Da ich schwieg, fuhr er fort: „Glauben Sie bitte nicht, daß ich ironisch spreche! Lieber Herr, nichts liegt mir ferner, als diese Bürgerlichkeit und Ordnung etwa verlachen zu wollen. Es ist ja richtig, ich selbst lebe in einer andern Welt, nicht in dieser, und vielleicht wäre ich nicht imstande, es auch nur einen Tag lang in einer Wohnung mit solchen Araukarien auszuhalten. Aber wenn ich auch ein alter und etwas ruppiger Steppenwolf bin, so bin doch auch ich der Sohn einer Mutter, und auch meine Mutter war eine Bürgersfrau und zog Blumen und wachte über Stube und Treppe, Möbel und Gardinen und bemühte sich, ihrer Wohnung und ihrem Leben so viel Sauberkeit, Reinheit und Ordentlichkeit zu geben, als nur immer gehen wollte. Daran erinnert mich der Hauch von Terpentin, daran die Araukarie, und da sitze ich denn hie und da[8], sehe in diesen stillen kleinen Garten der Ordnung und freue mich, daß es das noch gibt.“
Er wollte aufstehen, hatte aber Mühe damit und wies mich nicht ab, als ich ihm dabei ein wenig half. Ich blieb schweigsam, aber ich unterlag, ebenso wie es zuvor meiner Tante ergangen war, irgendeinem Zauber, den der seltsame Mensch zuweilen haben konnte. Wir gingen langsam miteinander die Treppen hinauf, und vor seiner Türe, schon die Schlüssel in der Hand, blickte er mir nochmals voll und sehr freundlich ins Gesicht und sagte: „Sie kommen aus Ihrem Geschäft? Nun ja, davon verstehe ich nichts, ich lebe so etwas abseits, etwas am Rande, wissen Sie. Aber ich glaube, Sie haben auch Interesse für Bücher und dergleichen, ihre Tante sagte mir einmal, daß Sie das Gymnasium absolviert haben und ein guter Grieche waren[9]. Nun, ich habe da heut morgen einen Satz bei Novalis gefunden, darf ich Ihnen den zeigen? Sie werden auch Freude daran haben.“
Er nahm mich mit in sein Zimmer, wo es stark nach Tabak roch, zog ein Buch aus einem Haufen heraus, blätterte, suchte– „Auch das ist gut, sehr gut“, sagte er, „hören Sie einmal den Satz: ,Man sollte stolz auf den Schmerz sein – jeder Schmerz ist eine Erinnerung unsres hohen Ranges.’ Fein! Achtzig Jahre vor Nietzsche! Aber das ist nicht der Spruch, den ich meinte – warten Sie – da habe ich ihn. Also: ,Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, als bis sie es können.’ Ist das nicht witzig? Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geschaffen, nicht fürs Denken! Ja, und wer denkt, wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.“
Er hatte mich nun eingefangen[10] und interessiert, und ich blieb eine kleine Weile bei ihm, und von da an kam es nicht selten vor, daß wir auf der Treppe oder auf der Straße, wenn wir uns trafen, ein wenig miteinander sprachen. Dabei hatte ich im Anfang, ebenso wie bei der Araukarie, immer ein wenig das Gefühl, daß er mich ironisierte. Aber es war nicht so. Er hatte vor mir, wie vor der Araukarie, geradezu Hochachtung, er war von seiner Vereinsamung, seinem Schwimmen im Wasser, seiner Entwurzelung so bewußt überzeugt, daß tatsächlich und ohne jeden Hohn zuweilen der Anblick einer alltäglichen bürgerlichen Handlung, die Pünktlichkeit zum Beispiel, mit der ich zu meinen Bürostunden ging, oder der Ausspruch eines Dienstboten oder Trambahnschaffners, ihn begeistern konnte. Zuerst erschien mir das recht lächerlich und übertrieben, so eine Herren- und Bummlerlaune, eine spielerische Sentimentalität. Aber mehr und mehr mußte ich sehen, daß er in der Tat unsre kleine bürgerliche Welt aus seinem luftleeren Räume[11], aus seiner Fremdheit und Steppenwolfigkeit heraus geradezu bewunderte und liebte, als das Feste und Sichere, als das ihm Ferne und Unerreichbare, als die Heimat und den Frieden, zu denen ihm kein Weg gebahnt war. Er zog vor unsrer Zugängerin, einer braven Frau, den Hut jedesmal mit einer wahren Ehrfurcht, und wenn meine Tante sich einmal mit ihm ein wenig unterhielt oder ihn auf eine Reparaturbedürftigkeit an seiner Wäsche, auf einen hängenden Knopf an seinem Mantel aufmerksam machte, dann hörte er mit einer merkwürdigen Aufmerksamkeit und Wichtigkeit zu, als gäbe er sich eine unsägliche und hoffnungslose Mühe, durch irgendeinen Spalt in diese kleine, friedliche Welt einzudringen und dort heimisch zu werden, sei es auch nur für eine Stunde.
Schon bei jenem ersten Gespräch, bei der Araukarie, nannte er sich den Steppenwolf, und auch dies befremdete und störte mich ein wenig. Was waren das für Ausdrücke?! Aber ich lernte, den Ausdruck nicht nur durch Gewöhnung gelten zu lassen, sondern bald nannte ich den Mann bei mir selbst, in meinen Gedanken, nie mehr anders als den Steppenwolf und wüßte auch heute noch kein treffenderes Wort für diese Erscheinung. Ein zu uns, in die Städte und ins Herdenleben verirrter Steppenwolf – schlagender konnte kein andres Bild ihn zeigen, seine scheue Vereinsamung, seine Wildheit, seine Unruhe, sein Heimweh und seine Heimatlosigkeit.
Einmal konnte ich ihn einen ganzen Abend lang beobachten, in einem Symphoniekonzert, wo ich ihn zu meiner Überraschung in meiner Nähe sitzen sah, ohne daß er mich bemerkte. Erst wurde Händel gespielt, eine edle und schöne Musik, aber der Steppenwolf saß in sich versunken ohne Anschluß, weder an die Musik noch an seine Umgebung. Unzugehörig, einsam und fremd saß er, mit einem kühlen, aber sorgenvollen Gesicht vor sich nieder blickend. Dann kam ein anderes Stück, eine kleine Symphonie von Friedemann Bach, und da war ich ganz erstaunt zu sehen, wie nach wenigen Takten mein Fremdling anfing zu lächeln und sich hinzugeben, er sank ganz in sich hinein und sah, wohl zehn Minuten lang, so glücklich versunken und in gute Träume verloren aus, daß ich mehr auf ihn als auf die Musik achtete. Als das Stück zu Ende war, erwachte er, setzte sich gerader, machte Miene aufzustehen und schien gehen zu wollen, blieb dann aber doch sitzen und hörte auch das letzte Stück noch an, es waren Variationen von Reger, eine Musik, die von vielen als etwas lang und ermüdend empfunden wurde. Und auch der Steppenwolf, der anfangs noch aufmerksam und gutwillig zugehört hatte, fiel wieder ab, er steckte die Hände in die Taschen und sank wieder in sich hinein, diesmal aber nicht glücklich und träumerisch, sondern traurig und schließlich böse, sein Gesicht war wieder fern, grau und erloschen, er sah alt und krank und unzufrieden aus.
Nach dem Konzert sah ich ihn auf der Straße wieder und ging hinter ihm her; in seinen Mantel verkrochen, schritt er unlustig und müde in der Richtung nach unsrem Viertel davon, vor einem kleinen altmodischen Wirtshause aber blieb er stehen, sah unschlüssig auf die Uhr und ging hinein. Ich folgte einem augenblicklichen Gelüste und ging ihm nach. Da saß er an einem kleinbürgerlichen Wirtstisch, Wirtin und Kellnerin begrüßten ihn als bekannten Gast, und ich grüßte und setzte mich zu ihm. Eine Stunde saßen wir dort, und während ich zwei Gläser Mineralwasser trank, ließ er sich einen halben und dann noch einen viertel Liter Rotwein geben. Ich sagte, daß ich im Konzert gewesen sei, aber er ging nicht darauf ein. Er las das Etikett meiner Wasserflasche und fragte, ob ich keinen Wein trinken wolle, zu dem er mich einlade. Als er hörte, daß ich nie Wein trinke, machte er wieder ein hilfloses Gesicht und sagte: „Ja, da haben Sie recht. Ich habe auch jahrelang enthaltsam gelebt und auch lange Zeit gefastet, aber zur Zeit stehe ich wieder im Zeichen des Wassermanns, einem dunklen und feuchten Zeichen.“
Und als ich nun scherzend auf diese Anspielung einging und andeutete, wie unwahrscheinlich es mir sei, daß gerade er an Astrologie glaube, da nahm er wieder den höflichen Ton an, der mich oft verletzte, und sagte: „Ganz richtig, auch an diese Wissenschaft kann ich leider nicht glauben.“
Ich ging und empfahl mich, und er kam erst sehr spät in der Nacht nach Hause, aber sein Schritt war der gewohnte, und wie immer ging er nicht sogleich zu Bett (ich hörte das als sein Zimmernachbar ja genau), sondern hielt sich wohl noch eine Stunde bei Licht in seinem Wohnzimmer auf.
Auch einen andern Abend habe ich nicht vergessen. Da war ich allein zu Hause, die Tante war nicht da, und es läutete an der Haustür, und als ich öffnete, stand da eine junge, sehr hübsche Dame, und als sie nach Herrn Haller fragte, erkannte ich sie: es war die auf der Photographie in seinem Zimmer. Ich zeigte ihr seine Tür und zog mich zurück, sie blieb eine Weile oben, bald darauf aber hörte ich sie miteinander die Treppe hinab- und ausgehen, lebhaft und sehr vergnügt in scherzendem Gespräch. Ich war sehr erstaunt, daß der Einsiedler eine Geliebte habe, und eine so junge, hübsche und elegante, und alle meine Vermutungen über ihn und sein Leben wurden mir wieder ungewiß. Aber eine kleine Stunde später kam er schon wieder nach Hause, allein, mit schwerem, traurigem Schritt, mühte sich die Treppe hinauf[12] und schlich dann stundenlang in seinem Wohnzimmer leise auf und ab, richtig wie ein Wolf im Käfig geht, die ganze Nacht bis fast zum Morgen war Licht in seinem Zimmer.
Ich weiß über dieses Verhältnis gar nichts und will nur hinzufügen: noch einmal sah ich ihn mit jener Frau zusammen, in einer Straße der Stadt. Sie gingen Arm in Arm, und er sah glücklich aus, ich wunderte mich wieder, wieviel Anmut, ja Kindlichkeit sein versorgtes, einsames Gesicht gelegentlich haben konnte, und begriff die Frau und begriff auch die Teilnahme, die meine Tante für diesen Mann hatte. Aber auch an jenem Tage kam er abends traurig und elend nach Hause; ich traf ihn an der Haustür an, er hatte, wie manches Mal, unterm Mantel die italienische Weinflasche bei sich und saß mit ihr die halbe Nacht in seiner Höhle oben. Er tat mir leid, aber was war das auch für ein trostloses, verlorenes und wehrloses Leben, das er führte! Nun, es ist genug geplaudert. Es bedarf weiter keiner Berichte und Schilderungen, um zu zeigen, daß der Steppenwolf das Leben eines Selbstmörders führte. Aber dennoch glaube ich nicht, daß er sich das Leben genommen hat, damals, als er unversehens und ohne Abschied, aber nach Bezahlung aller Rückstände unsre Stadt eines Tages verließ und verschwunden war. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört und bewahren noch immer einige Briefe auf, die noch für ihn ankamen. Zurück ließ er nichts als sein Manuskript, das er während seines hiesigen Aufenthaltes geschrieben hat und das er mit wenigen Zeilen mir zueignete, mit dem Bemerken, ich könne damit machen, was ich wolle.
Es war mir nicht möglich, die Erlebnisse, von denen Hallers Manuskript erzählt, auf ihren Gehalt an Realität nachzuprüfen. Ich zweifle nicht daran, daß sie zum größten Teil Dichtungen sind, nicht aber im Sinn willkürlicher Erfindung, sondern im Sinne eines Ausdrucksversuches, der tief erlebte seelische Vorgänge im Kleide sichtbarer Ereignisse darstellt. Die zum Teil phantastischen Vorgänge in Hallers Dichtung stammen vermutlich aus der letzten Zeit seines hiesigen Aufenthaltes, und ich zweifle nicht daran, daß ihnen auch ein Stück wirklichen, äußeren Erlebens zugrunde liegt. In jener Zeit zeigte unser Gast in der Tat ein verändertes Benehmen und Aussehen, war sehr viel außer Hause, zuweilen auch ganze Nächte, und seine Bücher lagen unberührt. Die wenigen Male, die ich ihn damals antraf, schien er auffallend lebendig und verjüngt, einige Male geradezu vergnügt. Gleich darauf folgte allerdings eine neue schwere Depression, er blieb tagelang im Bett, ohne Essen zu begehren, und in jene Zeit fiel auch ein außerordentlich heftiger, ja brutaler Zank mit seiner wieder aufgetauchten Geliebten, der das ganze Haus revoltierte und für welchen Haller tags darauf meine Tante um Entschuldigung gebeten hat.
Nein, ich bin davon überzeugt, daß er sich nicht das Leben genommen hat. Er lebt noch, er geht irgendwo auf seinen müden Beinen die Treppen fremder Häuser auf und ab, starrt irgendwo auf blankgescheuerte Parkettböden und auf sauber gepflegte Araukarien, sitzt in Bibliotheken und Nächte in Wirtshäusern oder liegt auf einem gemieteten Kanapee, hört hinter den Fenstern die Welt und die Menschen leben und weiß sich ausgeschlossen, tötet sich aber nicht, denn ein Rest von Glaube sagt ihm, daß er dies Leiden, dies böse Leiden in seinem Herzen zu Ende kosten und daß dies Leiden es sei, woran er sterben müsse. Ich denke oft an ihn, er hat mir das Leben nicht leichter gemacht, er hatte nicht die Gabe, das Starke und Frohe in mir zu stützen und zu fördern, oh, im Gegenteil! Aber ich bin nicht er, und ich führe nicht seine Art von Leben, sondern meine, ein kleines und bürgerliches, aber gesichertes und von Pflichten erfülltes. Und so können wir seiner in Ruhe und Freundschaft denken, ich und meine Tante, welche mehr über ihn zu sagen wüßte als ich, aber das bleibt in ihrem gütigen Herzen verborgen.
* * *Was nun die Aufzeichnungen Hallers betrifft, diese wunderlichen, zum Teil krankhaften, zum Teil schönen und gedankenvollen Phantasien, so muß ich sagen, daß ich diese Blätter, wären sie mir zufällig in die Hand gefallen und ihr Urheber mir nicht bekannt gewesen, gewiß entrüstet weggeworfen hätte. Aber durch meine Bekanntschaft mit Haller ist es mir möglich geworden, sie teilweise zu verstehen, ja zu billigen. Ich würde Bedenken tragen, sie anderen mitzuteilen, wenn ich in ihnen bloß die pathologischen Phantasien eines einzelnen, eines armen Gemütskranken sehen würde. Ich sehe in ihnen aber etwas mehr, ein Dokument der Zeit, denn Hallers Seelenkrankheit ist – das weiß ich heute – nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit selbst, die Neurose jener Generation, welcher Haller angehört, und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigsten, begabtesten.
Diese Aufzeichnungen – einerlei, wie viel oder wenig realen Lebens ihnen zugrunde liegen mag – sind ein Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Sie bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden. Ein Wort Hallers hat mir den Schlüssel zu diesem Verständnis gegeben. Er sagte einmal zu mir, nachdem wir über sogenannte Grausamkeiten im Mittelalter gesprochen hatten: „Diese Grausamkeiten sind in Wirklichkeit keine. Ein Mensch des Mittelalters würde den ganzen Stil unseres heutigen Lebens noch ganz anders als grausam, entsetzlich und barbarisch verabscheuen! Jede Zeit, jede Kultur, jede Sitte und Tradition hat ihren Stil, hat ihre ihr zukommenden Zartheiten und Härten, Schönheiten und Grausamkeiten, hält gewisse Leiden für selbstverständlich, nimmt gewisse Übel geduldig hin. Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. Ein Mensch der Antike, der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unsrer Zivilisation ersticken müßte. Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht. Natürlich spürt das nicht ein jeder gleich stark. Eine Natur wie Nietzsche hat das heutige Elend um mehr als eine Generation voraus erleiden müssen – was er einsam und unverstanden auszukosten hatte, das erleiden heute Tausende.“
Dieses Wortes mußte ich beim Lesen der Aufzeichnungen oft gedenken. Haller gehört zu denen, die zwischen zwei Zeiten hineingeraten, die aus aller Geborgenheit und Unschuld herausgefallen sind, zu denen, deren Schicksal es ist, alle Fragwürdigkeiten des Menschenlebens gesteigert als persönliche Qual und Hölle zu erleben.
Darin, scheint mir, liegt der Sinn, den seine Aufzeichnungen für uns haben können, und darum entschloß ich mich, sie mitzuteilen. Im übrigen will ich sie nicht in Schutz nehmen noch über sie urteilen, möge jeder Leser dies nach seinem Gewissen tun!
Harry Hallers Aufzeichnungen
Nur für Verrückte
Der Tag war vergangen, wie eben die Tage so vergehen; ich hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht, mit meiner primitiven und schüchternen Art von Lebenskunst; ich hatte einige Stunden gearbeitet, alte Bücher gewälzt, ich hatte zwei Stunden lang Schmerzen gehabt, wie ältere Leute sie eben haben, hatte ein Pulver genommen und mich gefreut, daß die Schmerzen sich überlisten ließen, hatte in einem heißen Bad gelegen und die liebe Wärme eingesogen, hatte dreimal die Post empfangen und all die entbehrlichen Briefe und Drucksachen durchgesehen, hatte meine Atemübungen gemacht, die Gedankenübungen aber heut aus Bequemlichkeit weggelassen, war eine Stunde spazieren gewesen und hatte schöne, zarte, kostbare Federwölkchenmuster in den Himmel gezeichnet gefunden. Das war sehr hübsch, ebenso wie das Lesen in den alten Büchern, wie das Liegen im warmen Bad, aber – alles in allem – war es nicht gerade ein entzückender, nicht eben ein strahlender, ein Glücks- und Freudentag gewesen, sondern eben einer von diesen Tagen, wie sie für mich nun seit langer Zeit die normalen und gewohnten sein sollten: maßvoll angenehme, durchaus erträgliche, leidliche, laue Tage eines älteren unzufriedenen Herrn, Tage ohne besondere Schmerzen, ohne besondere Sorgen, ohne eigentlichen Kummer, ohne Verzweiflung, Tage, an welchen selbst die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, dem Beispiele Adalbert Stifters zu folgen und beim Rasieren zu verunglücken, ohne Aufregung oder Angstgefühle sachlich und ruhig erwogen wird.
Wer die anderen Tage geschmeckt hat, die bösen, die mit den Gichtanfällen oder die mit jenem schlimmen, hinter den Augäpfeln festgewurzelten, teuflisch jede Tätigkeit von Auge und Ohr aus einer Freude zur Qual verhexenden Kopfweh, oder jene Tage des Seelensterbens, jene argen Tage der inneren Leere und Verzweiflung, an denen uns, inmitten der zerstörten und von Aktiengesellschaften ausgesogenen Erde, die Menschenwelt sogenannte Kultur in ihrem verlogenen und gemeinen blechernen Jahrmarktsglanz auf Schritt und Tritt wie ein Brechmittel entgegengrinst, konzentriert und zum Gipfel der Unleidlichkeit getrieben im eigenen kranken Ich – wer jene Höllentage geschmeckt hat, der ist mit solchen Normal- und Halbundhalbtagen gleich dem heutigen sehr zufrieden, dankbar sitzt er am warmen Ofen, dankbar stellt er beim Lesen des Morgenblattes fest, daß auch heute wieder kein Krieg ausgebrochen, keine neue Diktatur errichtet, keine besonders krasse Schweinerei in Politik und Wirtschaft aufgedeckt worden ist, dankbar stimmt er die Saiten seiner verrosteten Leier zu einem gemäßigten, einem leidlich frohen, einem nahezu vergnügten Dankpsalm, mit dem er seinen stillen, sanften, etwas mit Brom betäubten Zufriedenheitshalbundhalbgott langweilt, und in der laudicken Luft[13] dieser zufriedenen Langeweile, dieser sehr dankenswerten Schmerzlosigkeit sehen die beiden, der öde nickende Halbundhalbgott und der leicht angegraute, den gedämpften Psalm singende Halbundhalbmensch, einander wie Zwillinge ähnlich.
Es ist eine schöne Sache um die Zufriedenheit, um die Schmerzlosigkeit, um diese erträglichen geduckten Tage, wo weder Schmerz noch Lust zu schreien wagt, wo alles nur flüstert und auf Zehen schleicht. Nur steht es mit mir leider so, daß ich gerade diese Zufriedenheit gar nicht gut vertrage, daß sie mir nach kurzer Dauer unausstehlich verhaßt und ekelhaft wird und ich mich verzweiflungsvoll in andre Temperaturen flüchten muß, womöglich auf dem Wege der Lustgefühle, nötigenfalls aber auch auf dem Wege der Schmerzen. Wenn ich eine Weile ohne Lust und ohne Schmerz war und die laue, fade Erträglichkeit sogenannter guter Tage geatmet habe, dann wird mir in meiner kindischen Seele so windig weh und elend, daß ich die verrostete Dankbarkeitsleier dem schläfrigen Zufriedenheitsgott ins zufriedene Gesicht schmeiße und lieber einen rechten teuflischen Schmerz in mir brennen fühle als diese bekömmliche[14] Zimmertemperatur. Es brennt alsdann in mir eine wilde Begierde nach starken Gefühlen, nach Sensationen, eine Wut auf dies abgetönte, flache, normierte und sterilisierte Leben und eine rasende Lust, irgend etwas kaputt zu schlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale oder mich selbst, verwegene Dummheiten zu begehen, ein paar verehrten Götzen[15] die Perücken abzureißen, ein paar rebellische Schulbuben mit der ersehnten Fahrkarte nach Hamburg auszurüsten, ein kleines Mädchen zu verführen oder einigen Vertretern der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht ins Genick zu drehen. Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.
In solcher Stimmung also beschloß ich diesen leidlichen Dutzendtag bei einbrechender Dunkelheit. Ich beschloß ihn nicht auf die für einen etwas leidenden Mann normale und bekömmliche Weise, indem ich mich von dem bereitstehenden und mit einer Wärmflasche als Köder versehenen Bett einfangen ließ, sondern indem ich unbefriedigt und angeekelt von meinem bißchen Tagwerk voll Mißmut meine Schuhe anzog, in den Mantel schlüpfte und mich bei Finsternis und Nebel in die Stadt begab, um im Gasthaus zum Stahlhelm das zu trinken, was trinkende Männer nach einer alten Konvention „ein Gläschen Wein“ nennen.
So stieg ich denn die Treppe von meiner Mansarde hinab, diese schwer zu steigenden Treppen der Fremde, diese durch und durch bürgerlichen, gebürsteten, sauberen Treppen eines hochanständigen Dreifamilienmiethauses, in dessen Dach ich meine Klause habe. Ich weiß nicht, wie das zugeht, aber ich, der heimatlose Steppenwolf und einsame Hasser der kleinbürgerlichen Welt, ich wohne immerzu in richtigen Bürgerhäusern, das ist eine alte Sentimentalität von mir. Ich wohne weder in Palästen noch in Proletarierhäusern, sondern ausgerechnet stets in diesen hochanständigen, hochlangweiligen, tadellos gehaltenen Kleinbürgernestern, wo es nach etwas Terpentin und etwas Seife riecht und wo man erschrickt, wenn man einmal die Haustür laut ins Schloß hat fallen lassen oder mit schmutzigen Schuhen hereinkommt. Ich liebe diese Atmosphäre ohne Zweifel aus meinen Kinderzeiten her, und meine heimliche Sehnsucht nach so etwas wie Heimat führt mich, hoffnungslos, immer wieder diese alten dummen Wege. Nun ja, und ich habe auch den Kontrast gern, in dem mein Leben, mein einsames, liebloses und gehetztes, durch und durch unordentliches Leben, zu diesem Familien- und Bürgermilieu steht. Ich habe das gern, auf der Treppe diesen Geruch von Stille, Ordnung, Sauberkeit, Anstand und Zahmheit zu atmen, der trotz meinem Bürgerhaß immer etwas Rührendes für mich hat, und habe es gern, dann über die Schwelle meines Zimmers zu treten, wo das alles aufhört, wo zwischen den Bücherhaufen die Zigarrenreste liegen und die Weinflaschen stehen, wo alles unordentlich, unheimisch und verwahrlost ist und wo alles, Bücher, Manuskripte, Gedanken, gezeichnet und durchtränkt ist von der Not der Einsamen, von der Problematik des Menschseins, von der Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für das sinnlos gewordene Menschenleben.
Und nun kam ich an der Araukarie vorbei. Nämlich im ersten Stockwerk dieses Hauses führt die Treppe am kleinen Vorplatz einer Wohnung vorüber, die ist ohne Zweifel noch tadelloser, sauberer und gebürsteter als die andern, denn dieser kleine Vorplatz strahlt von einer übermenschlichen Gepflegtheit, er ist ein leuchtender kleiner Tempel der Ordnung. Auf einem Parkettboden, den zu betreten man sich scheut, stehen da zwei zierliche Schemel und auf jedem Schemel ein großer Pflanzentopf, im einen wächst eine Azalee, im ändern eine ziemlich stattliche Araukarie, ein gesunder, strammer Kinderbaum von größter Vollkommenheit, und noch die letzte Nadel am letzten Zweig strahlt von frischester Abgewaschenheit. Zuweilen, wenn ich mich unbeobachtet weiß, benütze ich diese Stätte als Tempel, setze mich über der Araukarie auf eine Treppenstufe, ruhe ein wenig, falte die Hände und blicke andächtig hinab in diesen kleinen Garten der Ordnung, dessen rührende Haltung und einsame Lächerlichkeit mich irgendwie in der Seele ergreift. Ich vermute hinter diesem Vorplatz, gewissermaßen im heiligen Schatten der Araukarie, eine Wohnung voll von strahlendem Mahagoni und ein Leben voll Anstand und Gesundheit, mit Frühaufstehen, Pflichterfüllung, gemäßigt heitern Familienfesten, sonntäglichem Kirchgang und frühem Schlafengehen.
Mit gespielter Munterkeit trabte ich über den feucht beschlagenen Asphalt der Gassen, tränend und umflort blickten die Laternenlichter durch die kühlfeuchte Trübe und sogen träge Spiegellichter aus dem nassen Boden. Meine vergessenen Jünglingsjahre fielen mir ein – wie habe ich damals solche finstre und trübe Abende im Spätherbst und Winter geliebt, wie gierig und berauscht sog ich damals die Stimmungen der Einsamkeit und Melancholie, wenn ich halbe Nächte, in den Mantel gehüllt, bei Regen und Sturm durch die feindliche, entblätterte Natur lief, einsam auch damals schon, aber voll tiefen Genießens und voll von Versen, die ich nachher bei Kerzenlicht in meiner Kammer, auf dem Bettrand sitzend, aufschrieb! Nun, dies war vorüber, dieser Becher war ausgetrunken und wurde mir nicht mehr gefüllt. War es schade darum? Es war nicht schade darum. Es war um nichts schade, was vorüber war. Schade war es um das Jetzt und Heute, um all diese ungezählten Stunden und Tage, die ich verlor, die ich nur erlitt, die weder Geschenke noch Erschütterungen brachten. Aber Gott sei gelobt, es gab auch Ausnahmen, es gab zuweilen, selten, auch andre Stunden, die brachten Erschütterungen, brachten Geschenke, rissen Wände ein und brachten mich Verirrten wieder zurück ans lebendige Herz der Welt. Traurig und doch zuinnerst angeregt suchte ich mich des letzten Erlebnisses dieser Art zu erinnern. Es war bei einem Konzert gewesen, eine herrliche alte Musik wurde gespielt, da war zwischen zwei Takten eines von Holzbläsern gespielten Piano mir plötzlich wieder die Tür zum Jenseits aufgegangen, ich hatte Himmel durchflogen und Gott an der Arbeit gesehen, hatte selige Schmerzen gelitten und mich gegen nichts mehr in der Welt gewehrt, mich vor nichts mehr in der Welt gefürchtet, hatte alles bejaht, hatte an alles mein Herz hingegeben. Es hatte nicht lange gedauert, vielleicht eine Viertelstunde, aber es war im Traum jener Nacht wiedergekehrt und hatte seither, durch alle die öden Tage, hin und wieder heimlich aufgeglänzt, ich sah es zuweilen für Minuten deutlich wie eine goldene göttliche Spur durch mein Leben gehen, fast immer tief im Kot und Staub verschüttet, dann wieder in goldenen Funken vorleuchtend, nie mehr verlierbar scheinend und dennoch bald wieder tief verloren. Einmal geschah es nachts, daß ich im Wachliegen plötzlich Verse sagte, Verse, viel zu schön und viel zu wunderlich, als daß ich daran hätte denken dürfen, sie aufzuschreiben, die ich am Morgen nicht mehr wußte und die doch in mir verborgen lagen wie die schwere Nuß in einer alten brüchigen Schale. Ein andermal kam es beim Lesen eines Dichters, beim Nachdenken eines Gedankens von Descartes, von Pascal, ein andres Mal leuchtete es wieder auf und führte mit goldner Spur weiter in die Himmel, wenn ich bei meiner Geliebten war. Ach, es ist schwer, diese Gottesspur zu finden inmitten dieses Lebens, das wir führen, inmitten dieser so sehr zufriedenen, so sehr bürgerlichen, so sehr geistlosen Zeit, im Anblick dieser Architekturen, dieser Geschäfte, dieser Politik, dieser Menschen! Wie sollte ich nicht ein Steppenwolf und ruppiger Eremit sein inmitten einer Welt, von deren Zielen ich keines teile, von deren Freude keine zu mir spricht! Ich kann weder in einem Theater noch in einem Kino lange aushalten, kann kaum eine Zeitung lesen, selten ein modernes Buch, ich kann nicht verstehen, welche Lust und Freude es ist, die die Menschen in den überfüllten Eisenbahnen und Hotels, in den überfüllten Cafés bei schwüler aufdringlicher Musik, in den Bars und Varietés der eleganten Luxussstädte suchen, in den Weltausstellungen, auf den Korsos, in den Vorträgen für Bildungsdurstige, auf den großen Sportplätzen – ich kann all diese Freuden, die mir ja erreichbar wären und um die tausend andre sich mühen und drängen, nicht verstehen, nicht teilen. Und was hingegen mir in meinen seltnen Freudenstunden geschieht, was für mich Wonne, Erlebnis, Ekstase und Erhebung ist, das kennt und sucht, und liebt die Welt höchstens in Dichtungen, im Leben findet sie es verrückt. Und in der Tat, wenn die Welt recht hat, wenn diese Musik in den Cafés, diese Massenvergnügungen, diese amerikanischen, mit so wenigem zufriedenen Menschen recht haben, dann habe ich unrecht, dann bin ich verrückt, dann bin ich wirklich der Steppenwolf, den ich mich oft nannte, das in eine ihm fremde und unverständliche Welt verirrte Tier, das seine Heimat, Lust und Nahrung nicht mehr findet.