Книга Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - читать онлайн бесплатно, автор Варлам Тихонович Шаламов
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Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке
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Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке

Warlam Schalamow / Варлам Шаламов

Über die Kolyma / На Колыме. Книга для чтения на немецком языке

Translated into German by Gabriele Leupold

© MSB Matthes & Seitz BerlinVerlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018

All rights reserved.

© КАРО, 2019

Vorwort

Viele, allzu viele Zweifel plagen mich. Nicht bloß Dinge, die jeder Memoirenschreiber, jeder Schriftsteller, sei er groß oder klein, kennt. Wird irgendjemand diese traurige Erzählung brauchen? Eine Erzählung nicht von einem siegreichen Geist, sondern einem zertretenen. Nicht Bekräftigung von Leben und Glauben[1] im tiefsten Unglück, wie die »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«*, sondern Hoffnungslosigkeit und Zerfall. Wer braucht sie als Exempel, wen kann sie erziehen, vor Schlechtem bewahren und wen Gutes lehren? Wird sie Bekräftigung des Guten sein, trotz allem des Guten – denn im ethischen Wert sehe ich das einzige wahre Kriterium für Kunst.

Und warum ich? Ich bin nicht Amundsen* und nicht Peary. Meine Erfahrung wird von Millionen Menschen geteilt. Zweifellos sind unter diesen Millionen solche, deren Auge schärfer, deren Leidenschaft stärker, deren Gedächtnis besser und deren Talent reicher ist. Sie schreiben über dasselbe und werden sicherlich prägnanter erzählen als ich.

Wer wenig weiß – weiß viel

Es gibt auch andere, »subtilere« Zweifel. In der Literatur gilt als ausgemacht[2], dass ein Schriftsteller gut nur über das schreiben kann, was er gut und gründlich kennt; je besser seine Kenntnis des »Materials«, je gründlicher seine persönliche Erfahrung auf diesem Gebiet, desto gewichtiger und bedeutsamer das von ihm Geschriebene.

Dem kann man nicht zustimmen. In Wirklichkeit verhält es sich anders. Der Schriftsteller braucht die geringe und wenig gründliche Erfahrung, die ausreichend ist für seine Glaubhaftigkeit, eine Erfahrung, die nicht entscheidend Einfluss nehmen kann auf seine Einschätzungen, emotionale wie logische, auf seine Auswahl, auf das gesamte Gefüge seines künstlerischen Denkens. Der Schriftsteller darf das Material nicht gut kennen, denn das Material wird ihn erdrücken. Der Schriftsteller ist der Späher der Leserwelt[3], er muss Fleisch vom Fleische der Leser sein, für die er schreibt oder schreiben wird.

Kennt er die fremde Welt zu gut und zu genau, nimmt der Schriftsteller ihre Bewertungen in sich auf, und nun wird seine Feder geführt und Wichtigkeit, Gleichgültigkeit oder Lächerlichkeit bekräftigt – Bewertungen der fremden Welt. Der Leser wird den Schriftsteller verlieren (und umgekehrt). Sie werden einander nicht verstehen.

In gewissem Sinn muss der Schriftsteller ein Ausländer sein in der Welt, von der er schreibt. Nur dann kann er kritisch sein gegenüber dem Material, [wird er] frei sein in seinen Bewertungen. Ist seine Erfahrung nicht sehr gründlich, dann kann der Schriftsteller, wenn er das Gesehene und Gehörte dem Urteil des Lesers übergibt, die Maßstäbe richtig zuteilen. Wie aber von dem erzählen, wovon man nicht erzählen darf? Man die passenden Worte nicht finden kann. Vielleicht wäre es einfacher zu sterben.

Man kann nicht gut von dem erzählen, was man aus der Nähe kennt.


Tjutschews Auffassung, ein Gedanke, geäußert, sei Lüge*, beklemmt auch mich. Der sprechende Mensch (der geäußerte Gedanke) kann nur lügen, nur schönfärben. Die Fähigkeit, die Seele nach außen zu kehren, ist äußerst selten und Dostojewskij nachzuahmen unmöglich. All das, was auf dem Papier erscheint, ist in gewissem Maße ausgedacht.

Die Krümel von Aufrichtigkeit bewahren, so unansehnlich sie auch seien. Ringen mit der künstlerischen Wahrheit im Namen der Wahrheit des Lebens[4] – diese Aufgabe ist noch nicht so schwer. Schwer ist das andere, dass die Wahrheit des Lebens selbst auf flüchtige Weise wechselhaft ist. Sie ist eine Eintagsfliege, ist weder die, die sie gestern war, noch die sie morgen sein wird. Das Gefühl ist das Einzige, worin der Künstler nicht lügt. Wenn es ihm gelingt, dieses Gefühl auf beliebige Weise an den Leser heranzutragen, ist er im Recht, hat er seine Schlacht gewonnen. Aber wie?! Kann man dieses Gefühl weitergeben, wenn man nicht die Sprache benutzt, die den Künstler auf seinen Irrfahrten begleitet hat, sondern eine andere Sprache – auch eine unvergleichlich reichere, doch eine andere?

Das Gedächtnis*

Die Unvollkommenheit des Instruments, das sich Gedächtnis nennt, lässt mir ebenfalls keine Ruhe. Viele höchst charakteristische Kleinigkeiten sind unweigerlich vergessen – ich muss nach zwanzig Jahren schreiben. Fast spurlos verloren ist allzu vieles – in der Landschaft wie in den Innenräumen und vor allem in der Abfolge der Empfindungen. Der gesamte Ton der Darstellung kann nicht so sein, wie er sein sollte. Der Mensch merkt sich das Schöne und Gute besser und vergisst das Schlechte leichter. Schlechte Erinnerungen bedrücken, und die Kunst zu leben, falls es sie gibt – ist im Grunde die Kunst zu vergessen.

Ich habe keinerlei Aufzeichnungen gemacht, konnte sie nicht machen. Es gab eine einzige Aufgabe: zu überleben. Die schlechte Ernährung führte zu schlechter Versorgung der Hirnzellen – und das Gedächtnis ließ aus rein physischen Gründen unweigerlich nach. Es wird sich natürlich nicht an alles erinnern. Dabei ist ja die Erinnerung der Versuch, das Frühere zu erleben, und jeder weitere Monat, jedes weitere Jahr lassen den Eindruck und die Empfindung unweigerlich verblassen und verändern ihre Bewertung.

Viele Male kam mir in aller Augenfälligkeit in den Sinn[5], dass der intellektuelle Abstand vom sogenannten einfachen Menschen bis zu Immanuel Kant wohl um ein Vielfaches größer ist als der Abstand vom »einfachen Menschen« bis zu seinem Arbeitspferd.

Knut Hamsun hat uns mit dem »Segen der Erde«[6] einen genialen Versuch hinterlassen, die Psychologie eines einfachen Bauern darzustellen, der fern der Kultur lebt – seine Interessen, seine Handlungen und ihre Motive. Ich kenne in der Weltliteratur kein anderes solches Buch. Überall sonst stopfen die Autoren mit beklemmender Beharrlichkeit ihre Helden mit einer wirklichkeitsfernen, viel komplexeren Psychologie. Der Mensch hat viel mehr vom Tier, als es uns scheint. Er ist um vieles primitiver, als es uns scheint. Und selbst wenn er gebildet ist, nutzt er dieses Instrument zur Verteidigung seiner primitiven Gefühle. In einer Situation aber, wo die tausendjährige Zivilisation abfällt wie eine Schale[7] und das animalische biologische Wesen vollkommen offen hervortritt, werden die Reste der Kultur zum realen und brutalen Kampf um das Leben in seiner unmittelbaren, primitiven Form genutzt.

Wie davon erzählen? Wie begreiflich machen, dass das Denken, die Gefühle, die Handlungen des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht, sein Wortschatz reduziert und seine Sinne abgestumpft? Von diesem Leben kann man nicht in der ersten Person erzählen. Denn eine solche Erzählung würde niemanden interessieren – so arm und begrenzt wäre die seelische Welt des Helden.

Wie zeigen, dass der seelische Tod vor dem physischen Tod eintritt? Und wie den Prozess des physischen Verfalls[8] und parallel des geistigen Verfalls zeigen? Wie zeigen, dass geistige Kraft keine Stütze sein, den physischen Verfall nicht aufhalten kann?

Vor Zeiten stritt ich in der Zelle des Butyrka-Gefängnisses mit Aron Kogan, einem begabten Dozenten der Fliegerakademie. Kogan war der Ansicht, dass die Intelligenz als gesellschaftliche Gruppe erheblich schwächer sei als jede andere Klasse. Doch in Gestalt ihrer Vertreter sei sie in wesentlich höherem Grad zu Heroismus fähig als jeder Arbeiter und jeder Kapitalist. Das war ein freundlicher, aber falscher Gedanke. Das bestätigte sich schnell bei der Anwendung der berüchtigten »Methode Nr. 3«* in Verhören. Das Gespräch mit Kogan fand Anfang 1937 statt, und geschlagen wurde in der Untersuchungshaft ab der zweiten Hälfte 1937, und die Schläge des Untersuchungsrichters[9] trieben allen Intellektuellen-Heroismus schnell aus. Das bestätigte sich auch in meinen langjährigen Beobachtungen an den unglücklichen Menschen. Geistige Überlegenheit[10] verkehrte sich in ihr Gegenteil, Stärke verkehrte sich in Schwäche und wurde zur Quelle zusätzlicher moralischer Leiden – für jene im Übrigen wenigen Intellektuellen, die außerstande waren, sich von der Zivilisation als einer unbequemen, ihre Bewegungsfreiheit einschränkenden Kleidung zu trennen. Das bäuerliche Leben unterschied sich wesentlich weniger vom Lagerleben als das Leben der Intelligenz, und darum wurden physische Leiden von den Bauern leichter ertragen und waren kein weiterer moralischer Druck.

Der Intellektuelle konnte das Lager im Voraus nicht durchdenken durchdenken, konnte es theoretisch nicht erfassen. Die gesamte persönliche Erfahrung des Intellektuellen ist reinster Empirismus in jedem Einzelfall. Wie von diesen Schicksalen erzählen? Es sind ihrer Tausende, Zehntausende …

Wie das Gesetz des Verfalls herleiten[11]? Das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall? Wie davon erzählen, dass nur die Religiösen eine vergleichsweise aufrechte Gruppe waren? Dass sich Parteimitglieder und Geistesarbeiter schneller demoralisieren ließen als andere? Worin gründete das Gesetz? In der physischen Stärke? Im Vorhandensein irgendeiner Idee? Wer kommt eher um? Die Schuldigen oder die Unschuldigen? Warum waren in den Augen des einfachen Volks die Intellektuellen im Lager nicht Märtyrer einer Idee? Dass der Mensch des Menschen Wolf ist und wann das so ist. An welcher letzten Grenze kommt das Menschliche abhanden? Wie von alldem erzählen?

Die Sprache

In welcher Sprache mit dem Leser sprechen? Wenn man nach Authentizität, nach Wahrheit strebt, wird die Sprache arm, dürftig. Das Metaphorische, das Komplexe der Rede entsteht auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und verschwindet, wenn diese Stufe in umgekehrter Richtung überschritten wird. Die Chefs, die Kriminellen – buchstäblich alle – reizt das Geschraubte[12] in der Sprache der Intelligenz. Und ohne es selbst zu merken, verliert der Intellektuelle alles »Unnütze« in seiner Sprache … Meine ganze weitere Erzählung ist auch von dieser Seite unweigerlich zur Falschheit, zur Unwahrheit verdammt. Nicht ein einziges Mal hing ich einem langen Gedanken nach. Versuche, das zu tun, verursachten geradezu körperlichen Schmerz. Nicht ein einziges Mal in diesen Jahren war ich von der Landschaft entzückt – wenn sich mir etwas eingeprägt hat, so hat es sich später eingeprägt. Nicht ein einziges Mal fand ich in mir die Kraft zu energischer Empörung. All meine Gedanken waren demütig und stumpf. Diese sittliche und geistige Stumpfheit hatte ein Gutes – ich hatte keine Angst vor dem Tod und dachte ruhig daran. Mehr als der Gedanke an den Tod beschäftigte mich der Gedanke an das Mittagessen, an die Kälte, an die Schwere der Arbeit – kurz, der Gedanke an das Leben. Aber war das überhaupt ein Gedanke? Das war eine Art instinktives, primitives Denken. Wie sich in diesen Zustand zurückversetzen[13] und in welcher Sprache davon erzählen? Eine Bereicherung der Sprache bedeutet eine Verarmung der Erzählung im Sinne der Wahrheitstreue, der Wahrhaftigkeit.

Ich muss in der Sprache schreiben, in der ich heute schreibe, und natürlich hat sie sehr wenig gemein mit der Sprache, die ausreichend wäre zur Wiedergabe jener primitiven Gefühle und Gedanken, die mein Leben in jenen Jahren ausmachten. Ich werde mich bemühen, die Abfolge der Empfindungen wiederzugeben – und nur darin sehe ich eine Möglichkeit, die Wahrhaftigkeit der Darstellung zu bewahren. Alles Übrige aber – Gedanken, Worte, Landschaftsbeschreibungen, Exzerpte aus der Literatur[14], Alltagsszenen – wird nicht in ausreichendem Grad wahrhaftig sein. Aber dennoch würde ich wünschen, dass diese Wahrheit die Wahrheit jener Zeit damals wäre, die Wahrheit von vor zwanzig Jahren und nicht die Wahrheit meines heutigen Weltempfindens[15].

[Die Verhaftung]

Am 12. Januar 1937 wurde ich verhaftet* und fürs Erste von einem Praktikanten mit Namen entweder Romanow oder Limanow verhört, einem jungen rotwangigen Praktikanten, der bei jeder seiner Fragen errötete – etwas Vasomotorisches, ein Gefäßspiel, wohl wie bei Grodsenskij*, der bis zu den Haarwurzeln oder sogar bis zu den Fußsohlen errötete.

»Also können Sie schreiben, dass Sie im Jahr 29 diese Ansichten teilten und heute nicht mehr teilen?«

»Ja.«

»Und Sie können das unterschreiben?«

»Natürlich.«

Der vasomotorische Untersuchungsführer[16] ging irgendwo raus und zeigte jemandem etwas, und gegen Abend verlegte man mich an die Lubjanka 14*, in die Moskauer Kommandantur, wo ich schon vor acht Jahren war und sämtliche Gepflogenheiten und Perspektiven der Lubjanka 14 kannte – das ist der »Hundezwinger«, der Sammelpunkt, von dort geht es entweder in die Freiheit, und das kam vor, oder in die Lubjanka 2, das heißt, du bist ein Staatsverbrecher, ein gestandener Feind höchsten Ranges, der kurz vor dem Höchstmaß* steht, oder aber ins Butyrka-Untersuchungsgefängnis, wo du, als Volksfeind erkannt, immerhin der Isolation, mit Minus oder Plus*, unterworfen wirst.

Darum ist die Butyrka zwar Leben, aber keine Freiheit. Frei kommt man aus der Butyrka nicht. Und nicht wegen der staatlichen Reputation (»die GPU* verhaftet keinen umsonst«), sondern einfach wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades[17], dem ein anderes Kreistempo zu geben, dessen Lauf zu verändern niemand den Willen, die Fähigkeit, die Erlaubnis und das Recht besitzt. Die Butyrka ist das Staatsrad.

Untersuchungsführer Botwin, der mein Verfahren führte und es zum glücklichen Ende brachte – nicht zu einem Tribunal natürlich, aber mit dem Tribunal hat er mir mehrfach gedroht, sondern bis zur Winzschrift[18] des millionenfachen Kürzels KRTD. Übrigens steckte das Tribunal im Buchstaben »T«. Schon das Wort »Tribunal« führte diesen Todesbuchstaben, doch Untersuchungsführer Botwin konnte wohl kaum die wahre Rolle ermessen, die dieser geheime dunkle Buchstabe, aller magischen Kreise würdig[19], einer theurgischen Deutung würdig, im sowjetischen Alphabet besaß. Untersuchungsführer Botwin war ein träger Mann meines Alters und bereitete mein Verfahren gemächlich vor. In meinem Beisein unterbrach er das Verhör und heftete meiner Akte irgendwelche Zettel an. Die Wohnraumkrise, das Fehlen von Arbeitskabinetten, verschärfte alle Operationen der Tscheka. Botwin bekam das Kabinett für die Arbeit mit mir auf eine bestimmte Zeit, und anschließend wurde er hinausgejagt wie »der letzte Lump«[20].

»Du fliegst hier raus, wie der letzte Lump, wenn du auch nur eine Stunde bleibst«, hörte ich auf dem Korridor die Stimme irgendeiner hochgestellten Person.

Botwin hatte keinen hohen Dienstgrad und war daher zwangsläufig ein Zyniker und Faulpelz, er sparte Zeit, indem er in meinem Beisein arbeitete. Alle Auskünfte, die zu meiner Akte eintrafen, türmten sich ebenfalls um seinen Tisch. Unsere Beine berührten sich während des Verhörs, so eng waren die damaligen Kabinette noch aus Dsershinskijs Zeit. Man [konnte] mit eigenen Augen jede Zeile dessen lesen, was ohne Eile und ohne eilen zu wollen vor einem ausgebreitet wurde. Ich habe damals mit Vergnügen über den Tisch hinweg meine eigene Akte aus dem Jahr 1929 angeschaut und wiedergelesen. Die Verhaftung, die Verhöre, den Ordner mit den Aussagen der Zeugen[21] zu Beginn und Ende der Untersuchung und schließlich das letzte Blatt in meiner damaligen Akte – die Weigerung, den Erhalt des Urteils zu unterschreiben: drei Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung*. [Das Zeichen] von der gleichgültigen Hand des diensthabenden Kommandanten. Und wer war damals diensthabender Kommandant für den MOK, den Männereinzeltrakt? Gefängniskommandant war Adamson, aber diensthabend war wer? Nein, es war nicht im MOK, sondern im Etappentrakt, dass ich in den Hungerstreik trat. Der Grund? – ich will nicht mit der Konterrevolution sitzen und verlange meine Verlegung zu den Oppositionellen*.

»Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter[22]«, sagte der diensthabende Kommandant gleichgültig zu mir – und tatsächlich [zeigte er] einen Auszug der Rechtsgrundlage, auf diesem Papier war auch das kostbare Zeichen in irgendwessen Schrift und mein Zeichen: »Unterschrift verweigert«.

Botwin las die Akte ebenfalls noch einmal und las sie gemächlich, las noch einmal auch ein anderes bedrohliches Zeichen: »Akte ins Archiv«. Diese Formel bedeutete Aufbewahrung auf ewige Zeiten.

Ich wusste all das auch so. Und Botwin interessierte etwas anderes. Ihn interessierte einfach, wie dieses Verfahren am geschicktesten ausgestalten, in dem sich für die damalige Zeit grenzenlose Möglichkeiten auftaten. Botwin kam immer von irgendeinem Bericht, einen ganzen Stapel Dokumente in der Hand. Neben Zynismus und Faulheit zeigten sich auch die gebührende Dienstbeflissenheit und der Wunsch, sich nichts entgehen zu lassen, nichts aus der Hand zu geben auf dem ruhmreichen Weg. Aus der Technik das Maximum dessen herauszupressen[23], was sie bieten kann.

»Er streckt die Hände nach der Partei aus«, schrie Botwin.

»Wer?«

»Sie.«

Jemand von den Oberen hatte in den Dokumenten Punkte und Gedankenstriche gesetzt … Plötzlich änderte er das Konzept wie auch den Ablauf des Verhörs. Nach dem Erhalt meiner alten Akte waren alle Zeugen aus meinem Verfahren erneut verhört worden – schon mit Blick nicht auf die Verbannung[24], sondern auf ein Tribunal. Zeugen zu meinem Verfahren gab es sehr wenige, jenes Minimum, das heute besser ist als das Maximum. Alle Arbeitskollegen – Gusjatinskij, Schumskij – wurden komplett neu verhört.

Gusjatinskij brachte eine Masse neuer Fakten bei: fuhr nach Kiew, wo er Jefimow lobte, den Direktor des Kiewer Industrie-Instituts, und ehrliche Leninisten beschimpfte. Das alles erschien ihm verdächtig, und er teilte offiziell mit, wer mich der Redaktion empfohlen hatte.

In nichts hatten sich Schumskijs Aussagen verändert – gegenüber seinem ersten Verhör. Schumskij erwies sich keineswegs als Feigling.

Am bedeutendsten waren die Veränderungen in den Aussagen meiner Frau, doch ihren Kern kenne ich nur in der Wiedergabe Botwins: »Auch Ihre Frau sagt über Sie aus, Sie waren ein aktiver Oppositioneller, haben sich nur versteckt und maskiert, na ja.« Aber solche Aussagen fanden sich nicht.

Ich passte für das Kürzel[25].


Vierzehn Jahre später, noch vor der Rehabilitierung, fragte ich [meine Frau]*:

»Was haben sie dir [hineingeschrieben] in deine eigenen Aussagen? Was konntest du in einem Jahr wie 1937 Überflüssiges sagen?«

»Meine Aussage war so: ich kann natürlich nicht sagen, was du in meiner Abwesenheit getan hast, aber in meinem Beisein warst du mit keinerlei trotzkistischen Tätigkeit befasst[26].«

»Na, wunderbar.«

»Du wirst dich einmal im Monat mit Pasternak treffen, und hierher wirst du, na, sagen wir, einmal pro Woche kommen.«

»Pasternak«, sagte ich, »braucht mich mehr als ich ihn. Pasternak hat mir gegeben, was er konnte, in seinen frühen Gedichten, den Gedichten ›Meine Schwester – das Leben‹: Pasternak schuldet mir auch nichts mehr.«

»Gib mir dein Wort, dass du Lenotschka in Frieden lässt und ihre Ideale nicht zerstörst. Sie ist von mir persönlich, ich betone dieses Wort, in offiziellen Traditionen erzogen, und ich will für sie keinen anderen Weg. Mein Auf-dich-Warten über 14 Jahre gibt mir das Recht auf diese Bitte.«

»Na und ob, diese Verpflichtung gehe ich ein und erfülle sie. Noch etwas?«

»Das ist noch nicht das Wichtigste, das Allerwichtigste – du musst alles vergessen.«

»Was alles?«

»… Na, zurückkehren zum normalen Leben …«

Der Weg in die Hölle

Der Dampfer »Kulu« beendete seine fünfte Überfahrt in der Nagajew-Bucht am 14. August 1937. Fünfundvierzig Tage hatte man die »Volksfeinde« – einen ganzen Transportzug von Moskauern – hergefahren. Die warme Stille der Sommernächte, die dumme Freude derer, die man in heizbaren Güterwaggons[27] zu sechsunddreißig Mann transportierte. Die Menschen waren, während sie sich die blasse Gefängnishaut vom heißen Wind aus allen Waggonritzen verbrannten, auf kindliche Art glücklich. Die Untersuchung ist abgeschlossen. Jetzt hat sich ihre Situation geklärt, jetzt fahren sie an die goldene Kolyma, in die fernen Lager, wo das Dasein, wie man hört, märchenhaft ist. Zwei Männer im Waggon lächelten nicht – ich (ich wusste, was das ferne Lager ist) und ein schlesischer Kommunist, der Deutsche Weber, ein Häftling von der Kolyma, den man für irgendwelche Aussagen nach Moskau gebracht hatte. Als einmal wieder ein Ausbruch des Gelächters[28], des nervösen Häftlingsgelächters, verhallt war, gab mir Weber einen Wink mit seinem schwarzen Bart und sagte: »Das sind Kinder. Sie wissen nicht, dass man sie zur physischen Vernichtung bringt.«

Ich erinnere mich noch an Omsk mit seinem vortrefflichen Badehaus, einer militärischen Entlausungsanstalt[29], bei der wir, gewaschen und nach der Desinfektion in feuchter, nach Lysol riechender Kleidung, auf irgendeinem Hof lagen und in die warme, von kleinen grauen Wölkchen umgebene Herbstsonne schauten. Das Laub der Bäume war tiefrot. Zu uns kam ein Oberleutnant des NKWD, fett und rasiert, beide Daumen unter den Ledergürtel geklemmt, der den riesigen Bauch mit Mühe zusammenhielt. Das war der »Repräsentant« des NKWD, der den Transport begleitete. Klagen? Nein, wir klagten nicht, und auch nicht, um Klagen zu hören, war der Leutnant zur Etappe gekommen. Seine Visage, von Fett aufgeschwemmt[30], und die blassen mageren Figuren und die eingefallenen Augen der Häftlinge haben sich mir gut eingeprägt.

»Na, Sie zum Beispiel«, er stieß mit dem Lackstiefel meinen Nachbarn an, »was haben Sie in Freiheit gemacht?«

»Ich bin Mathematikdozent an einer Hochschule.«

»Na, meine Herren Dozenten, ihr werdet kaum in euren Beruf zurückzukehren. Ihr werdet euch anderer Arbeit widmen müssen, nützlicherer …«

Alle schwiegen. Der Leutnant entwickelte seinen Gedanken fort: »Natürlich, ich kann der Regierung und der Partei keinen Rat geben, aber wenn man mich fragte, was mit euch tun, dann wäre mein Rat: alle auf eine nördliche Insel schaffen – na, sagen wir, auf die Wrangelinsel*, dort zurücklassen und die Verbindung zur Insel einstellen. Die ganze Aufgabe wäre im Nu gelöst[31]. Aber sie schaffen euch ins Gold und wollen, dass ihr in den Gruben arbeitet. Arbeiten werdet ihr, ihr Dozenten …«

»Und warum bist du hier?« Der Leutnant richtete den Blick auf Wolodka Iwanow, einen Rotschopf, von Kopf bis Fuß mit Kriminellen-Tätowierungen bedeckt. Man hörte deutlich das Wohlwollen in der Stimme des Oberleutnants.

»Ich bin Erzieher in der Kolonie Bolschewo*. Als Achtundfünfziger. Mit Kürzel.«

»A-ha …«

Und der Leutnant zog weiter.

Ich erinnere mich an den Bauch des Dampfers, wo sich unserer Gruppe ein gewisser Chrenow anschloss, ein Aufgedunsener[32], Langsamer. Gepäck hatte Chrenow nicht dabei für die Kolyma. Dafür ein Bändchen von Majakowskij-Gedichten mit Widmung des Autors. Und für alle, die das wollten, suchte er die Seite und zeigte »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«* und las:

Ich weiß – die Stadt wird werden,Ich weiß – der Garten prangt.Wenn solche Menschen lebenIm großen Sowjetland!

Chrenow war schwerer Herzpatient. Doch man trieb Beinlose wie Siebzigjährige wie Tuberkulosekranke im letzten Stadium an die Kolyma. Für »Volksfeinde« gab es kein Erbarmen. Seine schwere Krankheit rettete Chrenow. Er erlebte als Invalide das Ende der Haftzeit, wurde entlassen und starb an der Kolyma schon als Freier, als einer der wenigen »Glückspilze«.

Ich weiß nämlich nicht, was Glück ist – am Leben bleiben nach großen Qualen oder sterben, ehe die Leiden beginnen.

Ich erinnere mich gut, wie die fünfte Überfahrt der »Kulu« endete.


In der Nagajew-Bucht kam der Dampfer nachts an, und das Ausladen wurde auf den Morgen verschoben. Am Morgen ging ich auf Deck und schaute, und mein Herz zog sich zusammen von gewaltiger Unruhe.

Es fiel feiner kalter Regen. Am Ufer kahle rotstichige Bergkuppen, umgeben von dunkelgrauen Regenwolken. Baracken, umzäunt von Stacheldraht[33]. Eine in die Ferne und in die Höhe führende schmale Straße, und unzählige Bergkuppen …

Drei Tage in der Etappe, in Segeltuchzelten, durchnässt von dem ununterbrochenen Regen. Die Arbeit – Verlegen einer Straße in die Wesjolaja-Bucht. Verladung auf Autos, die Chaussee windet sich zwischen den Bergen, immerzu in die Höhe, mit jeder Kurve wird es immer kälter, die Luft immer trockener, und am zwanzigsten August dann lädt man uns im Bergwerk »Partisan« der Nördlichen Bergwerksverwaltung aus.