Warum erinnere ich mich denn, dass die Überfahrt des Dampfers »Kulu« in der Schifffahrtsperiode des Jahres 1937 eben die fünfte war?
Weil ich es mir fünfzehn Jahre lang in Erinnerung rufen musste bei den endlosen Zählungen, die sich dort »Generalappell « nannten. Weil man sich bei der Überführung von Ort zu Ort, von einem Lagerpunkt zum anderen, jedes Mal derselben Befragung unterziehen musste.
Der Häftling wird im Lager jeden lieben Tag genötigt, auf mehrere Fragen zu antworten.
Name?
Vor- und Vatersname?
Artikel?
Haftdauer?
Ankunft an der Kolyma?
Auf welchem Dampfer?
Mit welcher Überfahrt?
Die drei letzten Fragen werden bei den Appellen gestellt. Und die ersten – jeden Tag mehrmals.
Der Mensch mag sich nicht an das Schlechte erinnern. Man erinnert sich öfter an das Gute. Das ist eines der weisen Gesetze des Lebens, ein Element der Anpassung wohl und des Glättens scharfer Kanten[34]. »Wenn ihr einem jeden begegnen wolltet, wie er’s verdient, wer würde dem Staup-Besen entgehen.«* Diese Hamlet-Worte sind kein Scherz, kein Bonmot. Wenn der Mensch nicht imstande wäre zu vergessen, wer könnte dann leben. Die Kunst zu leben ist die Kunst zu vergessen.
Das ist der Grund, warum unter sehr schwierigen Bedingungen keine Freundschaft geknüpft[35] wird. Und an sehr schwierige Bedingungen keiner zurückdenken möchte. Freundschaft knüpft man in Situationen »mittlerer Schwierigkeit«, wenn das Fleisch auf den menschlichen Knochen noch ausreicht. Das letzte Fleisch aber nährt nur zwei Gefühle: Erbitterung oder Gleichgültigkeit.
Alles, wovon ich erzählen werde, wird zwangsläufig geglättet und abgemildert sein.
Die Zeit wird die wahre Größenordnung einer Begebenheit nur verzerren.
In Moskau waren schon ermordet: Tuchatschewskij, Jakir, Dsidsijewskij und Schmidt*. Jeshow hatte auf einer Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees schon in einem drohenden Vortrag gesagt, in den Arbeitslagern sei »die Disziplin erschlafft«, in Zeitungsartikeln fanden sich immer häufiger Sätze über die »physische Vernichtung des Feindes«, »über die Notwendigkeit der Liquidierung der Trotzkisten«, während das Goldbergwerk, in das wir kamen, noch das frühere »glückliche« Leben lebte.
Den Ankömmlingen wurde eine neue Wintermontur ausgegeben. In der Schuhmacherei stand ein Fass mit Lebertran, aus dem man auch das Schmiermittel schöpfte. Den Ankömmlingen gab man eine dreitägige Ruhepause und machte sie mit der »Produktion« bekannt – Grube, Schaufel, Hacke, Fördersteg und Schubkarre.
Die Maschine des OSO* —zwei Griffe, ein Rad.Die Sanitätsstelle war leer. Die Neulinge interessierten sich nicht einmal für diese Einrichtung.
Die Arbeit – ein Profil öffnen, Sprengungen[36], Abtransport per Hand in den Bunker, von wo aus Pferdeloren alles zur Waschtrommel[37] schaffen, der Waschvorrichtung.
Schwere Arbeit, dafür lässt sich viel verdienen – bis zu zehntausend Rubel in einem Monat der Sommersaison. Im Winter weniger. Bei großer Kälte, über 50 Grad, wird nicht gearbeitet. Im Sommer arbeitet man zehn Stunden mit Schichtpause alle zehn Tage. Die Ruhepause wird »angespart« und dann vorschussweise am 1. Mai und »auf Abrechnung« am 7. November »überreicht«.* Im Dezember wird sechs, im Januar vier, im Februar sechs, im März sieben, im April acht, im Mai und dem ganzen Sommer zehn [Stunden] gearbeitet.
»Wenn ihr gut arbeitet, könnt ihr etwas nach Hause schicken«, sagten die »Inspektoren« den Neulingen während der Führung.
Rationen gab es dreierlei – die Stachanow-, die Stoßarbeiter- und die Produktionsration. Bei der Stachanowration gab es drei Kilo Brot und gutes warmes Essen. Bei Normerfüllung von 110 % gab es die Stoßarbeiterration und von 100 % und darunter die Produktionsration —achthundert Gramm Brot und weniger Gerichte.
Die medizinische Untersuchung teilte alle in vier Kategorien ein.
Die vierte – Gesunde.
Die dritte – die nicht vollkommen Gesunden, aber Leute, die für jede physische Arbeit taugen.
Die zweite – lft (leichte physische Tätigkeit).
Die erste – Invaliden.
Ein Häftling mit der zweiten Kategorie hatte Anrecht auf einen Nachlass von 30 %. Darum tauchten »Stachanowarbeiter der Krankheit« auf, die Hilfsarbeiten erledigten und einen Nachlass bei der Festlegung der Ration bekamen.
Die ungünstigste war die dritte Gruppe – meist eine Gruppe von Menschen der intellektuellen Arbeit.
Das waren die Bersinschen Regeln, die noch bestanden, als unsere Etappe im »Partisan« ankam.
Schon war in Moskau Bersins Schicksal entschieden. Schon wurden die Befehle vom neuen Wein in alten Schläuchen[38] vorbereitet und vervielfältigt.
Schon wurde eine Instruktion vorbereitet, wodurch die alten Schläuche zu ersetzen wären.
All das brachten uns Feldjäger an die Kolyma hinterher.
Die Disziplin war so, dass dem Häftling kein Haar ausfällt, wenn es Moskau nicht befiehlt. Moskau weiß alles und entscheidet das Schicksal jedes der Millionen Häftlinge.
Die Entscheidung wird im Zentrum gefällt und geht »auf dem Befehlsweg« nach unten, an die Peripherie.
Was ist hier am Werk – eine Kettenreaktion oder das Reibungsgesetz? Weder noch. Alle fürchten sich, alle führen die Befehle von oben aus. Alle sind bemüht, sie zu erfüllen. Und das Erfüllen zu vermelden.
Natürlich sind hier Leben und Tod realer. Ein schmächtiger Journalist schreibt in Moskau einen vernichtenden Artikel über die Liquidierung der Feinde, und an der Kolyma nimmt ein Ganove eine Brechstange und bringt einen Alten, einen »Trotzkisten« um. Und hält sich für einen »Volksfreund«.
Mitten im Bergwerk stand ein Zelt, das jedem Neuankömmling mit besonderem Respekt gezeigt wurde. Hier lebten 75 Mann »Trotzkisten«, die die Arbeit verweigerten. Im August bekamen sie die Produktionsration. Im November wurden sie erschossen.
Furchtlosigkeit
Im Januar achtunddreißig wurde unsere Brigade im »Partisan« doch vom Zelt in eine Baracke verlegt. Der Unterschied war gering. Neben dem Zelt hatten die Zimmerleute ein Lärchenholzgerüst[39] montiert, mit einem Balkenabstand von je 3 oder 4 Metern, es in eine Pfahlnut[40] gesetzt, die Pfähle steckten oben und unten in einer großen Einfassung, aus dickeren und längeren Balken montiert als die Balken für die Wände. Aber beide Einfassungen waren ebenfalls zusammengefügt, zusammengesetzt – denn an der Kolyma, noch dazu in der Waldtundra, gibt es keine hohen Bäume. Die längsten Lärchenstämme von bis zu fünfzehn Metern – man hebt sie auf für die Hochspannungsmasten[41] – sind selten, genauso wie die Schneeleoparden, und man nimmt sie nicht für Barackenwände. Jeder Balken jeder Reihe einer solchen Barackenwand wurde auf Moos gestellt, das üppig wuchs in den endlosen Sümpfen der Kolyma. Purpurfarbenes oder hellgrünes Moos bis zu drei Metern Dicke gibt es an der Kolyma überall. Die Moosschicht schwindet und verliert ihre Farbe, sie wird zu braun, schwarz und grau,
Dieses Moos nun, das selbstverständlich jede Brigade für sich holte, an der Kolyma gibt es keinerlei gemeinsame Moosbeschaffung – all das sind die Buchhalterkunststückchen des Lager-Sozialismus. Die Moosbeschaffung wird man mit einem anderen Marschbefehl, auf andere Rechnung machen, oder aber man wird den Gehilfen des Chefs bezahlen.
Auf Werg wurden die Balken nur in Magadan gesetzt, in der Wohnstätte des USWITL-Chefs oder des Direktors von Dalstroj. Dort wurde Werg vom Großen Land* angefahren.
Das flauschige Moos trocknete und zerkrümelte schnell und verwandelte sich in Staub. Zwischen den Balken bildeten sich Ritzen, aber diese Ritzen waren für russische Menschen. Jeder sollte, so der Gedanke der Moskauer, nicht der Magadaner Chefs, seine Ritze verkitten oder zum Beispiel mit den eigenen Fingern zustopfen. Sämtliche Baracken waren im Innern voller Flecken.
Das Gerüst wurde direkt auf die Erde gestellt, auf den Stein, ohne schlaue Tüftelei[42] in Bezug auf die Horizontale oder Vertikale – Lot und Wasserwaage wurden hier wenig genutzt. Wegen der Überraschungen des Dauerfrostbodens grub man die unteren Rahmen niemals in den Boden ein. In der Baracke verlegte man einen Boden aus Treibholz, ebenfalls gewellt und einem Fußboden wenig ähnlich. Eine Decke aber gab es gar nicht. Die Decke war das Dach des erwähnten Segeltuchzelts. Das Segeltuchzelt, eben das, in dem wir im Sommer gewohnt hatten, wurde auf dieses Gerüst aufgezogen, das man neben dem Zelt hingesetzt hatte – und die Winterbaracke war fertig.
Mitten in der Baracke stand ein Ofen – der einzige Ofen der Baracke. Ein Fassofen. An der Kolyma sind alle Öfen so – solche Öfen fressen viel Holz, dafür lassen sie sich leicht anzünden, und
Als Barackentür dienten einfach Bretter, etwas fester zusammengezimmert und schief angenagelt[43] an die Gummischarniere – Stücke von Autoreifen. Und
In der Baracke, an den Türen zur Zone empfingen Aufseher und Lagerältester die Brigade – beide sahen darauf, dass jeder seinen »Stock« hatte und dass er nicht klein, leicht und mickrig[45] war.
Jedes Mal um dieselbe Abend- oder schon Nachtstunde stellte sich heraus, dass ein Teil des Holzes in die Wachabteilung gebracht werden musste. Einen Teil wählten sie auf der Wache für die Diensthabenden aus, und nur das Allerwenigste – das dünne, kurze,
Ich bin groß gewachsen, und das war für mich die gesamte Zeit meiner Haft über Quelle aller möglichen Häftlingsqualen. Mir war die Ration zu gering, ich wurde schneller schwach als alle und sah früher als die anderen, dass die physische Arbeit der Fluch des Menschen ist. Noch dazu ist die Häftlings-, die erzwungene Arbeit auch eine unendliche, alltägliche Erniedrigung. Das wusste ich übrigens auch aus meiner ersten Haftzeit an der Wischera*. Die Unendlichkeit der Erniedrigung durch schwere Arbeit, durch Schläge. Wenn die Ganoven im Goldbergwerk gemeinsam mit der Leitung den Plan aus der Brigade herausprügeln – all das beobachtete ich schon von den ersten Monaten 1938 an.
In mir lebte mit außerordentlicher Stärke ein unendlicher Geist des Widerstands, des rastlosen Protestes gegen all unser Elend, unsere Erniedrigungen. Diesen Protest, diesen Kampf führt man an der Kolyma nicht kollektiv. Ich habe niemanden aufgerufen, meinem Beispiel zu folgen.
Aber schon seit dem »Partisan«, seit der ersten
Sollen sie mich umbringen, Arbeit werden sie von mir nicht bekommen.
Ich bin nicht der Erste und nicht der Letzte. Meine katorga-Entdeckung, scheinbar nicht so sehr groß. Doch an der Kolyma gab sie mir geistige Kraft, gab die Kraft zu leben.
Für das schlimmste Verbrechen an der Kolyma halte ich die Chefarbeit als Brigadier. Andere zum Arbeiten zu zwingen, Menschen zum Arbeiten zwingen, die zum Tod verdammt sind.
Dieser Ansicht war ich im August 1937 und im Mai 1959 und habe diese Ansicht niemals geändert.
Die Arbeit offen und öffentlich verweigern – wozu, ebenfalls offen und öffentlich, alle Chefs der gesamten Kolyma aufrufen: »Wenn du nicht arbeiten willst, weigere dich.« Dieses Gekreisch habe ich bis heute im Ohr.
Für jede Arbeitsverweigerung wurde man 1938, und nicht nur damals, erschossen. Zur Arbeit hat man auszurücken[47]. Das schlimmste Häftlingsverbrechen nach Stalins Kodex ist die Arbeitsverweigerung. Ein Staatsverbrechen, darum ist das Verweigern der Arbeit schon in der Baracke unmöglich. Zur Arbeit hat man auszurücken.
1938 wollte es im »Partisan« kein einziger Chef mit den »Schwachmatikern«[48] riskieren. Jeder, der eine ärztliche und Sanitär-Bescheinigung hatte, war ein Stachanowmann – so lautet die
Der Stachanowarbeiter der Krankheit wurde zu leichten Arbeiten eingesetzt, und er wurde nicht unter dem Knüppel, dem Gewehrkolben der Begleitposten in die Grube getrieben. Aber die Chefs wollten nichts riskieren, die Norm nicht erfüllt – schlecht gearbeitet —, in die RUR mit ihm, in die Rotte mit verschärftem Regime, oder in die BUR, wie die RUR seit einiger Zeit genannt wurde – es scheint den Moskauer Chefs, dass Rotte antisowjetisch klingt und an die Häftlingsrotte erinnert, darum wurde die RUR in allen Bergwerken umbenannt in BUR – Baracke verschärften Regimes.
Für die RUR trug im »Partisan« der Chef ein, sehr rasch – gleich von der Arbeit brachte dich der Begleitposten weg und sperrte dich in die riesige Isolator-Baracke mit Konvoj, mit Posten. Und dorthin kamen viele Menschen. Ihr Aufenthalt in der RUR wurde irgendwie eingetragen, im Buch des RUR-Kommandanten vermerkt, und auch in den Lagerakten der Häftlinge sollte eine Spur hinterlassen bleiben. Aber Spuren in der Akte sind nicht Schläge bei 60 Grad Frost, nicht der
In der RUR gab es auch Essen, das gewöhnliche Lageressen, was für einen Menschen, der nur von der Lagerverpflegung lebt, noch günstiger war, als in der Lagerkantine zu essen, die von Dieben, Brigadieren, Aufsehern und Begleitposten bestohlen wurde.
Die RUR-Verpflegung war für unsereins besser als im Lager.
Die RUR arbeitete beim Holzeinschlag, beim Gräbenziehen – aber ohne Plan, ohne Goldnorm —, also war auch das Arbeitsregime weniger hart.
Ich habe viele Male in der RUR gesessen. Kaum ist meine Zeit dort zu Ende und ich komme ins Bergwerk – heute sind die Arbeits<-Register> schneller —, zu Arm oder Breshnikow, zu Anissimow – und zurück in die RUR.
Und in dieser RUR nun, im »Partisan«, entdeckte ich im Januar oder Februar 1938 in mir eine Eigenschaft …
Der Mensch kennt sich selbst nicht. Die Möglichkeiten des Menschen zum Guten und zum Bösen haben unendlich viele Abstufungen. Die Verbrechen der
Der Grund der menschlichen Seele hat keinen Boden, immer passiert noch Schrecklicheres, noch Gemeineres, als du es gekannt, gesehen und begriffen hast.
Wahrscheinlich hat auch die menschliche Fähigkeit zum Guten unendlich viele Abstufungen – das Wesentliche ist nur, dass der Mensch nicht unter die Bedingungen des höchsten Guten gestellt ist. Der höchsten Probe auf das Gute. In der menschlichen Seele gibt es nicht die absolute Kälte, oder höchstens bei den Ganoven[50], und nicht die Temperatur der Sonne. Auf der Erde würde diese Temperatur die menschliche Seele erbarmungslos verbrennen, ebenso wie die absolute Kälte. Aber nicht nur Gut und Böse. Jede menschliche Eigenschaft hat unendlich viele Ausprägungen – und was positive und was negativ ist, lässt sich im Voraus nicht sagen. Der Weg des Menschen ist das Entdecken seiner selbst, vom ersten bis zum letzten Lebenstag.
Im »Partisan« in der RUR also eröffnete sich mir im Januar 1938 eine objektive Wahrheit.
Der Arbeitstag der RUR war immer gleich, zwei Holztouren vor dem Mittagessen und eine Tour nach dem Mittagessen. Natürlich werden wir nicht kutschiert, sondern eingespannt, acht Mann auf einen Pferdeschlitten – es werden solche Zugriemen gemacht – im Winter, nach Art der Rentierschlitten.
Vier Schlitten fuhren, an der Spitze jedes Schlittens ein Ganove mit Stock, um die Trotzkisten anzutreiben, und Begleitposten gab es zwei – für die gesamte Pferdegruppe.
Man musste die Schlitten etwa zwei Kilometer bis zum Talkessel schaffen; sie dann hochwuchten und auf einem ziemlich steilen Weg über den Schnee schleppen, und dort gab es Stapel – von Baumstümpfen oder Brennholz oder Krummholzwurzeln, all das war schneebedeckt, doch auf dem Berg lag wenig Schnee – alles
Man musste alle Schlitten beladen – jeder
Dann waren alle auf der Straße und fuhren in die Zone, in die RUR.
Jeden Tag belieferten zwei Schlitten vor dem Mittagessen die Wachabteilung, ohne Einfahrt in die Zone, und nach dem Mittagessen fuhren sie nur ins Lager, in die RUR.
Wir wussten nie, wie unser Arbeitstag endet, und unser Tun und Lassen und das unserer Chefs war eine Art Gewohnheitsrecht, nicht mehr.
Gerade traf im Lager eine zusätzliche Abteilung Begleitposten zur Arbeit ein, die Bewachung des Bergwerks und der Häftlinge wurde an der ganzen Kolyma rasch verstärkt. In unserem Bergwerk war die Baracke für die Wache schon gebaut, und nun füllte sie sich mit Bewohnern.
Anstatt selbst nach Holz zu fahren, hatte die Leitung der Abteilung und des Lagers beschlossen, dass wieder die RUR das Holz transportieren wird und doch nicht die Soldaten es »auf dem Buckel« tragen. Die ganze Kolyma würde lachen.
An diesem Tag hielten sie unsere Pferdebrigade nach der dritten Tour fest und versuchten, uns ein viertes Mal nach Holz zu schicken. Sie machten es noch schlimmer – sie befahlen, diese dritten Schlitten in die Wachabteilung zu schaffen. Das Lager blieb ohne Holz. Alle weigerten sich zu fahren.
Drohungen halfen nichts. Es erschien der Chef der Abteilung, der Lagerchef, der Bergwerkschef, der Bevollmächtigte des NKWD.
Vierzig Leichname standen fest für ihre schattenhaften Häftlingsrechte ein – gestern sind wir dreimal gefahren, und zum vierten Mal fahren wir nicht.
Es
Unsere gesamte Brigade umringten Soldaten mit Gewehren und Hunden.
»Hinlegen!«
Die Brigade legte sich in den Schnee.
»Aufstehen!«
Die Brigade stand auf.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Beim Kommando »hinlegen« erklangen Schüsse.
Nach dieser Vorbereitung trat der Bergwerkschef Anissimow vor und sagte, wer nicht ins Holz geht, bekommt eine Haftzeit angehängt.
Alle lagen, und kein Einziger stand auf.
Da trat der Bevollmächtigte hervor – und ließ antreten.
»Du gehst zur Arbeit?«
»Ja.«
»Zur Seite.«
Schließlich hatten sie Freiwillige für zwei Schlitten zusammen.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Sie hatten einen weiteren Schlitten. Übrig blieben wir drei: ich, Uschakow, ein junger [unleserl.] Dieb, und jemand Drittes mit Artikel achtundfünfzig, mit Bart, an seinen Namen erinnere ich mich nicht. Aber auch dieser Dritte mit Bart wurde von uns losgerissen und rannte den in die Berge aufgebrochenen Schlitten hinterher.
Es begann derselbe Spaß.
»Aufstehen!«
Und Schüsse über dem Kopf.
»Den Hund her!«
Sie hetzten den Hund[51] auf uns. Mir zerfetzte der Hund die Kleidung und zerriss die Mütze, aber Uschakow war heil. Wir standen nebeneinander, Uschakow hielt in der Hand eine zerbrochene Rasierklinge und zeigte sie dem Hund, und der Hund stürzte davon – die Erfahrung ist eine große Sache.
Es war klar, wenn man uns nicht auf der Stelle erschießt, dann bringt man uns in die Baracke. Der Hund wurde zurückgerufen, wir kehrten in die kalte, ausgekühlte Baracke zurück, ohne einen einzigen Holzspan[52], aber das war trotz allem ein Sieg, ein Test.
Am nächsten Tag fuhren wir genau dreimal Holz, zweimal vor dem Mittagessen und einmal nach dem Mittagessen.
Während all dieses Tohuwabohus
Ich habe niemals Angst verspürt. Kürzlich fand ich in einem medizinischen Werk heraus, dass Furchtlosigkeit einfach ein verlangsamter Reflex in der menschlichen Natur ist.
Möglich.
<1969>
Neunzehnhundertachtunddreißig
Ich kann mich an das Gesicht jedes Menschen erinnern, den ich an einem vergangenen Tag gesehen habe, vielfach habe ich zu prüfen versucht, bis in welche Tiefen des Hirns dieser Film denn reicht, und die Bemühungen aus Angst vor Erfolg beendet. Der Erfolg ist fruchtlos. Möglich ist jedoch, nicht mein gesamtes Leben zu erinnern und zurückzuholen, sondern sagen wir das Jahr 1938 an der Kolyma.
Wo liegt es, in welcher Ecke, was davon ist vergessen, was geblieben? Ich sage gleich, geblieben ist nicht das Wichtigste, geblieben ist nicht das Eindrücklichste und nicht das Größte, sondern quasi das Unnötige des damaligen Lebens. Es gab 1938 kein jähes Eintauchen ins Elend, in die Hölle, ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich[54], alltäglich und allnächtlich.
Das wohl Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55 Grad. Man haschte nach diesem 56. Grad Celsius, den man an der Spucke bestimmte, die in der Luft gefror, am Geräusch des Frostes, denn der Frost hat eine Sprache, die auf Jakutisch* »Sternenflüstern« heißt. Dieses Sternenflüstern hatten wir uns schnell und grausam angeeignet. Die allerersten Erfrierungen: Finger, Hände, Nase, Ohren und Gesicht, alles, was mit der kleinsten Luftbewegung Frost abbekommt. In den Bergen der Kolyma gibt es keinen Ort, an dem nicht Winde blasen. Die Kälte ist wohl das Schrecklichste. Ich habe mir einmal den Bauch erfroren – der Wind schlug die Wattejoppe auf, während ich in die Kantine lief. Ich bin aber auch nicht gelaufen, an der Kolyma läuft niemand – alle schieben sich nur voran. Ich hatte nicht daran gedacht, als mir in der Kantine der Tabaksbeutel mit Machorka entrissen wurde. Als naiver Mensch hatte ich den Beutel in der Hand gehalten. Ein junger Ganove riss ihn mir aus den Händen und rannte los. Ich rannte ihm hinterher, aber konnte keinen Sprung machen, um meine Beute zu schnappen. Der junge Kerl sprang in die Baracke, ich ihm nach, und sofort wurde ich von einem Schlag mit einem Holzscheit auf den Kopf betäubt – und aus der Baracke hinausgeworfen. Und diesen Schlag habe ich behalten, weil in mir noch irgendwelche menschlichen Gefühle waren, Rache, Wut. Später war all das zerschlagen und verloren.
Ich erinnere mich auch, wie ich hinter einem Tanklaster krieche, er hat Sonnenblumenöl geladen, und mit einem Brecheisen[55] den Tank nicht einschlagen kann – mir fehlen die Kräfte, und ich werfe das Brecheisen weg. Doch die erfahrene Hand eines Ganoven liest das Brecheisen auf, schlägt auf den Tank, und Öl fließt in den Schnee, das wir im Schnee auffangen und gleich mitsamt dem Schnee hinunterschlucken. Natürlich, das meiste räumen die Ganoven ab in Kochgeschirre und Dosen, bis der Laster