„Meine Herren“, sagte eine warme Bassstimme mit russischem Akzent, „wozu so viel Aufregung um eine Illusion. Ich habe eine Flasche Wodka mit durchgebracht. Darf ich anbieten? Wodka wärmt das Herz und beruhigt das Gemüt.“
Der Russe entkorkte die Flasche, trank und reichte sie Steiner. Der nahm einen Schluck und gab sie an Kern weiter. Kern schüttelte den Kopf.
„Trink, Baby“, sagte Steiner. „Gehört dazu. Musst es lernen.“
„Wodka särr gutt!“ bestätigte der Pole.
Kern nahm einen Schluck und gab die Flasche an den Polen, der sie mit geübtem Griff in die Gurgel schwenkte.
„Er säuft sie aus, der Eierfetischist!“ knurrte der Mann mit dem Poulet und entriss ihm die Flasche. „Es ist nicht mehr viel drin“, sagte er bedauernd zu dem Russen, nachdem er getrunken hatte.
Der wehrte ab. „Macht nichts. Ich komme spätestens heute abend ’raus.“
„Sind Sie dessen so sicher?“ fragte Steiner.
Der Russe machte eine kleine Verbeugung. „Leider, möchte ich fast sagen. Ich besitze als Russe einen Nansenpass[17].“
„Nansenpass!“ wiederholte das Poulet ehrfürchtig. „Da gehören Sie natürlich zur Aristokratie der Vaterlandslosen.“
„Es tut mir leid, dass es bei Ihnen noch nicht soweit ist“, sagte der Russe höflich.
„Sie hatten den Vorrang“, erwiderte Steiner. „Sie waren die ersten. Sie hatten das große Mitleid der Welt. Wir haben nur noch das kleine. Man bedauert uns; aber wir sind lästig und unerwünscht.“
Der Russe hob die Schultern. Dann reichte er die Flasche dem letzten Mann in der Zelle, der bisher schweigend dagesessen hatte. „Bitte, nehmen Sie doch auch einen Schluck.“
„Danke“, sagte der Mann ablehnend. „Ich gehöre nicht zu Ihnen.“
Alle sahen ihn an.
„Ich besitze einen gültigen Pass, ein Vaterland. Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.“
Alle schwiegen. „Verzeihen Sie die Frage“, sagte der Russe nach einer Weile zögernd, „weshalb sind Sie denn dann hier?“
„Wegen meines Berufes“, erwiderte der Mann hochmütig. „Ich bin kein windiger Flüchtling ohne Papiere. Ich bin ein anständiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Bürgerrecht.“
Mittags gab es dünne Bohnensuppe ohne Bohnen. Abends dasselbe, nur hieß es diesmal Kaffee, und es gab ein Stück Brot dazu. Um sieben Uhr klapperte die Tür. Der Russe wurde abgeholt, wie er es vorausgesagt hatte. Er verabschiedete sich wie von alten Bekannten. „Ich werde in vierzehn Tagen ins Café Sperler schauen“, sagte er zu Steiner. „Vielleicht sind Sie dann schon dort und ich weiß schon etwas. Auf Wiedersehen!“
Um acht Uhr war der Vollbürger und Falschspieler reif für den Anschluss. Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und ließ sie herumgehen. Alle rauchten. Die Zelle bekam durch die Dämmerung und die glühenden Zigaretten fast etwas Heimatliches. Der Taschendieb erzählte, dass man nur nachforsche, ob er im letzten halben Jahr einen Coup[18] gemacht habe. Er glaube nicht, dass man etwas fände. Dann schlug er vor, ein Spiel zu machen und zauberte aus seinem Jackett ein Paket Karten.
Es war dunkel geworden, und das elektrische Licht wurde nicht angezündet. Der Falschspieler war darauf vorbereitet. Er zauberte noch einmal – eine Kerze und Streichhölzer. Die Kerze wurde auf einen Mauervorsprung geklebt. Sie gab ein mattes, flakkerndes Licht.
Der Pole, das Poulet und Steiner rückten heran. „Spielen ohne Geld, nicht wahr?“ sagte das Poulet.
„Selbstverständlich.“ Der Falschspieler lächelte.
„Spielst du nicht mit?“ fragte Steiner Kern.
„Ich kann nicht Karten spielen.“
„Musst du lernen, Baby. Was willst du sonst abends machen?“
„Morgen. Heute nicht.“
Steiner drehte sich um. Das schwache Licht grub tiefe Furchen in sein Gesicht. „Ist was los mit dir?“
Kern schüttelte den Kopf. „Nein. Nur etwas müde. Lege mich auf die Pritsche da.“
Der Falschspieler mischte bereits die Karten. Er hatte eine knatternde, elegante Manier, sie ineinanderschießen zu lassen.
„Wer gibt?“ fragte das Poulet.
Der Vollbürger reichte die Karten herum. Der Pole zog eine Neun, das Poulet eine Dame, Steiner und der Falschspieler jeder ein As.
Der Falschspieler sah kurz auf. „Stechen.“
Er zog. Wieder ein As. Er lächelte und gab das Paket an Steiner. Der warf nachlässig die unterste Karte des Spiels auf – das Kreuz-As.
„So ein Zufall!“ Das Poulet lachte.
Der Falschspieler lachte nicht. „Woher kennen Sie den Trick?“ fragte er Steiner betroffen. „Sind Sie aus der Branche?“
„Nein, Amateur. Da freut einen die Anerkennung des Fachmannes doppelt.“
„Es ist nicht das!“ Der Falschspieler sah ihn an. „Der Trick stammt nämlich von mir.“
„Ach so!“ Steiner zerdrückte seine Zigarette. „Ich habe ihn in Budapest gelernt. Im Gefängnis vor meiner Ausweisung. Von einem gewissen Katscher.“
„Katscher! Jetzt verstehe ich!“ Der Taschendieb atmete auf. „Daher also! Katscher ist ein Schüler von mir. Sie haben das gut gelernt.“
„Ja“, sagte Steiner, „man lernt allerhand, wenn man unterwegs ist.“
Der Falschspieler übergab ihm das Spiel Karten und blickte prüfend in die Kerzenflamme. „Das Licht ist schlecht – aber wir spielen natürlich nur zum Vergnügen, meine Herren, nicht wahr? Ehrlich…“
Kern legte sich auf die Pritsche und schloss die Augen. Er war voll von einer nebelhaften, grauen Traurigkeit. Seit dem Verhör morgens hatte er ununterbrochen an seine Eltern denken müssen; – seit langer Zeit zum erstenmal wieder. Er sah seinen Vater vor sich, als er von der Polizei zurückkam. Ein Konkurrent hatte ihn wegen staatsgefährlicher Reden bei der Gestapo denunziert, um sein kleines Laboratorium für medizinische Seifen, Parfüme und Toilettewasser zu ruinieren und es dann für nichts zu kaufen. Der Plan gelang wie tausend andere um diese Zeit. Kerns Vater kam völlig gebrochen nach sechs Wochen Haft zurück. Er sprach nie darüber; aber er verkaufte seine Fabrik für einen lächerlichen Preis an den Konkurrenten. Bald darauf kam die Ausweisung, und damit begann die Flucht ohne Ende. Von Dresden nach Prag; von Prag nach Brünn; von da nachts über die Grenze nach Österreich – am nächsten Tag durch die Polizei zurück in die Tschechei – heimlich ein paar Tage später wieder über die Grenze nach Wien – die Mutter mit einem nachts gebrochenen Arm, notdürftig im Walde mit zwei Aststücken geschient – von Wien nach Ungarn; ein paar Wochen bei Verwandten der Mutter – dann wieder Polizei; der Abschied von der Mutter, die bleiben konnte, weil sie ungarischer Herkunft war – wieder die Grenze; wieder Wien – das erbärmliche Hausieren mit Seife, Toilettewasser, Hosenträgern und Schnürsenkeln – die ewige Angst, angezeigt oder erwischt zu werden – der Abend, an dem der Vater nicht wiederkam – die Monate allein, von einem Versteck zum andern…
Kern drehte sich um. Dabei stieß er jemand an. Er öffnete die Augen. Auf der Pritsche neben ihm lag wie ein schwarzes Bündel in der Dunkelheit der letzte Bewohner der Zelle, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der sich den ganzen Tag noch kaum gerührt hatte.
„Entschuldigung“, sagte Kern. „Ich habe Sie nicht gesehen…“
Der Mann antwortete nicht. Kern bemerkte, dass er die Augen offen hatte. Er kannte die Art von Zuständen; er hatte sie oft unterwegs gesehen. Es war am besten, den Mann in Ruhe zu lassen.
„Verdammt!“ schrie plötzlich in der Ecke der Kartenspieler das Poulet auf. „Ich Ochse! Ich unerhörter Ochse!“
„Wieso?“ fragte Steiner ruhig. „Die Herzdame war genau richtig!“
„Das meine ich ja nicht! Aber dieser Russe hätte mir doch mein Poulet schicken können! Herrgott, ich dämlicher Ochse! Ich einfach wahnsinniger Ochse!“
Er sah sich um, als ob die Welt untergegangen wäre.
Kern merkte auf einmal, dass er lachte. Er wollte nicht lachen. Aber er konnte plötzlich nicht mehr aufhören. Er lachte, dass er sich schüttelte, und er wusste nicht weshalb. Irgend etwas in ihm lachte und warf alles durcheinander – Traurigkeit, Vergangenheit und alle Gedanken.
„Was ist los, Baby“ fragte Steiner und blickte von seinen Karten auf.
„Ich weiß nicht. Ich lache.“
„Lachen ist immer gut.“ Steiner zog den Pickönig und trumpfte dem sprachlosen Polen einen todsicheren Stich ab.
Kern griff nach einer Zigarette. Alles erschien ihm auf einmal ganz einfach. Er beschloss, morgen Karten spielen zu lernen, und er hatte das merkwürdige Gefühl, als ändere dieser Entschluss sein ganzes Leben.
2
Nach fünf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden können. Steiner und er schieden als Freunde. Der Falschspieler hatte die Zeit dazu benützt, die Methode seines Schülers Katscher bei Steiner zu vollenden. Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns. Er brachte ihm Skat[19], Jass[20], Tarock[21] und Poker bei – Skat für Emigranten; Jass für die Schweiz; Tarock für Österreich und Poker für alle anderen Fälle.
Nach vierzehn Tagen wurde Kern heraufgeholt. Ein Inspektor führte ihn in einen Raum, in dem ein älterer Mann saß. Das Zimmer erschien Kern riesig groß und so hell, dass er blinzeln musste; er war schon an die Zelle gewöhnt.
„Sie sind Ludwig Kern, staatenlos, Student, geboren 30. November 1914 in Dresden?“ fragte der Mann gleichgültig und blickte in ein Papier.
Kern nickte. Er konnte nicht sprechen. Seine Kehle war plötzlich trocken. Der Mann sah auf.
„Ja“, sagte Kern heiser.
„Sie haben sich ohne Papiere und unangemeldet in Österreich aufgehalten…“ Der Mann las rasch das Protokoll herunter. „Sie sind zu vierzehn Tagen Haft verurteilt, die inzwischen verbüßt worden sind. Sie werden aus Österreich ausgewiesen. Jede Rückkehr ist strafbar. Hier ist der gerichtliche Ausweisungsbeschluss. Und hier haben Sie zu unterschreiben, dass Sie den Ausweisungsbeschluss zur Kenntnis genommen haben und wissen, dass jede Rückkehr strafbar ist. Hier rechts.“
Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Kern sah wie gebannt auf die etwas schwammige Hand mit den dicken Adern, die das Streichholz hielt. Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen – nachher würde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Gläser Heurigen trinken – gegen elf Uhr würde er gähnen, seine Zeche zahlen und erklären: „Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen.“ Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit würde die Dunkelheit dicht über den Wäldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, müde, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Pass genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.
„Hier rechts“, sagte der Beamte. „Vor- und Zuname.“
Kern riss sich zusammen und unterschrieb.
„An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?“ fragte der Beamte.
„An die tschechische.“
„Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.“
„Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?“
„Was für Sachen?“
„Einen Koffer mit Wäsche und so was.“
„Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie können vorbeigehen.“
Der Inspektor führte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf. „Was war los?“ fragte das Poulet neugierig.
„In einer Stunde kommen wir ’raus.“
„Jesus Christus!“ sagte der Pole. „Geht Scheiße dann wieder los.“
„Möchtest du hier bleiben?“ fragte das Poulet.
„Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.“
Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont. Der Pole sah ihm zu. „In ein, zwei Jahren das dirr ganz eggal“, prophezeite er.
„Wohin gehst du?“ fragte das Poulet.
„Tschechei. Und du? Nach Ungarn?“
„Schweiz. Hab’s mir überlegt. Komm mit. Von da lassen wir uns dann nach Frankreich schieben.“
Kern schüttelte den Kopf. „Nein, ich will sehen, dass ich nach Prag komme.“
Ein paar Minuten später wurde Steiner wieder hereingebracht. „Weißt du, wie der Polizist heißt, der mich bei der Verhaftung ins Gesicht geschlagen hat?“ fragte er Kern. „Leopold Schäfer. Er wohnt Trautenaugasse 27. Sie haben es mir aus dem Protokoll vorgelesen. Natürlich nicht, dass er mich geschlagen hat. Nur dass ich ihn bedroht hätte.“ Er sah Kern an. „Glaubst du, dass ich den Namen und die Adresse vergessen werde?“
„Nein“, sagte Kern. „Bestimmt nicht.“
„Das meine ich auch!“
Ein Kriminalbeamter in Zivil holte Steiner und Kern ab. Kern war aufgeregt. Vor der Tür blieb er unwillkürlich stehen. Das Bild, das er sah, prallte wie ein weicher, südlicher Wind gegen seine Stirn. Der Himmel war blau und ein wenig dämmerig über den Häusern, die Giebel leuchteten im letzten, roten Schein der Sonne, der Donaukanal schimmerte, und auf der Straße schoben sich beglänzte Autobusse durch den Strom heimkehrender und spazierender Menschen. Eine Schar Mädchen in hellen Kleidern drängte lachend und eilig dicht vorbei. Kern glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.
„Los, gehen wir“, sagte der Kriminalbeamte.
Kern zuckte zusammen. Beschämt sah er an sich herunter. Er bemerkte, dass ein Vorbeigehender ihn ungeniert musterte. Sie gingen durch die Straßen, der Beamte in der Mitte. Die Cafés hatten Tische und Stühle herausgestellt, und überall saßen fröhliche, plaudernde Menschen. Kern senkte den Kopf und begann, schneller zu gehen. Steiner sah ihn mit gutmütigem Spott an. „Na, Kleiner, ist nichts für uns, was? Das da.“
„Nein“, erwiderte Kern und presste die Lippen zusammen.
Sie kamen zu ihrer Pension. Die Wirtin empfing sie mit einer Mischung von Ärger und Mitleid. Sie gab ihnen ihre Sachen gleich heraus. Es war nichts gestohlen worden. Kern hatte in der Zelle die Absicht gehabt, ein sauberes Hemd anzuziehen, aber jetzt, nachdem er durch die Straßen gegangen war, tat er es nicht. Er nahm den zerstoßenen Koffer unter den Arm und bedankte sich bei der Wirtin.
„Es tut mir leid, dass Sie solche Unannehmlichkeiten hatten“, sagte er.
Die Wirtin wehrte ab. „Lassen Sie sich’s nur gut gehen. Und Sie auch, Herr Steiner. Wo soll’s denn hin?“
Steiner machte eine ziellose Geste. „Den Weg der Grenzwanzen. Von Gebüsch zu Gebüsch.“
Die Wirtin stand einen Augenblick unentschlossen. Dann trat sie mit energischem Schritt an ein Wandschränkchen aus Nussbaumholz, das in Form einer mittelalterlichen Burg gearbeitet war. „Nehmen Sie noch einen auf den Weg…“
Sie holte drei Gläser und eine Flasche hervor und schenkte ein.
„Sliwowitz[22]?“ fragte Steiner.
Sie nickte und bot dem Beamten auch ein Glas an.
Der wischte sich den Schnurrbart. „Unsereins tut schließlich nur seine Pflicht“, erklärte er.
„Natürlich!“ Die Wirtin goss sein Glas wieder voll. „Warum trinken Sie denn nicht?“ fragte sie Kern.
„Ich kann nicht. So auf den leeren Magen…“
„Ach so!“ Die Wirtin blickte ihn prüfend an. Sie hatte ein schwammiges, kaltes Gesicht, das jetzt unversehens wärmer wurde. „Gott ja, er wächst wohl noch“, murmelte sie. „Franzi“, rief sie dann. „Ein belegtes Brot!“
„Danke, das ist nicht nötig“, Kern errötete. „Ich habe keinen Hunger.“
Die Kellnerin brachte ein großes doppeltes Schinkenbrot. „Zieren Sie sich nicht“, sagte die Wirtin. „Vorwärts.“
„Willst du nicht die Hälfte?“ fragte Kern Steiner. „Es ist zuviel für mich.“
„Rede nicht! Iß!“ erwiderte Steiner.
Kern aß das Schinkenbrot auf und trank ein Glas Sliwowitz.
Dann verabschiedeten sie sich. Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Ostbahnhof. Im Zug fühlte sich Kern plötzlich sehr müde. Das Rattern des Wagens schläferte ihn ein. Er sah die Häuser wie im Traum vorübergleiten, Fabrikhöfe, Straßen, Wirtsgärten mit hohen Nussbäumen, Wiesen, Felder und die sanfte, blaue Dämmerung des Abends. Er war satt, das wirkte auf ihn wie ein Rausch. Seine Gedanken wurden unscharf, sie verloren sich in Träumen – von einem weißen Hause zwischen blühenden Kastanien, von einer Deputation feierlicher Menschen in Gehröcken, die ihm einen Ehrenbürgerbrief überreichten, und von einem uniformierten Diktator, der ihn weinend kniefällig um Entschuldigung bat.
Es war fast dunkel, als sie am Zollhaus ankamen. Der Kriminalbeamte übergab sie der Zollwache und stapfte dann zurück durch die fliederfarbene Dämmerung.
„Es ist noch zu früh“, sagte der Zollbeamte, der die Automobile abfertigte. „So um halb zehn ist die beste Zeit.“
Kern und Steiner setzten sich vor die Tür auf eine Bank und sahen zu, wie die Automobile ankamen. Nach einiger Zeit kam ein zweiter Zollbeamter heraus. Er führte sie rechts vom Zollhaus einen Fußweg entlang. Sie kamen durch Felder, die stark nach Erde und Tau rochen, an ein paar Häusern mit erleuchteten Fenstern und einem Waldstreifen vorbei. Nach einiger Zeit blieb der Beamte stehen. „Geht hier weiter und haltet euch links, damit ihr durch die Büsche gedeckt seid, bis ihr an die March kommt. Sie ist jetzt nicht tief. Ihr könnt leicht hindurchwaten.“
Die beiden gingen. Es war sehr still. Nach einer Weile sah Kern sich um. Die schwarze Silhouette des Beamten hob sich vom Horizont ab. Er beobachtete sie. Sie gingen weiter.
An der March zogen sie sich aus. Sie packten ihre Kleider und ihr Gepäck zu einem Bündel zusammen. Das Wasser war moorig und schimmerte braun und silbern. Es waren Sterne und Wolken am Himmel, und der Mond brach manchmal durch.
„Ich werde vorangehen“, sagte Steiner. „Ich bin größer als du.“
Sie wateten durch den Fluß. Kern fühlte das Wasser kühl und geheimnisvoll an seinem Körper hochsteigen, als wollte es ihn nie mehr freigeben. Vor ihm tastete sich Steiner langsam und vorsichtig vorwärts. Er hielt seinen Rucksack und seine Kleider über den Kopf. Seine breiten Schultern waren weiß vom Mond überschienen. In der Mitte des Flusses blieb er stehen und sah sich um. Kern war dicht hinter ihm. Er lächelte und nickte ihm zu.
Sie kletterten ans gegenüberliegende Ufer und trockneten sich mit ihren Taschentüchern flüchtig ab. Dann zogen sie sich an und gingen weiter. Nach einer Weile blieb Steiner stehen. „Jetzt sind wir über die Grenze“, sagte er. Seine Augen waren hell und fast gläsern in dem durchscheinenden Licht. Er sah Kern an. „Wachsen die Bäume anders? Riecht der Wind anders? Sind es nicht dieselben Sterne? Sterben die Menschen anders?“
„Nein“, sagte Kern. „Das nicht. Aber ich fühle mich anders.“
Sie suchten sich einen Platz unter einer alten Buche, wo sie vor Sicht geschützt waren. Vor ihnen lag eine langsam abfallende Wiese. In der Ferne schimmerten die Lichter eines slowakischen Dorfes. Steiner band seinen Rucksack auf, um nach Zigaretten zu suchen. Dabei sah er auf Kerns Koffer. „Ich habe gefunden, dass ein Rucksack praktischer ist als ein Koffer. Er fällt nicht so auf. Man hält dich für einen harmlosen Wandervogel.“
„Wandervögel revidiert man auch“, erwiderte Kern. „Alles, was arm aussieht, revidiert man. Ein Auto wäre das beste.“
Sie zündeten sich Zigaretten an. „Ich gehe in einer Stunde zurück“, sagte Steiner. „Und du?“
„Ich will versuchen, nach Prag zu kommen. Die Polizei ist da besser. Man bekommt leicht ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis, und dann muss man weitersehen. Vielleicht finde ich auch meinen Vater, und er kann mir helfen. Ich habe gehört, er wäre da.“
„Weißt du, wo er wohnt?“
„Nein.“
„Wieviel Geld hast du?“
„Zwölf Schilling.“
Steiner kramte in seiner Rocktasche. „Hier hast du etwas dazu. Das reicht ungefähr bis Prag.“
Kern blickte auf. „Nimm’s ruhig“, sagte Steiner. „Ich habe noch genug für mich.“
Er zeigte ein paar Scheine. Kern konnte es im Schatten der Bäume nicht sehen, was für welche es waren. Er zauderte einen Augenblick. Dann nahm er das Geld.
„Danke“, sagte er.
Steiner erwiderte nichts. Er rauchte. Die Zigarette glomm auf, wenn er zog, und beleuchtete sein verschattetes Gesicht. „Weshalb bist du eigentlich unterwegs?“ fragte Kern zögernd. „Du bist doch kein Jude!“
Steiner schwieg eine Zeitlang. „Nein, ich bin kein Jude“, sagte er endlich.
Es raschelte im Gebüsch hinter ihnen. Kern sprang auf. „Ein Hase oder ein Kaninchen“, sagte Steiner. Dann wandte er sich Kern zu. „Damit du daran denken kannst, Kleiner, wenn du mal verzweifelst. Du bist draußen, dein Vater ist draußen, deine Mutter ist draußen. Ich bin draußen – aber meine Frau ist in Deutschland. Und ich weiß nichts von ihr.“
Es raschelte wieder hinter ihnen. Steiner drückte seine Zigarette aus und lehnte sich an den Stamm der Buche. Es begann zu wehen. Der Mond hing über dem Horizont. Ein Mond, kreidig und unbarmherzig wie in jener letzten Nacht.
Nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager hatte Steiner sich eine Woche lang bei einem Freunde verborgen gehalten. Er hatte in einer abgeschlossenen Dachkammer gesessen, immer bereit, über das Dach zu fliehen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hören würde. Nachts brachte ihm der Freund Brot, Konserven und ein paar Flaschen Wasser. In der zweiten Nacht ein paar Bücher. Steiner las sie tagsüber immer wieder, um sich abzulenken. Seine Notdurft musste er in einen Topf verrichten, der in einem Pappkarton verborgen war. Der Freund holte ihn nachts herunter und brachte ihn wieder hinauf. Sie mussten so vorsichtig sein, dass sie kaum miteinander flüsterten; die Dienstmädchen, die nebenan schliefen, hätten sie hören und verraten können.
„Weiß Marie es?“ fragte Steiner in der ersten Nacht.
„Nein. Das Haus ist bewacht.“
„Ist ihr etwas passiert?“
Der Freund schüttelte den Kopf und ging.
Steiner fragte immer dasselbe. Jede Nacht. In der vierten Nacht brachte der Freund endlich die Nachricht, dass er sie gesehen habe. Sie wisse jetzt, wo er sei. Er habe es ihr zuflüstern können. Morgen sähe er sie wieder. Auf dem Wochenmarkt im Gedränge. Steiner verbrachte den nächsten Tag damit, ihr einen Brief zu schreiben, den der Freund ihr zustecken sollte. Abends zerriss er ihn. Er wusste nicht, ob man sie beobachtete. Nachts bat er aus demselben Grunde den Freund, sie nicht mehr zu treffen. Er blieb noch drei Nächte in der Kammer. Endlich kam der Freund mit Geld, einer Fahrkarte und einem Anzug. Steiner schnitt sich das Haar und wusch es mit Wasserstoffsuperoxyd hell. Dann rasierte er sich den Schnurrbart ab. Vormittags verließ er das Haus. Er trug eine Monteurjacke und einen Kasten mit Werkzeug. Er sollte sofort aus der Stadt hinaus; aber er wurde schwach. Es war zwei Jahre her, dass er seine Frau gesehen hatte. Er ging zum Wochenmarkt. Nach einer Stunde kam sie. Er fing an zu zittern. Sie ging an ihm vorüber, aber sie sah ihn nicht. Er folgte ihr, und als er dicht hinter ihr war, sagte er: „Sieh dich nicht um! Ich bin’s! Geh weiter! Geh weiter!“
Ihre Schultern zuckten, und sie warf den Kopf zurück. Dann ging sie weiter. Aber es war, als wäre sie nur noch ein einziges Lauschen nach rückwärts.
„Hat man dir etwas getan?“ fragte die Stimme hinter ihr.
Sie schüttelte den Kopf.
„Beobachtet man dich?“
Sie nickte.
„Jetzt?“
Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich gehe jetzt gleich. Will versuchen, durchzukommen. Ich kann dir nicht schreiben. Es ist zu gefährlich für dich.“
Sie nickte.
„Du musst dich von mir scheiden lassen.“
Die Frau verhielt eine Sekunde den Schritt. Dann ging sie weiter.
„Du musst dich von mir scheiden lassen. Du musst morgen hingehen. Du musst sagen, dass du dich wegen meiner Gesinnung scheiden lassen willst. Du hättest das alles früher nicht gewusst. Hast du es verstanden?“
Die Frau rührte den Kopf nicht. Sie ging steif aufgerichtet weiter.
„Versteh mich doch“, flüsterte Steiner. „Es ist nur, damit du in Sicherheit bist! Es würde mich verrückt machen, wenn sie dir was täten! Du musst dich scheiden lassen – dann lassen sie dich in Ruhe!“
Die Frau antwortete nicht.
„Ich liebe dich, Marie“, sagte Steiner leise, zwischen den Zähnen hindurch, und die Augen flimmerten ihm vor Erregung. „Ich liebe dich, und ich gehe nicht weg, wenn du es nicht versprichst! Ich gehe zurück, wenn du es nicht versprichst! Verstehst du mich?“