riley beneidete Natalie mindestens in einem Punkt: Sicherheit.
Dennoch war sich Riley sicher, dass sie sich mit einem derartigen Leben zu Tode langweilen würde – und genau deswegen stand es um Ryan und sie gerade so schlecht.
Dann sagte John: »Ich nehme an, dass du direkt nach Quantico fährst, sobald das hier vorbei ist.«
Riley antwortete: »Klar. Du auch, nehme ich an?«
John nickte, Riley fand den Gedanken aufregend, dass sie und John unter den Handvoll Praktikanten waren, die weiterführend auf die FBI-Akademie gehen würden.
Die meisten der restlichen Praktikanten freuten sich auf andere Möglichkeiten. Einige würden auf Hochschulen für Aufbaustudien gehen – auf Gebieten, die diesen Sommer ihr Interesse geweckt hatten. Andere würden neue Stellen in Laboren oder Büros direkt hier im J. Edgar-Hoover-Gebäude antreten oder in FBI-Hauptquartieren in anderen Städten. Sie würden ihre Laufbahn beim FBI als Informatiker, Daten-Analytiker und Techniker starten. Diese Jobs boten geregelte Arbeitszeiten und führten nicht zu lebensbedrohlichen Situationen.
Jobs, die Ryan befürworten wurde, dachte Riley wehmütig.
Riley hätte John fast gefragt, wie er heute nach Quantico käme. Aber natürlich wusste sie es – er würde in seinem teuren Wagen dorthin fahren. Riley überlegte kurz, ihn zu fragen, ob er sie mitnehmen könne. Schließlich würde sie sich so das Geld für das Taxi und die Zugfahrkarte sparen.
Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Sie wollte John gegenüber nicht zugeben, dass Ryan sie nicht einmal zum Bahnhof fahren würde. John war ein intelligenter Kerl und würde sicher mitkriegen, dass die Dinge zwischen ihr und Ryan nicht okay waren. Sie zog es vor, dass er darüber nichts erfuhr – zumindest nicht im Moment.
Als sie und John weiter miteinander plauderten, bemerkte sie von neuem, wie gut er aussah – kräftig und athletisch gebaut, mit kurzem, lockigem Haar und einem ansprechenden Lächeln.
Er war wohlhabend und trug einen teuren Anzug, aber Riley hielt ihm seinen Reichtum und seine Privilegien nicht vor. Seine Eltern waren beide hervorragende Rechtsanwälte in D.C., die viel im Politikgeschäft zu tun hatten. Riley bewunderte Johns Entscheidung – ein bescheideneres Leben im ehrenwerten Dienst der Strafverfolgung zu führen.
Er war ein netter Kerl, ein wahrer Idealist, und sie mochte ihn sehr gern. Sie hatten nämlich zusammengearbeitet, um den Clown-Killer-Fall zu knacken. Sie hatten heimlich mit dem Mörder, der ihnen Rätsel stellte, kommuniziert, um ihn aus seinem Versteck zu locken.
Als sie so in seiner Nähe stand und sein Lachen und das Gespräch mit ihm genoss, fragte sich Riley, inwiefern ihre Freundschaft an der Akademie sich noch intensivieren würde.
Sie würden ziemlich sicher eine Menge Zeit zusammen verbringen …
Und von Ryan werde ich weit weg sein …
Sie mahnte sich selbst zur Vorsicht, damit ihre Fantasie nicht mit ihr durchging. Zuerst einmal waren die Probleme, die sie gerade mit Ryan hatte, wahrscheinlich nur vorübergehend. Vielleicht brauchten sie einfach nur ein wenig Zeit voneinander getrennt. Dann würde ihnen auch wieder einfallen, warum sie sich überhaupt ineinander verliebt hatten.
Schließlich waren die Praktikanten mit ihrem Imbiss fertig und machten sich bereit zum Aufbruch. John winkte Riley auf dem Weg nach draußen zu. Sie lächelte ihm zu und winkte zurück. Natalie klammerte sich weiterhin an Rollin und präsentierte auf dem Weg durch die Tür immer noch ihren Ring.
Riley verabschiedete sich von ihrem Ausbilder Hoke Gilmer und der stellvertretenden Direktorin Marion Connor. Beide hatten kurze Reden vor der Gruppe gehalten und alle beglückwünscht. Dann verließ auch sie die Empfangshalle und ging zum Aufenthaltsraum, wo ihr Koffer stand.
Außer ihr war keine Menschenseele in dem großen, leeren Raum. Sie blickte sich wehmütig um. Dort hatten sich alle Praktikanten während des Sommers für diverse Treffen versammelt. Sie bezweifelte, dass sie irgendwann wieder hier zurückkäme.
Würde ihr das Praktikantenprogramm abgehen? Sie war sich nicht sicher. Sie hatte hier eine Menge gelernt und das meiste hatte ihr Spaß gemacht. Aber sie wusste, dass es definitiv an der Zeit war, zu etwas Neuem überzugehen.
Und warum bin ich dann so traurig? fragte sie sich.
Sie begriff schnell, dass es nur daran lag: Wie sie mit Ryan auseinandergegangen war. Sie dachte an ihre scharfen Worte, die sie ihm letzte Nacht an den Kopf geworfen hatte, ehe sie ins Bett gegangen war.
»Lass dir dein restliches Essen schmecken. Es gibt noch Käsekuchen im Kühlschrank. Ich bin müde. Ich werde duschen und ins Bett gehen.«
Danach hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Ryan war aufgestanden und zur Arbeit gegangen, ehe Riley am Morgen erwacht war.
Sie wünschte, sie hätte ihn nicht so angeblafft. Aber welche Wahl hatte er ihr denn gelassen? Er war nicht sehr zartfühlend mit ihren Hoffnungen und Träumen umgegangen.
Das Gewicht ihres Verlobungsrings fühlte sich am Finger komisch an. Sie streckte die Hand vor dem Gesicht aus und betrachtete ihn. Der kleine, aber hübsche Edelstein funkelte im fluoreszierenden Deckenlicht. Und sie erinnerte sich daran, wie Ryan schüchtern vor ihr niedergekniet war, um ihr einen Antrag zu machen.
Das schien jetzt schon wieder so lange her zu sein.
Nach ihrer hässlichen Verabschiedung gestern fragte sich Riley, ob sie jetzt überhaupt noch verlobt waren. War ihre Beziehung vorbei? Hatten sie miteinander Schluss gemacht, ohne es wirklich auszusprechen? Was es Zeit, Ryan zurückzulassen – ebenso wie sie alle anderen Dinge hinter sich ließ? Und war Ryan bereit, sie hinter sich zu lassen?
Einen Augenblick lang spielte sie mit der Idee, das Taxi und den Zug nach Quantico fahren zu lassen – wenigstens im Moment. Vielleicht wäre es kein Schaden, einen Tag zu spät zum Unterricht zu kommen. Vielleicht konnte sie nochmal mit Ryan sprechen, wenn er aus der Arbeit kam. Vielleicht könnten sie die Dinge zurechtrücken.
Aber sie begriff sehr schnell …
Wenn ich jetzt zu unserer Wohnung zurückfahre, fahre ich womöglich niemals nach Quantico.
Bei dem Gedanken erschauderte sie.
Irgendwie wusste sie, dass ihr Schicksal sie in Quantico erwartete und das wollte sie nicht verpassen.
Jetzt oder nie, dachte sie.
Sie nahm ihren Koffer und verließ das Gebäude. Dann nahm sie ein Taxi zum Bahnhof.
Kapitel vier
Guy Dafoe mochte es nicht besonders, morgens so früh aufzustehen. Aber wenigstens arbeitete er diesmal hart für sein eigenes Vieh und nicht für die Herden anderer Besitzer. Die notwendigen Arbeiten in der Frühe schienen nun den Aufwand wert zu sein.