Wer nun aber meint, den Steppenwolf zu kennen und sein klägliches, zerrissenes Leben sich vorstellen zu können, der ist dennoch im Irrtum, er weiß noch lange nicht alles. Er weiß nicht, daß es (wie keine Regel ohne Ausnahme und wie ein einziger Sünder unter Umständen Gott lieber ist als neunundneunzig Gerechte) – daß es bei Harry immerhin auch Ausnahmen und Glücksfälle gab, daß er zuweilen den Wolf, zuweilen den Menschen auch rein und ungestört in sich atmen, denken und fühlen konnte, ja, daß beide manchmal, in sehr seltenen Stunden, Frieden schlossen und einander zu Liebe lebten, so daß nicht bloß der eine schlief, während der andre wachte, sondern beide einander stärkten und jeder den ändern verdoppelte. Auch im Leben dieses Mannes schien, wie überall in der Welt, zuweilen alles Gewohnte, Alltägliche, Erkannte und Regelmäßige bloß den Zweck zu haben, hie und da eine sekundenkurze Pause zu erleben, durchbrochen zu werden und dem Außerordentlichen, dem Wunder, der Gnade Platz zu machen. Ob nun diese kurzen, seltenen Glücksstunden das schlimme Los des Steppenwolfes ausglichen und milderten, so daß Glück und Leid sich schließlich die Waage hielten, oder ob vielleicht sogar das kurze, aber starke Glück jener wenigen Stunden alles Leid aufsog und ein Plus ergab, das ist nun wieder eine Frage, über welche müßige Leute nach Belieben brüten mögen. Auch der Wolf brütete[20] oft darüber, und das waren seine müßigen und unnützen Tage.
Hierzu muß eines noch gesagt werden. Es gibt ziemlich viele Menschen von ähnlicher Art, wie Harry einer war, viele Künstler namentlich gehören dieser Art an. Diese Menschen haben alle zwei Seelen, zwei Wesen in sich, in ihnen ist Göttliches und Teuflisches, ist mütterliches und väterliches Blut, ist Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeit ebenso feindlich und verworren neben- und ineinander vorhanden, wie Wolf und Mensch in Harry es waren. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, der Schaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meer des Leides hinaus, daß dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andere berührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über dem Meer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sich für eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, daß sein Glück wie ein Stern ausstrahlt und all denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraum erscheint. Alle diese Menschen, mögen ihre Taten und Werke heißen wie sie wollen, haben eigentlich überhaupt kein Leben, das heißt, ihr Leben ist kein Sein, hat keine Gestalt, sie sind nicht Helden oder Künstler oder Denker in der Art, wie andere Richter, Ärzte, Schuhmacher oder Lehrer sind, sondern ihr Leben ist eine ewige, leidvolle Bewegung und Brandung, ist unglücklich und schmerzvoll zerrissen und ist schauerlich und sinnlos, sobald man den Sinn nicht in ebenjenen seltenen Erlebnissen, Taten, Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebens aufstrahlen. Unter den Menschen dieser Art ist der gefährliche und schreckliche Gedanke entstanden, daß vielleicht das ganze Menschenleben nur ein arger Irrtum, eine heftige und mißglückte Fehlgeburt der Urmutter, ein wilder und grausig fehlgeschlagener Versuch der Natur sei. Unter ihnen ist aber auch der andere Gedanke entstanden, daß der Mensch vielleicht nicht bloß ein halbwegs vernünftiges Tier, sondern ein Götterkind und zur Unsterblichkeit bestimmt sei.
Jede Menschenart hat ihre Kennzeichen, ihre Signaturen, jede hat ihre Tugenden und Laster, jede ihre Todsünde. Es gehörte zu den Zeichen des Steppenwolfes, daß er ein Abendmensch war. Der Morgen war für ihn eine schlimme Tageszeit, die er fürchtete und die ihm niemals Gutes gebracht bat. Nie ist er an irgendeinem Morgen seines Lebens richtig froh gewesen, nie hat er in den Stunden vor Mittag Gutes getan, gute Einfälle gehabt, sich und anderen Freude bereiten können. Erst im Laufe des Nachmittags wurde er langsam warm und lebendig, und erst gegen Abend wurde er, an seinen guten Tagen, fruchtbar, regsam und zuweilen glühend und freudig. Damit hing auch sein Bedürfnis nach Einsamkeit und nach Unabhängigkeit zusammen. Nie hat ein Mensch ein tieferes, leidenschaftlicheres Bedürfnis nach Unabhängigkeit gehabt als er. In seiner Jugendzeit, als er noch arm war und Mühe hatte, sein Brot zu verdienen, zog er es vor, zu hungern und in zerrissenen Kleidern zu gehen, nur um dafür ein Stückchen Unabhängigkeit zu retten. Er hat sich nie für Geld und Wohlleben, nie an Frauen oder an Mächtige verkauft und hat hundertmal das, was in aller Welt Augen sein Vorteil und Glück war, weggeworfen und ausgeschlagen, um dafür seine Freiheit zu bewahren. Keine Vorstellung war ihm verhaßter und grauenhafter als die, daß er ein Amt ausüben, eine Tages- und Jahreseinteilung innehalten, anderen gehorchen müßte. Ein Bureau, eine Kanzlei, eine Amtsstube, das war ihm verhaßt wie der Tod, und das Entsetzlichste, was er im Traum erleben konnte, war die Gefangenschaft in einer Kaserne. All diesen Verhältnissen wußte er sich zu entziehen, oft unter großen Opfern. Hierin lag seine Stärke und Tugend, hier war er unbeugsam und unbestechlich, hier war sein Charakter fest und gradlinig. Allein mit dieser Tugend hing wieder sein Leid und Schicksal aufs engste zusammen. Es ging ihm, wie es allen ergeht: was er, aus einem innersten Trieb seines Wesens, aufs hartnäckigste suchte und anstrebte, das ward ihm zuteil, aber mehr als für einen Menschen gut ist. Es wurde anfänglich sein Traum und Glück, dann sein bittres Schicksal. Der Machtmensch geht an der Macht zugrunde, der Geldmensch am Geld, der Unterwürfige am Dienen, der Lustsucher an der Lust. Und so ging der Steppenwolf an seiner Unabhängigkeit zugrunde. Er erreichte sein Ziel, er wurde immer unabhängiger, niemand hatte ihm zu befehlen, nach niemandem hatte er sich zu richten, frei und allein bestimmte er über sein Tun und Lassen. Denn jeder starke Mensch erreicht unfehlbar das, was ein wirklicher Trieb ihn suchen heißt. Aber mitten in der erreichten Freiheit nahm Harry plötzlich wahr, daß seine Freiheit ein Tod war, daß er allein stand, daß die Welt ihn auf eine unheimliche Weise in Ruhe ließ, daß die Menschen ihn nichts mehr angingen, ja er selbst sich nicht, daß er in einer immer dünner und dünner werdenden Luft von Beziehungslosigkeit und Vereinsamung langsam erstickte. Denn nun stand es so, daß Alleinsein und Unabhängigkeit nicht mehr sein Wunsch und Ziel war, sondern sein Los, seine Verurteilung, daß der Zauberwunsch getan und nicht mehr zurückzunehmen war, daß es nichts mehr half, wenn er voll Sehnsucht und guten Willens die Arme ausstreckte und zu Bindung und Gemeinsamkeit bereit war: man ließ ihn jetzt allein. Dabei war er nicht etwa verhaßt und den Menschen zuwider. Im Gegenteil, er hatte sehr viele Freunde. Viele hatten ihn gern. Aber es war immer nur Sympathie und Freundlichkeit, was erfand, man lud ihn ein, man beschenkte ihn, schrieb ihm nette Briefe, aber nahe an ihn heran kam niemand, Bindung entstand nirgends, sein Leben zu teilen war niemand gewillt und fähig. Es umgab ihn jetzt die Luft der Einsamen, eine stille Atmosphäre, ein Weggleiten der Umwelt, eine Unfähigkeit zu Beziehungen, gegen welche kein Wille und keine Sehnsucht etwas vermochte. Dies war eins der wichtigen Kennzeichen seines Lebens.
Ein anderes war, daß er zu den Selbstmördern gehörte. Hier muß gesagt werden, daß es falsch ist, wenn man nur jene Menschen Selbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen. Unter diesen sind sogar viele, die nur gewissermaßen aus Zufall Selbstmörder werden, zu deren Wesen das Selbstmördertum nicht nowendig gehört. Unter den Menschen ohne Persönlichkeit, ohne starke Prägung, ohne starkes Schicksal, unter den Dutzend- und Herdenmenschen sind manche, die durch Selbstmord umkommen, ohne darum in ihrer ganzen Signatur und Prägung dem Typus der Selbstmörder anzugehören[21], während wiederum von jenen, welche dem Wesen nach zu den Selbstmördern zählen, sehr viele, vielleicht die meisten, niemals tatsächlich Hand an sich legen. Der „Selbstmörder“ – und Harry war einer – braucht nicht notwendig in einem besonders starken Verhältnis zum Tode zu leben – dies kann man tun, auch ohne Selbstmörder zu sein. Aber dem Selbstmörder ist es eigentümlich, daß er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, daß er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, daß der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Leben lang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet im Gegenteil unter den „Selbstmördern“ außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühne Naturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen, so neigen diese Naturen, die wir „Selbstmörder“ heißen und die stets sehr empfindlich und sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung des Selbstmordes hinzugeben. Hätten wir eine Wissenschaft, die den Mut und die Verantwortungskraft besäße, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, statt bloß mit den Mechanismen der Lebenserscheinungen, hätten wir etwas wie eine Anthropologie, etwas wie eine Psychologie, so wären diese Tatsachen jedem bekannt.
Was wir hier über die Selbstmörder sagten, bezieht sich alles selbstverständlich nur auf die Oberfläche, es ist Psychologie, also ein Stück Physik. Metaphysisch betrachtet, sieht die Sache anders und viel klarer aus, denn bei solcher Betrachtung stellen die „Selbstmörder“ sich uns dar als die vom Schuldgefühl der Individuation Betroffenen, als jene Seelen, welchen nicht mehr die Vollendung und Ausgestaltung ihrer selbst als Lebensziel erscheint, sondern ihre Auflösung, zurück zur Mutter, zurück zu Gott, zurück ins All. Von diesen Naturen sind sehr viele vollkommen unfähig, jemals den realen Selbstmord zu begehen, weil sie dessen Sünde tief erkannt haben. Für uns sind sie dennoch Selbstmörder, denn sie sehen im Tod, nicht im Leben den Erlöser, sie sind bereit, sich wegzuwerfen und hinzugehen, auszulöschen und zum Anfang zurückzukehren.
Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muß), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Zu diesen Fällen gehört auch der Harrys, des Steppenwolfes. Wie Tausende von seinesgleichen, machte er aus der Vorstellung, daß ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offensteht, nicht bloß ein jugendlichmelancholisches Phantasiespiel, sondern baute sich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar rief in ihm, wie in allen Menschen seiner Art, jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofort den Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen. Allmählich aber schuf er sich aus dieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit dem Gedanken, daß jener Notausgang beständig offenstehe, gab ihm Kraft, machte ihn neugierig auf das Auskosten von Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihm recht elend ging, konnte er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude, empfinden: „Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag! Ist die Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen und bin entronnen.“ Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedanken ungewöhnliche Kräfte kommen.
Andrerseits ist allen Selbstmördern auch der Kampf gegen die Versuchung zum Selbstmord vertraut. Jeder weiß, in irgendeinem Winkel seiner Seele, recht wohl, daß Selbstmord zwar ein Ausweg, aber doch nur ein etwas schäbiger und illegitimer Notausgang ist, daß es im Grunde edler und schöner ist, sich vom Leben selbst besiegen und hinstrecken zu lassen als von der eigenen Hand. Dies Wissen, dies schlechte Gewissen, dessen Quelle dieselbe ist wie etwa für das böse Gewissen der sogenannten Selbstbefriediger, veranlaßt die meisten „Selbstmörder“ zu einem dauernden Kampf gegen ihre Versuchung. Sie kämpfen, wie der Kleptomane gegen sein Laster kämpft. Auch dem Steppenwolf war dieser Kampf wohl bekannt, mit vielerlei wechselnden Waffen hatte er ihn gestritten. Schließlich kam er, im Alter von etwa siebenundvierzig Jahren, auf einen glücklichen und nicht harmlosen Einfall, der ihm oft Freude machte. Er setzte seinen fünfzigsten Geburtstag als den Tag fest, an welchem er sich den Selbstmord erlauben wolle. An diesem Tag, so vereinbarte er mit sich selber, sollte es ihm freistehen, den Notausgang zu benützen oder nicht, je nach der Laune des Tages. Mochte ihm nun geschehen was da wollte, mochte er krank werden, verarmen, Leid und Bitternis erfahren – alles war befristet, alles konnte allerhöchstem nur diese wenigen Jahre, Monate, Tage andauern, deren Zahl täglich kleiner wurde! Und in der Tat ertrug er manches Ungemach jetzt viel leichter, das ihn früher tiefer und länger gequält, ja vielleicht bis zur Wurzel erschüttert hätte. Wenn es ihm aus irgendwelchem Grunde besonders schlecht ging, wenn zur Verödung, Vereinsamung und Verwilderung seines Lebens noch besondere Schmerzen oder Verluste hinzukamen, dann konnte er zu den Schmerzen sagen: „Wartet nur, noch zwei Jahre, dann bin ich euer Herr!“ Und dann vertiefte er sich mit Liebe in die Vorstellung, wie an seinem fünfzigsten Geburtstag morgens die Briefe und Gratulationen ankommen würden, während er, seines Rasiermessers sicher, Abschied von allen Schmerzen nahm und die Tür hinter sich zuzog. Dann konnte die Gicht in den Knochen, dann konnten Schwermut, Kopfschmerz und Magenweh sehen, wo sie blieben.
* * *Es erübrigt noch, das Einzelphänomen des Steppenwolfes, und namentlich sein eigentümliches Verhältnis zum Bürgertum, dadurch zu erklären, daß wir diese Erscheinungen auf ihre Grundgesetze zurückführen. Nehmen wir, da dies sich von selbst anbietet, ebenjenes sein Verhältnis zum „Bürgerlichen“ zum Ausgangspunkt!
Der Steppenwolf stand, seiner eigenen Auffassung zufolge, gänzlich außerhalb der bürgerlichen Welt, da er weder Familienleben noch sozialen Ehrgeiz kannte. Er fühlte sich durchaus als Einzelnen, bald als Sonderling und krankhaften Einsiedler, bald auch als übernormal, als ein geniemäßig veranlagtes, über die kleinen Normen des Durchschnittslebens erhabenes Individuum. Mit Bewußtsein verachtete er den Bourgeois und war stolz darauf, keiner zu sein. Dennoch lebte er in mancher Hinsicht ganz und gar bürgerlich, er hatte Geld auf der Bank und unterstützte arme Verwandte, er kleidete sich zwar sorglos, doch anständig und unauffällig, er suchte mit der Polizei, dem Steueramt und ähnlichen Mächten in gutem Frieden zu leben. Außerdem aber zog ihn eine starke, heimliche Sehnsucht beständig zur bürgerlichen Kleinwelt, zu den stillen, anständigen Familienhäusern mit sauberen Gärtchen, blankgehaltenem Treppenhaus und ihrer ganz bescheidenen Atmosphäre von Ordnung und Wohlanständigkeit. Es gefiel ihm, seine kleinen Laster und Extravaganzen zu haben, sich als außerbürgerlich, als Sonderling oder Genie zu fühlen, doch hauste und lebte er, um es so auszudrücken, niemals in den Provinzen des Lebens, wo keine Bürgerlichkeit mehr existiert. Er war weder in der Luft der Gewalt- und Ausnahmemenschen zu Hause noch bei den Verbrechern oder Entrechteten, sondern blieb immer in der Provinz der Bürger wohnen, zu deren Gewohnheiten, zu deren Norm und Atmosphäre er stets in Beziehung stand, sei es auch in der des Gegensatzes und der Revolte. Außerdem war er in kleinbürgerlicher Erziehung aufgewachsen und hatte von dort her eine Menge von Begriffen und Schablonen beibehalten. Er hatte theoretisch nicht das mindeste gegen das Dirnentum, wäre aber unfähig gewesen, persönlich eine Dirne ernst zu nehmen und wirklich als seinesgleichen zu betrachten. Den politischen Verbrecher, den Revolutionär oder den geistigen Verführer, den Staat und Gesellschaft ächteten, vermochte er als seinen Bruder zu lieben, aber mit einem Dieb, Einbrecher, Lustmörder hätte er nichts anzufangen gewußt, als sie auf eine ziemlich bürgerliche Art zu bedauern.
Auf diese Weise anerkannte und bejahte er stets mit der einen Hälfte seines Wesens und Tuns das, was er mit der anderen bekämpfte und verneinte. In einem kultivierten Bürgerhause aufgewachsen, in fester Form und Sitte, war er mit einem Teil seiner Seele stets an den Ordnungen dieser Welt hängengeblieben, auch nachdem er sich längst über das im Bürgerlichen mögliche Maß hinaus individualisiert und sich vom Inhalt bürgerlichen Ideals und Glaubens längst befreit hatte.
Das „Bürgerliche“ nun, als ein stets vorhandener Zustand des Menschlichen, ist nichts andres als der Versuch eines Ausgleiches, als das Streben nach einer ausgeglichenen Mitte zwischen den zahllosen Extremen und Gegensatzpaaren menschlichen Verhaltens. Nehmen wir irgendeines dieser Gegensatzpaare als Beispiel, etwa das des Heiligen und des Wüstlings, so wird unser Gleichnis alsbald verständlich werden. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Geistigen, dem Annäherungsversuch ans Göttliche, hinzugeben, dem Ideal des Heiligen. Er hat umgekehrt auch die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Triebleben, dem Verlangen seiner Sinne hinzugeben und sein ganzes Streben auf den Gewinn von augenblicklicher Lust zu richten. Der eine Weg führt zum Heiligen, zum Märtyrer des Geistes, zur Selbstaufgabe an Gott. Der andre Weg führt zum Wüstling, zum Märtyrer der Triebe, zur Selbstaufgabe an die Verwesung. Zwischen beiden nun versucht in temperierter Mitte der Bürger zu leben. Nie wird er sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen – im Gegenteil sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt weder der Heiligkeit noch deren Gegenteil, Unbedingtheit ist ihm unerträglich, er will zwar Gott dienen, aber auch dem Rausche, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bißchen gut und bequem auf Erden haben. Kurz, er versucht es, in der Mitte zwischen den Extremen sich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ohne heftige Stürme und Gewitter, und dies gelingt ihm auch, jedoch auf Kosten jener Lebens- und Gefühlsintensität, die ein aufs Unbedingte und Extreme gerichtetes Leben verleiht. Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs. Der Bürger nun schätzt nichts höher als das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität also erreicht er Erhaltung und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.
Es ist klar, daß dies schwache und ängstliche Wesen, existierte es auch in noch so großer Anzahl, sich nicht halten kann, daß es vermöge seiner Eigenschaften in der Welt keine andre Rolle spielen könnte als die einer Lämmerherde zwischen freischweifenden[22] Wölfen. Dennoch sehen wir, daß zwar in Zeiten des Regiments sehr starker Naturen der Bürger sofort an die Wand gedrückt wird, daß er aber niemals untergeht, zuzeiten sogar anscheinend die Welt beherrscht. Wie ist das möglich? Weder die große Zahl seiner Herde, noch die Tugend, noch der common sense[23], noch die Organisation wären stark genug, ihn vor dem Untergang zu retten. Wessen Lebensintensität von vornherein so sehr geschwächt ist, den kann keine Medizin der Welt am Leben erhalten. Und dennoch lebt das Bürgertum, ist stark und gedeiht. – Warum?
Die Antwort lautet: Wegen der Steppenwölfe. In der Tat beruht die vitale Kraft des Bürgertums keineswegs auf den Eigenschaften seiner normalen Mitglieder, sondern auf denen der außerordentlich zahlreichen Outsiders, die es infolge der Verschwommenheit und Dehnbarkeit seiner Ideale mit zu umschließen vermag. Es lebt im Bürgertum stets eine große Menge von starken und wilden Naturen mit. Unser Steppenwolf Harry ist ein charakteristisches Beispiel. Er, der weit über das dem Bürger mögliche Maß hinaus zum Individuum entwickelt ist, er, der die Wonne der Meditation ebenso wie die düstern Freuden des Hasses und Selbsthasses kennt, er, der das Gesetz, die Tugend und den common sense verachtet, ist dennoch ein Zwangshäftling des Bürgertums und kann ihm nicht entrinnen. Und so lagern um die eigentliche Waffe des echten Bürgertums weite Schichten der Menschheit, viele Tausende von Leben und Intelligenzen, deren jede dem Bürgertum zwar entwachsen und für ein Leben im Unbedingten berufen wäre, deren jede aber, durch infantile Gefühle der Bürgerlichkeit anhängend und von ihrer Schwächung der Lebensintensität ein Stück weit angesteckt, dennoch irgendwie im Bürgertum verharrt, ihm irgendwie hörig, verpflichtet und dienstbar bleibt. Denn dem Bürgertum gilt der umgekehrte Grundsatz der Großen: Wer nicht wider mich ist, der ist für mich!
Prüfen wir daraufhin die Seele des Steppenwolfes, so stellt er sich dar als Mensch, den schon sein hoher Grad von Individuation zum Nichtbürger bestimmt – denn alle hochgetriebene Individuation kehrt sich gegen das Ich und neigt wieder zu dessen Zerstörung. Wir sehen, daß er sowohl nach dem Heiligen wie nach dem Wüstling hin starke Antriebe in sich hat, jedoch aus irgendeiner Schwächung oder Trägheit heraus den Schwung in den freien wilden Weltraum nicht nehmen konnte und an das schwere mütterliche Gestirn des Bürgertums gebannt bleibt. Dies ist seine Lage im Raum der Welt, dies seine Gebundenheit. Die allermeisten Intellektuellen, der größte Teil der Künstlermenschen gehört demselben Typus an. Nur die stärksten von ihnen durchstoßen die Atmosphäre der Bürgererde und gelangen ins Kosmische, die andern alle resignieren oder schließen Kompromisse, verachten das Bürgertum und gehören ihm dennoch an und stärken und verherrlichen es, indem sie letzten Endes es bejahen müssen, um noch leben zu können. Es reicht diesen zahllosen Existenzen nicht zur Tragik, wohl aber zu einem recht ansehnlichen Mißgeschick und Unstern, in dessen Hölle ihre Talente gar gekocht und fruchtbar werden. Die wenigen, die sich losreißen, finden ins Unbedingte und gehen auf bewundernswerte Weise unter, sie sind die Tragischen, ihre Zahl ist klein. Den andern aber, den Gebundenbleibenden, deren Talenten oft das Bürgertum große Ehre zollt, ihnen steht ein drittes Reich offen, eine imaginäre, aber souveräne Welt: der Humor. Die friedlosen Steppenwölfe, die beständig und furchtbar leidenden, denen die zur Tragik, zum Durchbruch in den Sternenraum erforderliche Wucht versagt ist, die sich zum Unbedingten berufen fühlen und doch in ihm nicht zu leben vermögen: ihnen bietet sich, wenn ihr Geist im Leiden stark und elastisch geworden ist, der versöhnliche Ausweg in den Humor. Der Humor bleibt stets irgendwie bürgerlich, obwohl der echte Bürger unfähig ist, ihn zu verstehen. In seiner imaginären Sphäre wird das verzwickte, vielspältige Ideal aller Steppenwölfe verwirklicht: hier ist es möglich, nicht nur gleichzeitig den Heiligen und den Wüstling zu bejahen, die Pole zueinander zu biegen, sondern auch noch den Bürger in die Bejahung einzubeziehen. Es ist ja dem Gottbesessenen sehr wohl möglich, den Verbrecher zu bejahen, und ebenso umgekehrt, ihnen beiden aber, und allen anderen Unbedingten, ist es unmöglich, auch noch jene neutrale laue Mitte, das Bürgerliche, zu bejahen. Einzig der Humor, die herrliche Erfindung der in ihrer Berufung zum Größten Gehemmten, der beinahe Tragischen, der höchstbegabten Unglücklichen, einzig der Humor (vielleicht die eigenste und genialste Leistung des Menschentums) vollbringt dies Unmögliche, überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit den Strahlungen seiner Prismen. In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zu achten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, „als besäße man nicht“, zu verzichten, als sei es kein Verzicht – alle diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer hohen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig.