Niemals roch er nach Alkohol, seine Hände zitterten nicht. Der dunkelgrüne starre Wald wurde unwirklich. Hatte sie ihn tatsächlich gesehen, oder existierte er nur in ihren Träumen? Weder Schrit noch Hochbret oder Kanders hatte sie je zu Gesicht bekommen; die hockten weit entfernt voneinander in kleinen Nestern. Nur zweimal hatte einer beim anderen Fehler entdeckt: als Schrit die Basierung des städtischen Schwimmbades falsch errechnete, was von Hochbret herausgefunden wurde. Sie war sehr aufgeregt gewesen, aber Fähmel hatte sie nur gebeten, ihm die Rotstiftnotizen an den Rändern der Zeichnung als die von Schrit und die von Hochbret zu identifizieren, und zum ersten Mal wurde ihr klar, dass auch er offenbar vom Fach war: eine halbe Stunde lang hatte er mit Rechenschieber, Tabellen und gespitzten Bleistiften an seinem Schreibtisch gesessen, dann gesagt: „Hochbret hat recht, das Schwimmbad wäre spätestens in drei Monaten zusammengesackt.“ Kein Wort des Tadels für Schrit, keins des Lobes für Hochbret, und als er – dieses eine Mal – das Gutachten selbst unterschrieb, lachte er; sein Lachen war ihr so unheimlich wie seine Höflichkeit. Der zweite Fehler war Hochbret unterlaufen, bei der Berechnung der statischen Unterlagen für die Eisenbahnüberführung an der Wilhelmskühle, und diesmal war es Kanders, der den Fehler entdeckte, und wieder sah sie Fähmel – zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren – rechnend am Schreibtisch sitzen. Wieder musste sie ihm Hochbrets und Kanders Rotstiftnotizen identifizieren; dieser Zwischenfall gab ihm die Idee ein, den verschiedenen Mitarbeitern verschiedene Farben vorzuschreiben: Kanders rot, Hochbret grün, Schrit gelb.
Langsam schrieb sie, während ein Stück Schokolade in ihrem Munde zerging: ‚Wochenendhaus für eine Filmschauspielerin‘, schrieb, während das zweite Stück Schokolade in ihrem Mund zerging: ‚Erweiterungsbau der Societas[9], die Gemeinnützigste der Gemeinnützigen‘. Immerhin unterschieden sich die Kunden noch durch Name und Adresse voneinander, gaben die beigelegten Zeichnungen ihr das Gefühl, an Wirklichem teilzuhaben; Steine und Kunststoffplatten, Eisenträger, Glasziegel, Zementsacke, die waren vorstellbar, während Schrit, Kanders und Hochbret, obwohl sie täglich deren Adresse schrieb, unvorstellbar blieben. Sie waren nie im Büro gewesen, riefen nie an, schrieben nie. Ohne Kommentar schickten sie ihre Berechnungen und Unterlagen zurück. „Wozu Briefe?“ hatte Fähmel gesagt, „wir wollen doch hier keine Bekenntnisse sammeln, wie?“
Manchmal nahm sie das Lexikon aus dem Bücherregal, schlug die Namen der Orte auf, die sie täglich auf Briefumschläge schrieb: Schilgenauel, 87 Einwohner, davon 83 röm.-kath., berühmte Pfarrkirche aus dem 12. Jh. mit dem Schilgenaueler Altar. Dort wohnte Kanders, dessen Personalien die Versicherungskarte preisgab: siebenunddreißig Jahre alt, ledig, röm.-kath.... Schrit wohnte hoch im Norden, in Gludum, 1988 Einwohner, davon 1812 ev., 176 röm.-kath., Marinadenindustrie. Missionsschule. Schrit war achtundvierzig, verh., ev., 2 Kinder, davon 1 über achtzehn. Hochbrets Wohnort brauchte sie nicht nachzuschlagen, er wohnte in einem Vorort, in Blessenfeld, nur fünfunddreißig Omnibusminuten entfernt, und oft kam ihr der törichte Gedanke, ihn einmal aufzusuchen, sich seines Vorhandenseins zu versichern, indem sie seine Stimme hörte, ihn sah, seinen Händedruck spürte, doch sein geringes Alter, er war erst zweiunddreißig, und die Tatsache, dass er ledig war, hielt sie von solcher Intimität zurück. Obwohl das Lexikon Kanders und Schrits Wohnorte beschrieb, wie auf einem Ausweis die ausgewiesene Person beschrieben wird, Blessenfeld ihr vertraut war, blieben die drei ihr unvorstellbar, wenn sie auch monatlich Versicherungsbeträge für sie überwies, Postanweisungen ausfüllte, Zeitschriften und Tabellen an sie verschickte; sie blieben so unwirklich wie dieser Schrella, der auf der roten Karte stand, für den er immer erreichbar war, der aber in vier Jahren nicht einmal versucht hatte, ihn zu erreichen.
Sie ließ die rote Karte, die zur Ursache seiner ersten Grobheit geworden war, auf dem Tisch liegen. Wie hatte der Herr geheißen, der gegen zehn ins Büro gekommen war und Fähmel dringend, dringend, sehr dringend zu sprechen verlangte? Groß war er gewesen, grauhaarig, mit leicht gerötetem Gesicht, roch nach exquisiten Spesenmahlzeiten, trug einen Anzug, der nach Qualität geradezu stank; Macht, Würde und herrischen Charme hatte der Herr auf eine Weise vereint, die ihn unwiderstehlich machte; in seinem Titel, den er lächelnd hinmurmelte, hatte es nach Minister geklungen – Ministerialrat, -direktor, -dirigent, und als sie leugnete, Fähmels Aufenthalt zu wissen, schoss er’s heraus, rasch, legte ihr dabei die Hand auf die Schulter: „Nun, schönes Kind, sagen Sie schon, wo ich ihn finden kann“, und sie gab es preis, wusste nicht, wie es geschehen konnte, es ruhte so tief in ihr, das Geheimnis, das ihre Witterung so eingehend beschäftigte: ‚Hotel Prinz Heinrich‘. Da wurde etwas von Schulkamerad gemurmelt, von einer Angelegenheit, die dringend, dringend, sehr dringend sei, etwas von Wehr, etwas von Waffen; er hinterließ, nachdem er gegangen war, ein Zigarrenaroma, das eine Stunde später noch Fähmels Vater zu einem aufgeregten Schnuppern veranlasste.
„Mein Gott, mein Gott, muss das ein Kraut gewesen sein – ein Kraut!“ Der Alte schnupperte an den Wänden entlang, schob seine Nase dicht über den Schreibtisch, setzte seinen Hut auf, kam nach wenigen Minuten mit dem Geschäftsführer des Zigarrenladens zurück, in dem er schon seit fünfzig Jahren kaufte, und sie standen beide eine Weile schnuppernd in der Tür, gingen im Büro hin und her wie aufgeregte Hunde, der Geschäftsführer kroch unter den Schreibtisch, wo offenbar eine ganze Rauchwolke sich erhalten hatte, stand auf, klopfte sich die Hände ab, lächelte triumphierend und sagte: „Ja, Herr Geheimrat, das war eine Partagas Eminentes.“
„Und Sie können mir die besorgen?“
„Sicher, ich habe sie vorrätig.“
„Wehe Ihnen, wenn das Aroma nicht das gleiche ist, das ich hier gerochen habe.“
Der Geschäftsführer schnüffelte noch einmal, sagte: „Partagas Eminentes, dafür lass ich mich köpfen, Herr Geheimrat. Vier Mark pro Stück. Möchten Sie welche?“
„Eine, lieber Kolbe, eine. Vier Mark, so hoch war der Wochenlohn meines Großvaters, und ich respektiere die Toten, hab meine Sentimentalitäten, wie Sie wissen. Mein Gott, dieses Kraut schlägt die zwanzigtausend Zigaretten tot, die mein Sohn hier schon geraucht hat.“
Sie empfand es als hohe Ehre, dass der Alte seine Zigarre in ihrer Gegenwart rauchte; er lehnte sich zurück im Sessel seines Sohnes, der zu groß für ihn war; sie schob ihm ein Kissen in den Rücken, hörte ihm zu, während sie der makellosesten aller Beschäftigungen nachging: frankieren. Langsam die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, sauber in die rechte obere Ecke von Briefumschlägen geklebt, die nach Schilgenauel, Gludum und Blessenfeld reisen würden. Exakt, während der Alte einem Genuss frönte, den er seit fünfzig Jahren vergebens gesucht zu haben schien.
„Mein Gott“, sagte er, „jetzt weiß ich endlich, was eine Zigarre ist, liebes Kind. Musste ich so lange darauf warten, bis zu meinem achtzigsten Geburtstag – nun, lassen Sie, regen Sie sich doch nicht auf, natürlich, heute werd ich achtzig – also, Sie waren’s nicht, die die Blumen im Auftrag meines Sohnes für mich bestellt hat? Schön, danke, später über meinen Geburtstag, ja? Ich lade Sie herzlich zur Feier heute abend im Cafe Kroner ein – aber sagen Sie mir, liebe Leonore, warum hat man mir in den fünfzig Jahren, genaugenommen sind’s einundfünfzig Jahre – die ich bei denen kaufe, nicht einmal eine solche Zigarre vorgelegt? Bin ich etwa geizig? Ich bin’s nie gewesen, Sie wissen es. Ich habe meine Zehner-Zigarren geraucht, als ich jung war, Zwanziger, als ich ein bisschen mehr Geld verdiente, und dann Sechziger, jahrzehntelang. Sagen Sie mir, liebes Kind, was sind das für Leute, die mit so einem Ding für vier Mark im Mund über die Straße gehen, in ein Büro kommen, wieder hinaus, als ob’s ein Zigarillo für einen Groschen wäre? Was sind das für Leute, die zwischen Frühstück und Mittagessen dreimal den Wochenlohn meines Großvaters verrauchen, ein Aroma hinterlassen, dass einem alten Mann wie mir die Spucke wegbleibt und ich wie ein Köter schnüffelnd hier im Büro meines Sohnes herumkrieche? Wie? Schulkamerad von Robert? Ministerialrat, -direktor, -dirigent – oder gar Minister? Den müsst ich doch kennen. Wehr? Waffen?“
Und plötzlich der Schimmer in seinen Augen, als wenn eine Klappe gefallen wäre: der Alte sank zurück ins erste, dritte oder sechste Jahrzehnt seines Lebens, begrub eins seiner Kinder. Welches? Johanna oder Heinrich? Über welchen weißen Sarg warf er Erdkrumen, streute er Blumen? Waren die Tränen, die in seinen Augen standen, die Tränen des Jahres 1909, in dem er Johanna begrub, des Jahres 1917, in dem er an Heinrichs Grab stand, oder waren sie aus dem Jahr 1942, in dem er die Nachricht von Ottos Tod erhielt? Weinte er an der Pforte des Irrenhauses, in dem seine Frau verschwunden war? Tränen, während die Zigarre in sanftem Kräuseln verrauchte, sie waren aus dem Jahr 1894; er begrub seine Schwester Charlotte, für die er Goldstück um Goldstück sparen wollte, auf dass es ihr besser gehe; der Sarg rutschte an den knirschenden Seilen hinunter, während die Schulkinder sangen: ‚Turmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‘; zirpige Kinderstimmen drangen in dieses makellos eingerichtete Büro, und die Greisenstimme sang es über ein halbes Jahrhundert hinweg; nur dieser Oktobermorgen des Jahres 1894 war wirklich: Dunst über dem Niederrhein, Nebelschwaden zogen tanzende Schleifen über Rübenäcker, in Weidenbäumen schnarrten die Krähen wie Fastnachtsklappern, während Leonore einen roten Heuss übers nasse Schwämmchen zog. Dreißig Jahre bevor sie geboren war, sangen Bauernkinder: ‚Turmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‘ Grüner Heuss, übers Schwämmchen gezogen. Vorsicht, Briefe an Hochbret liefen unter Ortstarif.
Wenn es über ihn kam, sah der Alte wie blind aus; sie wäre gern rasch ins Blumengeschäft gelaufen und hätte ihm einen hübschen Strauß gekauft, aber sie hatte Angst, ihn allein zu lassen; er streckte seine Hände aus, vorsichtig schob sie ihm den Aschenbecher näher, und er nahm die Zigarre, steckte sie in den Mund, blickte Leonore an und sagte leise: „Glaub nicht, dass ich verrückt bin, Kind.“
Sie hatte ihn gern, er kam regelmäßig ins Büro, holte sie ab, damit sie sich an ihren freien Nachmittagen seiner nachlässig geführten Bücher erbarme, drüben auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hoch über der Druckerei, wo er im ‚Atelier seiner Jugend‘ hauste; dort bewahrte er Dokumente auf, die von Steuerbeamten geprüft worden, deren Reihengräber schon verfallen waren, bevor sie schreiben lernte; englische Pfundguthaben, Dollarbesitz, Plantagenanteile in El Salvador; dort oben kramte sie in staubigen Abrechnungen, entzifferte handgeschriebene Kontoauszüge von Banken, die längst liquidiert waren, las in Testamenten, in denen er Kinder mit Legaten bedacht hatte, die er nun schon um vierzig Jahre überlebte. ‚Und soll meinem Sohne Heinrich die Nutznießung der beiden Gutshöfe Stehlingers Grotte und Görlingers Stuhl ausschließlich vorbehalten bleiben, denn ich habe in seinem Wesen jene Ruhe, ja Freude am Wachstum der Dinge beobachtet, die mir die Voraussetzung für das Leben eines Landwirts zu sein scheinen…‘ „Hier“, schrie der Alte, fuchtelte mit der Zigarre in der Luft, „hier hab ich meinem Schwiegervater das Testament diktiert, am Abend, bevor ich ausrücken musste; ich diktierte es, während der Junge da oben schlief; er begleitete mich am nächsten Morgen noch zur Bahn, küsste meine Wange – Mund eines siebenjährigen Kindes – , aber niemand, Leonore, niemand nahm je meine Geschenke an, alle fielen sie an mich zurück: Güter und Bankkonten, Renten und Mietzins. Ich konnte nie schenken, nur meine Frau konnte es, und ihre Geschenke wurden angenommen – und wenn ich neben ihr lag, nachts, hörte ich sie oft murmeln, lange, sanft wie Wasser floss es aus ihrem Mund, stundenlang: wozuwozuwozu…“
Wieder weinte der Alte, diesmal in Uniform, Pionierhauptmann der Reserve, Geheimer Rat, Heinrich Fähmel, auf Sonderurlaub, um seinen siebenjährigen Sohn zu begraben; die Kilbsche Gruft nahm den weißen Sarg auf: dunkles feuchtes Gemäuer und frisch wie Sonnenstrahlen die goldenen Ziffern, die das Todesjahr auswiesen: 1917. Robert, in schwarzem Samt gekleidet, wartete in der Kutsche draußen…
Leonore ließ die Briefmarke, violett diese, fallen; sie getraute sich nicht, den Brief an Schrit zu frankieren; ungeduldig schnaubten die Kutschpferde vor dem Friedhofstor, während Robert Fähmel, zwei Jahre alt, die Zügel halten durfte: schwarzes Leder, brüchig an den Rändern, und das frische Gold der Ziffer 1917 glänzte heller als Sonnenschein…
„Was treibt er, was macht er, mein Sohn, der einzige, der mir blieb, Leonore? Was macht er morgens von halb zehn bis elf im Prinz Heinrich; er durfte zusehen, wie den Pferden der Futtersack vorgebunden wurde – was treibt er? Sagen Sie’s mir doch, Leonore!“ Zögernd nahm sie die violette Marke auf, sagte leise: „Ich weiß nicht, was er dort tut, wirklich nicht.“
Der Alte nahm die Zigarre in den Mund, lehnte sich lächelnd im Sessel zurück – als wäre nichts gewesen. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie fest für die Nachmittage engagiere? Ich hole Sie ab. Wir würden mittags miteinander essen, und von zwei bis vier, oder bis fünf, wenn Sie wollen, helfen Sie mir, bei mir da oben Ordnung zu machen. Was halten Sie davon, liebes Kind?“
Sie nickte, sagte: „Ja.“ Noch traute sie sich nicht, den violetten Heuss übers Schwämmchen zu ziehen, ihn auf den Umschlag an Schrit zu kleben: ein Postbeamter würde den Brief aus dem Kasten nehmen, die Maschine würde stempeln: 6. September 1958, 13 Uhr. Da saß der Alte, er war wieder am Ende seines achten, am Anfang seines neunten Jahrzehnts angekommen.
„Ja, ja“, sagte sie.
„Ich darf Sie also als engagiert betrachten?“
„Ja.“
Sie blickte in sein schmales Gesicht, in dem sie seit Jahren vergeblich Ähnlichkeit mit seinem Sohn suchte; nur Höflichkeit schien eine verbindende Fähmelsche Familieneigenschaft zu sein; bei dem Alten war sie umständlicher, verziert, war Höflichkeit alten Schlags, fast Grandezza, nicht höfliche Mathematik wie bei seinem Sohn, der Trockenheit kultivierte, nur im Schimmer seiner grauen Augen ahnen ließ, dass er zu weniger trockenen Liebenswürdigkeiten fähig gewesen wäre. Der Alte benutzte sein Taschentuch wirklich, kaute an seiner Zigarre, sagte ihr manchmal Nettigkeiten über ihre Frisur, ihren Teint; sein Anzug zeigte wenigstens Spuren von Verschleiß, die Krawatte war immer etwas schief gebunden, Tuscheflecken hatte er an den Fingern, Radierkrümel auf den Rockaufschlägen, Bleistifte, harte und weiche, in der Westentasche, und manchmal nahm er ein Blatt Papier aus dem Schreibtisch seines Sohnes, kritzelte rasch einen Engel hin, ein Gotteslamm, einen Baum, das Porträt eines draußen vorübereilenden Zeitgenossen. Manchmal auch gab er ihr Geld, Kuchen zu holen, bat sie, eine zweite Kaffeetasse anzuschaffen, und machte sie glücklich, weil sie den elektrischen Kocher endlich für jemand anderen als sich selbst einstöpseln konnte. Das war Büroleben, wie sie’s gewohnt war: Kaffee kochen, Kuchen kaufen und was erzählt bekommen, das seine richtige Reihenfolge hatte: von den Leben, die da hinten im Wohnflügel gelebt, von den Toden, die da gestorben worden waren. Jahrhundertelang hatten die Kilbs dort hinten Laster und Licht gesucht, Sünde und Heil, waren Kämmerer, Notare, Bürgermeister und Domherren geworden; dort hinten war noch etwas von den strengen Gebeten späterer Prälaten in der Luft; die düsteren Laster jungfräulich gebliebener Kilbinnen und die Bußübungen frommer Jünglinge, in diesem dunklen Haus da hinten, in dem jetzt an den stillen Nachmittagen ein blasses, dunkelhaariges Mädchen seine Schularbeiten machte und auf seinen Vater wartete. Oder war er nachmittags zu Hause? Zweihundertundzehn Flaschen Wein, leergetrunken zwischen Anfang Mai und Anfang September. Trank er sie allein, mit seiner Tochter, oder mit Gespenstern? Vielleicht mit diesem Schrella, der nie versucht hatte, ihn zu erreichen? Unwirklich alles, weniger wirklich als das aschblonde Haar der Bürokraft, die vor fünfzig Jahren hier an ihrem Platz gesessen und Notariatsgeheimnisse gehütet hatte.
„Ja, da saß sie, liebe Leonore, genau an der Stelle, wo Sie jetzt sitzen, sie hieß Josephine.“ Hatte er auch der Nettigkeiten über ihr Haar, ihren Teint gesagt?
Lachend zeigte der Alte auf den Wandspruch, der über dem Schreibtisch seines Sohnes hing, einziges Überbleibsel aus vergangener Zeit, weiß auf Mahagoni gemalt: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Sinnspruch Kilbscher wie Fähmelscher Unbestechlichkeit.
„Meine beiden Schwäger hatten keine Lust an der Juristerei, die letzten männlichen Nachkommen des Geschlechts, den einen zog’s zu den Ulanen, den anderen zum Nichtstun, aber beide, der Ulan und der Nichtstuer sind am gleichen Tag, im gleichen Regiment, beim gleichen Angriff gefallen, bei Erby le Huette ritten sie ins Maschinengewehrfeuer, löschten den Namen Kilb aus, trugen Laster, die wie Scharlach blühten, ins Grab, ins Nichts, bei Erby le Huette.“
Glücklich war der Alte, wenn er Mörtelspuren an den Hosenbeinen hatte und sie bitten konnte, diese Spuren zu entfernen. Oft trug er dicke Zeichenrollen unter dem Arm, von denen sie nie wusste, ob er sie nur seinem Archiv entnommen hatte oder zu wirklichen Aufträgen unterwegs war.
Er schlürfte den Kaffee, lobte ihn, schob ihr den Kuchenteller zu, zog an seiner Zigarre. Andacht kehrte auf sein Gesicht zurück. „Schulkamerad von Robert? Den müsste ich doch kennen. Schrella hieß er bestimmt nicht? Sind Sie sicher – nein, nein, der würde ja niemals solche Zigarren rauchen, welch ein Unsinn. Und Sie haben ihn ins Prinz Heinrich geschickt? Das wird aber Krach geben, liebe Leonore, Stunk. Er liebt es nicht, wenn man seine Kreise stört, mein Sohn Robert. Der war schon als Junge so: liebenswürdig, höflich, intelligent, korrekt, aber wenn’s über bestimmte Grenzen ging, kannte er keinen Pardon. Der wäre nicht vor einem Mord zurückgeschreckt. Ich hatte immer ein wenig Angst vor ihm. Sie auch? Aber Kind, der wird Ihnen doch deshalb nichts tun, seien Sie vernünftig. Kommen Sie, gehen wir essen, feiern ein wenig Ihr neues Engagement und meinen Geburtstag. Machen Sie keinen Unsinn. Wenn er am Telefon schon geschimpft hat, ist’s ja vorüber. Schade, dass Sie den Namen nicht behalten haben. Ich wusste gar nicht, dass er mit ehemaligen Schulkameraden Umgang pflegt. Los. Kommen Sie. Heute ist Samstag, und er hat nichts dagegen, wenn Sie ein wenig früher Schluss machen. Ich verantworte das schon.“
Es schlug zwölf von Sankt Severin. Sie zählte rasch die Briefumschläge, dreiundzwanzig, raffte sie zusammen, hielt sie fest. War er wirklich nur eine halbe Stunde bei ihr gewesen? Eben fiel der zehnte der zwölf fälligen Schläge.
„Nein, danke“, sagte sie, „ich zieh den Mantel nicht an und, bitte, nicht in den Löwen.“
Nur eine halbe Stunde; die Druckereimaschinen stampften nicht mehr, aber der Keiler blutete noch.
Kapitel II
Das war für den Portier schon Zeremonie geworden, fast Liturgie, ihm in Fleisch und Blut übergegangen: jeden Morgen Punkt halb zehn den Schlüssel vom Brett zu nehmen, die leichte Berührung der trockenen gepflegten Hand zu spüren, die den Schlüssel entgegennahm; ein Blick in das strenge, blasse Gesicht mit der roten Narbe über dem Nasenbein; dann nachdenklich, mit einem winzigen Lächeln, das nur seine Frau hätte bemerken können, Fähmel nachzublicken, der die einladende Geste des Liftboys ignorierte und, wenn er die Treppe hinaufging, mit dem Schlüssel zum Billardzimmer leicht gegen die Messingstäbe des Geländers schlug: fünfmal, sechsmal, siebenmal klang es auf, wie von einem Xylophon, das nur einen einzigen Ton hat, und eine halbe Minute später kam dann Hugo, der ältere der beiden Boys, fragte: „Wie immer?“, und der Portier nickte, wusste, dass Hugo ins Restaurant gehen, einen doppelten Cognac, eine Karaffe Wasser holen und bis elf verschwunden sein würde, im Billardzimmer oben.
Der Portier witterte Unheil hinter dieser Gewohnheit, morgens zwischen halb zehn und elf in Gesellschaft immer desselben Boys Billard zu spielen; Unheil oder Laster; gegen Laster gab es einen Schutz: Diskretion; die hatte ihren Preis, ihre Kurve, Diskretion und Geld waren voneinander abhängig, wie Abszisse und Ordinate; wer hier ein Zimmer bekam, kaufte diskrete Gewissen; Augen, die sahen und doch nicht sahen, Ohren, die hörten und doch nicht hörten; gegen Unheil aber gab es keinen Schutz: Er konnte nicht jeden potentiellen Selbstmörder vor die Tür weisen, denn potentielle Selbstmörder waren sie alle; das kam sonnengebräunt mit Filmschauspielergesicht, sieben Koffern, nahm lachend den Zimmerausweis in Empfang, und sobald die Koffer gestapelt waren, der Boy das Zimmer verlassen hatte, zogs die geladene, schon entsicherte Pistole aus der Manteltasche und knallte sich eins vor den Kopf; das kam wie aus Gräbern dahergeschlichen, mit goldenen Zähnen, goldenem Haar, in goldenen Schuhen, grinste wie ein Skelett; Gespenster auf der vergeblichen Suche nach Lust, bestellten Frühstück für halb elf aufs Zimmer, hängten den Zettel ‚Bitte nicht stören‘ draußen an die Klinke, Turmten Koffer von innen vor die Tür und schluckten die Giftkapsel, und lange bevor erschrockene Zimmermädchen Frühstückstabletts fallen ließen, raunte es im Haus: ‚Auf Zimmer 12 liegt eine Tote‘, raunte schon nachts, wenn verspätete Bargäste auf ihre Zimmer schlichen und das Schweigen hinter der Tür von Zimmer zwölf ihnen unheimlich war; es gab solche, die das Schweigen des Schlafs vom Schweigen des Todes zu unterscheiden wussten. Unheil: er witterte es, wenn er Hugo eine Minute nach halb zehn mit dem großen Cognac, der Wasserkaraffe ins Billardzimmer hinaufgehen sah.
Um diese Zeit konnte er den Boy schlecht missen; Hände knäuelten sich auf seiner Theke, rechnungheischende, Prospekte einsammelnde Hände, und er ertappte sich immer wieder dabei, dass er um diese Zeit – wenige Minuten nach halb zehn – anfing, unhöflich zu werden; jetzt ausgerechnet zu dieser Lehrerin, der achten oder neunten, die nach dem Weg zu den römischen Kindergräbern fragte; ihre rote Gesichtshaut ließ auf ländliche Herkunft schließen, Handschuhe und Mantel nicht auf Einkünfte, wie sie bei den Gästen des Prinz Heinrich vorauszusetzen waren, und er fragte sich, wie sie in den Pulk aufgeregter Ziegen hineingeraten sein mochte, von denen keine es für nötig befunden hatte, nach dem Zimmerpreis zu fragen, oder würde sie, die jetzt verlegen an ihren Handschuhen zerrte, das deutsche Wunder vollbringen, für das Jochen zehn Mark Prämie ausgesetzt hatte: „Zehn Mark zahle ich dem, der mir einen Deutschen nennt, der nach dem Preis für irgend etwas gefragt hat.“ Nein, auch sie würde ihm die Prämie nicht einbringen; er zwang sich zur Ruhe, erklärte ihr freundlich den Weg zu den römischen Kindergräbern.
Die meisten verlangten gerade nach dem Boy, der nun für eineinhalb Stunden im Billardzimmer bleiben würde, wollten alle von ihm ihre Koffer in die Halle, zum Autobus der Fluggesellschaft, zu Taxis, an den Bahnhof gebracht haben; misslaunige Globetrotter, die in der Halle auf ihre Rechnung warteten, über Startzeiten und Ankunftszeiten von Flugzeugen sprachen, wollten von Hugo Eis für ihren Whisky, von ihm Feuer für ihre Zigaretten, die sie unangezündet im Munde hängen ließen, um Hugos guten Drill auf die Probe zu stellen; nur Hugo wollten sie mit lässigen Händen Dank winken, nur wenn Hugo da war, zuckten ihre Gesichter in geheimnisvollen Spasmen; ungeduldig waren diese Gesichter, deren Besitzer es kaum erwarten konnten, ihre schlechte Laune in ferne Erdteile zu tragen, sie waren startbereit, um in persischen oder oberbayrischen Hotelspiegeln den Grad der Gegerbtheit ihrer Haut festzustellen. Schrille Weiberstimmen schrieen nach Liegengelassenem; „Hugo, mein Ring“, „Hugo, meine Handschuhe“, „Hugo, mein Lippenstift“, erwarteten alle, dass Hugo zum Aufzug flitzen, lautlos nach oben fahren und auf Zimmer 19, Zimmer 32, Zimmer 46, nach Ring, Handtasche, Lippenstift fahnden würde; und die alte Musch brachte ihren Köter an, der gerade Milch geschleckt, Honig gefressen, Spiegeleier verschmäht hatte und nun spazieren geführt werden musste, damit er an den Pfosten von Verkaufsbuden, an parkenden Autos, haltenden Straßenbahnen seine hündische Notdurft erleichtere und seinen absterbenden Geruchssinn erneuere; offenbar konnte nur Hugo des Hundes seelischer Situation gerecht werden: und schon hatte die Oma Bleesiek, die jedes Jahr für vier Wochen herüberkam, ihre Kinder und die stetig wachsende Zahl ihrer Enkel zu besuchen, schon hatte sie, kaum angekommen, nach Hugo gefragt: „Ist er noch da, das Jüngelchen mit dem Ministrantengesicht, der schmale und so blasse, rotblonde, der immer so ernsthaft dreinblickt?“ Hugo soll ihr beim Frühstück, während sie Honig schleckte, Milch trank und Spiegeleier nicht verschmähte, aus der Lokalzeitung vorlesen; verzückt blickte die Alte auf, wenn Straßennamen fielen, die ihr aus der Kinderzeit noch vertraut waren: Unfall am Ehrenfeldgürtel. Raubüberfall an der Friesenstraße. „So lange Zöpfe hab ich gehabt, als ich dort Rollschuh lief – so lang, mein Junge.“ Zart war die Alte, zäh – kam sie nur Hugos wegen über den großen Ozean geflogen? „Wie?“ sagte sie enttäuscht, „Hugo ist erst nach elf frei?“