„Ich weiß nicht, Gaia hat so viele Freunde im Sommerlager, sie wird enttäuscht sein, nicht hinzufahren. Helios dagegen, hasst es“, erwiderte Giulia.
„Ich halte es nicht länger aus, ich werde sie wecken“, schlug Carlo kategorisch vor und ging in die Zimmer seiner Kinder, um sie zu wecken.
Er gab ihnen nicht mal Zeit, sich das Gesicht zu waschen.
„Eure Mutter und ich haben entschieden, wo ihr euren Sommer verbringen werdet. Freitag ist der letzte Schultag und am Samstagmorgen werdet ihr reisefertig mit einem netten Koffer in der Hand am Bahnhof stehen!“
„Aber das Sommerlager geht es erst in zwei Wochen los!“, meinte Gaia besorgt und schaute zu ihrer Mutter, die das Geschehen im Flur von der Küchentür aus beobachtete.
„Richtig, ihr werdet dieses Jahr nicht ins Sommerlager fahren“, erklärte Giulia, womit sie die Befürchtungen ihrer Tochter bestätigte. „Wir haben gedacht, euch einen Sommer zu bieten, wie wir ihn aus unserer Jugend kennen.“
„Was soll das heißen?“, fragte Gaia, während Helios stumm und mit einem immer düsterer werdenden Gesichtsausdruck dastand.
„Frische Luft und wilde Verfolgungsjagden, schwimmen im Teich und Abende im Dorf“, beantwortete Carlo die Frage seiner Tochter.
Gaia sah, wie ihre Eltern lachten und sich dabei einvernehmlich ansahen und dachte, es sei alles nur ein Scherz.
„Hört auf, euch über uns lustig zu machen. Was ist mit euch los heute Morgen?“
„Niemand macht sich über euch lustig. Tante Ida hat sich angeboten, euch bei sich aufzunehmen“, offenbarte Carlo schließlich seinen Kindern, die ihn ungläubig anstarrten.
„Das ist ein Albtraum, ich gehe wieder schlafen!“, schnaubte Gaia wütend.
„Und ich dachte, du würdest dich darüber freuen“, antwortete ihr Vater.
„Freuen? Ich habe mich bereits mit meinen Freunden verabredet, ich freue mich schon den ganzen Winter darauf, ins Ferienlager zu fahren“.
„Gaia, du wirst auch auf dem Land bei Tante Ida Freunde finden“, versuchte Giulia sie zu trösten.
„Aber wieso? Dort gefällt es mir. Frische Luft und schwimmen im See, das ist alles, was ich brauche“.
„Du brauchst nichts anderes, aber Helios schon, er braucht Tapetenwechsel“, fügte Carlo hinzu.
„Wusste ich es doch, es ist wegen Helios!“, sprang Gaia auf. „Dann schickt ihn doch allein aufs Land zu unserer Tante.“
„Wir wollen nicht, dass er allein fährt“, erwiderte Giulia.
„Ich bin doch nicht sein Babysitter!“
„Aber du bist die große Schwester. Hast du denn gar nichts dazu zu sagen, Helios?“, fragte Carlo.
Helios sagte nicht ein Wort, er zuckte nur mit den Schultern.
Das brachte Gaia zur Weißglut:
„Du sagst nichts? Dir ist ja sowieso alles gleich, sag es Mama und Papa, dass du auch auf dem Land nicht vorhast, irgendetwas zu tun“.
Helios nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Hör auf damit, Gaia! Die Entscheidung ist gefallen. Libero, euer Cousin, kommt euch abholen“, beendete Carlo das Gespräch.
Gaia lief enttäuscht und wütend davon.
„Sie wird sich wieder fangen“, sagte Giulia, die die optimistische Lebenseinstellung ihrer Tochter kannte.
Helios schlich in sein Zimmer zurück.
Carlo war verblüfft aber überzeugt, dass die getroffene Entscheidung seit Jahren die beste war.
So kam der nächste Freitag, Carlo holte seinen Neffen vom Bahnsteig ab: Es war schön, ihn wieder in die Arme zu schließen.
Libero war ein fröhlicher Bursche, mit einer einfachen und auf jeden Fall nicht konventionellen Art. Er war groß und schlank aber keineswegs mager, hatte große Hände, die es gewohnt waren, die Arbeiten auf dem Bauernhof zu verrichten, und ein sonnengebräuntes Gesicht, Aus dem die grünen Augen hervorstachen. Das braune Haar war kurzgeschnitten und mit Seitenscheitel gekämmt, wie es nach dem Krieg in Mode war. Er umarmte seinen Onkel kraftvoll und redete auf der ganzen Nachhausefahrt wie ein Wasserfall.
Carlo schaute ihn verwundert an, er erinnerte sich an die Zeit, als es im schlecht ging und er immer apathisch und leicht reizbar war. Klar, Libero war kein Genie, aber das einfache Leben, das er führte, machte ihn glücklich und Carlo wünschte sich, Helios könnte ebenso unbeschwert sein. Libero saß schon im Auto seines Onkels, drückte seine Nase gegen die Scheibe und stellte Fragen zu allem, was er sah.
Zu Hause wurde er schon von allen erwartetet.
Giulia war aufgeregt, während sie die Koffer fertig packte, jetzt war der Moment gekommen und sie fragte sich, wie die Dinge laufen würden. Ihr Gluckeninstinkt gewann die Oberhand.
Gaia hingegen hatte den Schock bereits verdaut, sie lief ihrer Mutter hinterher und stellte tausend Fragen darüber, was es auf dem Bauernhof alles zu tun und zu sehen gab.
Sie waren nicht mehr dort gewesen, seit sie noch sehr klein waren und ihre Großeltern noch lebten. Außer einer vagen Erinnerung an die Felder oder den Geruch der Bäume, mit denen sie Verstecken spielten, gab es fast nichts, woran sie sich noch erinnern konnten.
Nach dem Tod ihres Mannes, hatte die Tante Schwierigkeiten gehabt, ihr Leben neu zu organisieren und beschlossen, mit ihren Kindern auf den inzwischen verlassenen, alten Bauernhof ihrer Eltern zu ziehen.
Gaia hörte den Schlüssel in der Wohnungstür und beeilte sich, ihren Cousin zu begrüßen, der sie in den Arm nahm, wie er es mit ihrem Vater getan hatte, und sie wie auf einem Karussell herumwirbelte. Gaia lächelte, diese Art Zuneigung hatte sie nicht erwartet.
„Hallo Libero, wie geht's dir?“, begrüßte sie ihren Cousin, den sie lange nicht gesehen hatte, herzlich.
„Gut, meine Kleine“, antwortete Libero.
Inzwischen war Giulia auch dazu gekommen. Sie war die einzige, der gegenüber sich Libero wie ein Kavalier benahm und mit einem hastigen Kuss auf die Wangen begrüßte.
„Wie war deine Reise?“, fragte Giulia zuvorkommend.
„Gut, die eiserne Kuh ist wirklich bequem und schnell zum Reisen und die Stadt ist voller interessanter Dinge. Es ist schön, hier zu sein!“
„Setz dich doch, du bist bestimmt müde. Möchtest du ein Eis?“, fragte Giulia weiter.
„Ja, danke, Tante Giulia. Ich liebe Eis“, nahm Libero das Angebot begeistert an. „Aber wo ist denn Helios?“
„Helios ist in seinem Zimmer, er kommt gleich“, sagte Carlo, der auf seinen Sohn wütend war, weil er es nicht für nötig erachtete, seinen Cousin zu begrüßen, der die ganze Reise gemacht hatte, nur um ihn abzuholen. Er wollte ihn aus seinem Zimmer holen.
„Nein, nein Onkel Carlo“, hielt ihn Libero zurück. „Lass mich das machen, ich will ihn überraschen. Sag mir einfach, welches sein Zimmer ist.“
Nachdem Carlo es ihm gezeigt hatte, stürzte sich Libero in das Zimmer, wo man seine Freudenrufe hörte, während er ihn begrüßte.
Nicht einmal Helios gelang es, trotz seiner kühlen Distanziertheit, der wirbelnden Umarmung zu entgehen.
Gaia sah ihre Mutter überrascht an und flüsterte: „Ich hatte ihn gar nicht als einen solchen Dummling in Erinnerung!“
„Sag doch nicht so was“, ermahnte sie Giulia hastig, „er ist ein netter Junge und auch sehr gutherzig.“
„Ja, aber...bist du sicher, dass er uns an unser Reiseziel bringen wird?“, fragte Gaia verdutzt.
„Aber natürlich!“, beruhigte sie Carlo. „Unterschätze ihn nicht, er führt zusammen mit seiner Mutter den Bauernhof. Er ist stark und klug.“
Es wurde Zeit fürs Abendessen und die Stimmung war sehr ausgelassen, mit all den farbigen Geschichten, die Libero vom Land mitgebracht hatte - natürlich für alle, außer für Helios.
„Ich kann es kaum erwarten, euch alles zu zeigen“, sagte Libero am Ende seiner Beschreibung des Bauernhofs zu seiner Cousine und seinem Cousin.
„Bist du sicher, dass du nicht ein paar Tage bleiben möchtest, bevor du wieder abreist?“, fragte Giulia.
„Ich kann Mama im Moment nicht allein lassen, es gibt so viel zu tun.“
„Du hast recht, Libero, du bist wirklich ein guter Junge", lobte Carlo ihn und klopfte im liebevoll auf die Schulter.
„Weißt du, Onkel Carlo, ich hab da noch eine Frage zum Auto, bevor ich in die Stadt kam, dachte ich, dass die Hupe an den Autos nur im Gefahrenfall gebraucht...“
„Natürlich“, antwortete Carlo, „warum fragst du?“
„Weil ich den Eindruck habe, man benutzt sie hier von allem zum Feiern, die Leute hupen ein einem fort!“
Alle, außer Helios, brachen in schallendes Gelächter aus und fragten sich insgeheim, ob Libero diese Naivität nur spielte oder ob er tatsächlich so war ...
Kapitel Drei
Als sie sein Entsetzen bemerkte, fing sie an zu lachen.
Am nächsten Morgen wurde Giulia unsanft von Libero geweckt, als er im Korridor über den Teppich stolperte. Und so kam es, dass er und seine Tante gemeinsam frühstückten, bevor alle anderen aufwachten. Als der frische Kaffeeduft Carlos Schlafzimmer durchflutete, gesellte er sich ebenfalls dazu und so erzählten er und Giulia, was mit Helios los war.
„Macht euch keine Sorgen“, beruhigte Libero sie, „diese Erfahrung weg von zu Hause wird ihm eine Hilfe sein und Mama hat auch schon einen Angriffsplan vorbereitet!“
Am Bahnhof ermahnte Giulia ihre Kinder in einem fort, sich bei ihrer Tante anständig zu benehmen.
Gaia hielt es vor Aufregung und Neugier kaum mehr aus, während man Helios wie üblich schon von weitem ansehen konnte, dass er in diese Geschichte hineingezwängt worden war. Er zog Gaias schweren Koffer hinter sich her, weil Libero ihn dazu gezwungen hatte: „Ein Fräulein trägt keine schweren Lasten!“, dieser Cousin hatte ihn schon ganz mürbe gemacht.
Libero, der eine Jeans und ein T-Shirt und dazu eine ockergelbe Mütze vom Katastrophenschutz trug, die seinem Cousin und seiner Cousine unpassend erschien, schleppte das ganze restliche Gepäck so mühelos, als ob es leere Koffer wären.
Der Zug verließ den Bahnhof pünktlich nach Fahrplan. Nur sie drei besetzten das Abteil. Libero hob die Koffer auf die Gepäckablage und schlug vor:
„Komm, Gaia, lass uns in den Restaurantwagen gehen und einen Snack besorgen, wir werden erst spät auf dem Bauernhof eintreffen und bis dahin solltet ihr bei Kräften bleiben. Helios wird in der Zwischenzeit auf die Koffer aufpassen, es wird sich niemand an unseren Sachen vergreifen. Falls doch, dann knurr ganz einfach!“ meinte er und grinste seinen Cousin dabei an. „Und wenn du nicht eingeschnappt bist, bringen wir dir auch was zu essen mit...“
Libero und Gaia verließen zusammen das Abteil, zur großen Erleichterung von Helios, der nun endlich allein sein konnte.
Er starrte aus dem Fenster in die monotone Landschaft. Sie hatten gerade das Industriegebiet hinter sich gelassen und man konnte die ersten bestellten Felder sehen. Sein Blick schweifte über Felder, Felder und noch mehr Felder und dann über Hügel, Hügel und noch mehr Hügel und Felder.
Plötzlich sah er das Spiegelbild eines Mannes im Fenster, er saß auf dem Sitz in der benachbarten Sitzreihe, auf der anderen Seite des Ganges.
Wann war er ins Abteil gekommen? Helios hatte das Öffnen der Tür nicht bemerkt.
Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine seltsame Brille auf der Nase. Er las ein Buch mit einem schwarzen Ledereinband. Die Seiten waren aus Seidenpapier. Das Buch schien gut hundert Jahre alt zu sein. Auf dem Kopf trug er einen Hut mit großer Krempe, die sein Gesicht verdeckte. Er wirkte zugegebenermaßen alles andere als vertrauenerweckend.
Helios drehte sich nicht um, sondern beobachtete das Spiegelbild weiter durch die Fensterscheibe. Allein mit diesem Kerl zu sein, machte ihm Angst. Jetzt wünschte er sich, dass sein großer, starker Cousin so schnell wie möglich ins Abteil zurückkehren würde, aber von ihm und Gaia war weit und breit nichts zu sehen.
Währenddessen las der Mann weiter in seinem Buch und hielt nur gelegentlich inne, um auf eine alte Uhr zu schauen, die er aus der Westentasche, unter seinem eleganten aber altmodischen Anzug zog.
Das brachte Helios noch mehr auf die Palme. Er fragte sich, worauf er wartete, es musste sich ganz sicher um etwas sehr Wichtiges handeln, wenn er ununterbrochen auf die Uhr schaute.
Dann, nachdem der Mann ein weiteres Mal auf seine Uhr geschaut hatte, klappte er das Buch plötzlich zu und bückte sich, um etwas aus seiner schwarzen Tasche zu holen, die zwischen seinen Beinen auf dem Boden stand. Die leicht hochgezogenen Hosenbeine gaben den Blick auf die schwarzen, mageren Knöchel und die seltsamen Socken frei, die wie schwarzes Fell aussahen.
Helios konnte seine Angst nicht mehr unter Kontrolle halten und fing an zu zittern. Da fing der Mann, während er weiter in der Tasche kramte, an zu lachen, so als hätte er sein Entsetzen bemerkt. Es war ein tiefes, schauriges Lachen, das in Helios Ohren widerhallte und um es nicht länger hören zu müssen, hielt er sich mit beiden Händen die Ohren zu. Er schloss die Augen, um das Spiegelbild dieses Mannes im Fenster nicht länger sehen zu müssen und betete im Stillen: „Mach, dass Libero zurückkommt, mach, dass Libero zurückkommt“.
Die Tür zum Abteil öffnete sich mit entschiedenem Schwung.
„Helios, was machst du da? Hast du dir in der Stadt eine Ohrenentzündung eingehandelt? Du willst doch hoffentlich nicht uns arme Bauerntölpel mit diesem Virus für zivilisierte Stadtmenschen umbringen!“
Helios zuckte zusammen, dann, als er die scherzende Stimme seines Cousins erkannte, drehte er sich um und sah Libero, der mit einer Tüte und einem Getränk in der Hand auf der Türschwelle stand und lachte. Hinter ihm biss Gaia in ein riesiges Croissant.
Von dem Mann keine Spur, wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Es war alles verschwunden: der Mann, sein Buch, seine Uhr und seine Tasche.
Libero setzte sich neben ihn, gab ihm ein Croissant und bemerkte, dass er zitterte.
„Ist etwas passiert?“, fragte er ihn.
„Ich denke, ich bin nur etwas reisekrank vom Zugfahren ...“, log Helios.
Gaia verstand, dass ihr Bruder einen seiner Anfälle bekommen hatte und nahm sich vor, Libero unter vier Augen davon zu erzählen.
Der Rest der Reise verlief ohne weitere Zwischenfälle. Libero erzählte den Freunden vom Erntefest, das in Kürze stattfinden würde und an dem alle Nachbardörfer teilnahmen. Die Veranstaltung würde im Freien stattfinden, mit Volkstänzen wie der Taranta, aber auch mit moderneren Tänzen.
Helios blickte seine Schwester und seinen Cousin an und fragte sich, wie die beiden so schnell auf eine Wellenlänge gekommen waren. Aber er war froh, nicht allein zu reisen, diese seltsamen Ereignisse fingen an, ihn zu beunruhigen. War er das Opfer einer Verschwörung oder sollte er anfangen an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln?
Libero wurde aufgeregt, es war an der Zeit, sich zum Aussteigen vorzubereiten. Aus dem Fenster hatte er das Haus von Frau Gina gesehen, das er als Orientierungspunkt gewählt hatte. Der Zug hielt an, er trug alle Koffer, während Gaia die Wagentür öffnete und nach draußen sprang, sie war aufgeregt wie jemand, der wie sie sehr wenig reiste.
Die Einheimischen bezeichneten das, was nicht mehr als eine Haltestelle war, als Bahnhof. Der einzige Komfort waren ein Unterstand mit einem undichten Dach und ein Fahrkartenautomat, der immer außer Betrieb war und zu allen Passanten sagte: „Wir weisen darauf hin, dass der Bahnhof unbewacht ist. Seien Sie vorsichtig vor Taschendieben!“.
Libero holte tief Luft und meinte:
„Endlich kann man wieder atmen! Herzlich willkommen in Campoverde.“
„Ich rieche schon den Duft der Felder“, bemerkte Gaia, „Riechst du es nicht auch, Helios?“
Helios bemerkte keinen Unterschied zur Stadt und zuckte nur mit den Schultern.
„Helios, du nimmst Gaias Koffer, ich trage den Rest“, befahl Libero.
Gaia amüsierte dieses Kavaliersverhalten, das sie in anderen Situationen als störend empfunden hätte. Es war aber so natürlich, dass sie das Spiel amüsiert mitspielte. Vielleicht hatte sie zu voreilig über ihren Cousin geurteilt, so ein Dummling war er eigentlich gar nicht ...
Gaia und Libero gingen wohlgelaunt am Automaten, der zum x-ten Mal denselben Satz wiederholte, vorbei in Richtung Unterführung.
Helios musste Gaias riesigen Koffer mit beiden Händen packen, um die Treppen der Unterführung hinunter und dann wieder hinauf zu steigen. Das war echt anstrengend.
Er war überzeugt, dass die Tante mit ihrem Auto auf sie wartete, sodass er auf den letzten Stufen alle seine Kräfte zusammenraffte.
Aber draußen vor dem Bahnhof angekommen, erwartete sie nur ein leerer Parkplatz. Libero bog zusammen mit seiner Cousine links auf eine enge und mehr schlecht als recht gepflasterte Straße ab. Auf beiden Seiten der Straße gab es nur zwei Wasserkanäle, die die Straße auf der einen Seiten von den Maisfeldern und auf der anderen von den Weizenfeldern trennten.
Helios schnappte nach Luft und schrie ihnen verzweifelt zu, anzuhalten. Seine Schwester drehte sich verwundert um, sie hatte ihren Bruder seit Jahren nicht mit lauter Stimme sprechen, geschweige denn, derart schreien hören.
„Wo ist Tante Idas Auto?“, fragte Helios.
„Oh, ich habe vergessen zu sagen, dass sie mich vorhin angerufen hat, um mir zu sagen, dass sie nicht kommen kann. Camilla, unsere Kuh, könnte jede Minute kalben und sie kann sie nicht allein lassen“.
„Camilla, kalben? Aber wie sollen wir das schaffen?“, fragte Helios, außer Atem.
„Keine Sorge, es sind nur vier Kilometer bis zum Bauernhof“, erklärte Libero mit ruhigem Tonfall.
„Vier Kilometer?“, waren Helios letzte Worte.
„Komm schon, Mann! Der Koffer deiner Schwester hat sogar Räder!“, spornte Libero ihn an und lief weiter.
Von Weitem konnte man schon die ersten Häuser des Dorfes sehen.
„Da ist es! Das Haus mit dem Kirschbaum davor, das ist unser Bauernhof“.
Libero zeigte auf ein Bauernhaus in venezianischem Rot mit dunkelgrünen Fensterläden. Vor dem Haus gab es einen wunderschönen gepflegten Garten, hinter dem Haus befanden sich der Stall und die Wäscheleinen, und daher erstreckten sich die Felder.
„Mama, wir sind da!“, rief Libero, während er die Koffer auf dem Fußweg abstellte und zum Stall rannte.
Tante Ida trat vor die Haustür.
„Meine Nichte und mein Neffe!“, rief sie voller Freude.
Gaia fiel ihr um den Hals. Helios näherte sich erschöpft und gab ihr höflich einen Kuss auf die Wangen.
Ida war knapp über fünfzig, aber ihre Schönheit war noch nicht verblasst, auch wenn sie nichts tat, um sie hervorzuheben. Sie war mittelgroß und schlank, gut proportioniert, aber ihre Arme und Beine hatten verjüngte straffe Muskeln, die jeder Langstreckenläufer beneiden würde. Das harte Leben auf dem Bauernhof war ihr tägliches Training. Sie hatte blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, einen hellen Gesichtseint und wunderschöne grüne Augen, wie die ihres Neffen.
Während Libero aus dem Stall zurück kam, rief er fröhlich:
„Camilla hat ein Mädchen bekommen! Es gibt frische Milch!“
Die Tante lud sie ein, ins Haus zu kommen. Der Tisch war gedeckt und in der Luft lag der Duft vom fertigen Mittagessen. Die Freunde aßen hungrig, Gaia hörte nicht auf, ihrer Tante von den Emotionen der Reise zu erzählen.
Nach dem Mittagessen half Gaia der Tante, die Küche aufzuräumen, während Libero Helios hinter sich her über den Bauernhof schleppte und ihn bat beziehungsweise befahl, ihm bei allen Arbeiten zur Hand zu gehen.
Am Abend erklärte ihnen die Tante, dass sie im Wohnzimmer auf dem Schlafsofa schlafen müssten, bis sie den Dachboden in Ordnung gebracht hätten, der ihr Sommerquartier sein würde.
Gaia eilte hinter ihrer Tante die Treppen hinauf, um den Dachboden zu besichtigen. Helios dagegen war von dieser weiteren schlechten Nachricht schockiert.
Sie stiegen in den ersten Stock, wo sich die Schlafzimmer der Tante, von Libero und Ercole, dem Nesthäkchen der Familie, der im Scout Camp war, befanden. Ida zeigte ihr die Holzleiter, die auf den Dachboden führte. Sie selbst würde nicht hinaufsteigen, sie war zu müde, um rauf und runter zu klettern. Sie war im Laufe des Tages schon mehrmals dort gewesen, um die Fensterläden zu öffnen und das Zimmer zu lüften.
In der Zwischenzeit ging die Tante in ihr Zimmer, um heimlich mit ihrer Schwägerin Giulia zu telefonieren. Sie wollte sie über die Ankunft der Geschwister informieren.
Giulia ließ das Telefon keine zweimal klingeln.
„Hallo meine Liebe, wie geht es dir?“, fragte Ida.
„Gut, danke. Aber jetzt erzähl‘ doch mal, wie ist es gelaufen?“
„Er hat es geschafft, zu Fuß vom Bahnhof bis hierher zu laufen. Er dachte, ich würde sie mit dem Auto abholen. Aber Libero hat ihm als Ausrede erzählt, dass Camilla, unsere Kuh, kalben musste“, lachte Ida.
„Ich hätte ihn zu gern so schweißgebadet gesehen!“
„Nach dem Mittagessen“, wollte Ida weitererzählen, aber Giulia unterbrach sie.
„Er hat etwas gegessen?“
„Ja, er hat die Nudeln und das Fleisch verputzt.“
„Wow! Zu Hause beißt er nur einmal von einem Brötchen ab.“
„Es wird nicht einfach sein, er sag nichts“, sagte Ida. „Aber du wirst sehen, dass wir ihn ein wenig aufbauen werden.“
Im Hintergrund hörte man Carlo Fragen stellen und lachen.
„Fernseher und Videospiele habe ich verschwinden lassen, wenn schon eine Rosskur, dann richtig.“
Helios lag auf dem Sofa und konnte keinen Muskel bewegen. Seit Jahren hatte er sich nicht so viel bewegt.
In der Schule gelang es ihm immer, mit der einen oder anderen Ausrede, die Sportstunde zu schwänzen.
„Helios, komm schon, ruf bitte deine Schwester, ich brauche jemanden, der mir hilft, das Abendessen vorzubereiten“.
Helios traute seinen Ohren nicht, es schien ihm unmöglich, aufzustehen.
Aber die Tante rief mit dem bestimmenden Ton eines Generals, der keinen Widerspruch zuließ:
„Helios, hast du gehört?“
„Ich geh‘ ja schon“, antwortete er und lief mit einem Begräbnisgesicht zur Leiter.
Unter der kleinen Holzleiter angekommen, blieb er stehen und fing an, nach seiner Schwester zu rufen.
Aber trotz der lauten Rufe ihres Bruders antwortete Gaia nicht.
Immer verzweifelter kletterte er die Stufen hinauf. Das Halbdunkel auf dem Dachboden machte ihm Angst. Der Weg erschien ihm Stufe um Stufe immer endloser. Als er den Kopf durch die rechteckige Luke steckte, rief er erneut nach seiner Schwester, aber wieder bekam er nur Schweigen zur Antwort. Er machte sich Mut und stieg auch die letzten Stufen hinauf. Von oben packte etwas seinen Arm.
Helios blieb erstarrt stehen, die Augen geschlossen. Panik breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Ich hab dich!“, rief Gaia, die ihren Bruder in diesem Zustand sah.
„Geh weg, du blöde Kuh, ich hab´ mir Sorgen gemacht, du hättest mir antworten können.“
Gaia ließ sich nicht provozieren und da sie fasziniert von all den Dingen war, die sie gefunden hatte, sagte sie:
„Dieser Dachboden ist voller seltsamer Sachen. Komm, sieh mal hier ...“
Helios stieg auf den Dachboden und folgte seiner Schwester, die alte Fotos durchblätterte.
„Sieh mal, wie komisch er aussieht“, sagte sie und gab ihm die Fotos.
„Was ist daran komisch?“, fragte Helios.
„Wie was?“ erwiderte Gaia, „erkennst du ihn denn nicht?“
„Wen?“, fragte Helios erneut.
„Na, Papa!“, rief Gaia.
„Papa? Du hast recht, so gekleidet hatte ich ihn nicht erkannt, er sieht Libero ähnlich. Der zieht sich genauso an!“
Endlich kam nach langer Zeit ein Lächeln über seine Lippen. Gaia schaute sich inzwischen neugierig die anderen Fotos an.
„Hast du das gesehen? Er sieht aus wie Libero, als er klein war. Er ist so seriös und schmollend, dass man ihn fast nicht wiedererkennt.“
Auf dem Foto konnte man ein Kind sehen, mager, mit einem starren Blick ins Leere, blass und ausdruckslos.
„Er sieht aus, als ob er von Außerirdischen entführt wurde", meinte Gaia.
Das Bild zeigte ihn im Garten, er hielt seine Spielautos fest in der Hand. Das Foto war in der Dämmerung aufgenommen worden, mit dem Sonnenuntergang im Rücken. Neben seinem langen Schatten war ein zweiter Schatten zu sehen, obwohl das Kind allein auf dem Foto war.