Helios starrte das Foto an und bemerkte besorgt:
„Siehst du diesen Schatten?“
„Welchen?“
Helios wurde aufgeregt:
„Den hier, siehst du den? Der gehört zu keinem Körper“, sagte er und zeigte darauf.
„Der hier? Du irrst dich, der kommt vom Baum“.
Obwohl sie von der Perspektive nicht unbedingt überzeugt war, versuchte Gaia trotzdem, ihren Bruder zu beruhigen.
Helios wollte nicht den Eindruck erwecken, verrückt zu sein, und um nicht wieder auf das Thema zurückzukommen, erklärte er, warum er da war.
„Wir müssen runter, die Tante hat nach dir geschickt, sie braucht Hilfe, um das Abendessen vorzubereiten.
„Bleibst du hier?“, fragte Gaia, sprang wie von einer Tarantel gestochen auf, um zur Leiter zu gehen.
Helios dachte nicht im Traum daran, alleine da oben zu bleiben.
„Nein, ich komme mit dir nach unten“, antwortete er.
Als Gaia in die Küche kam, hatte ihre Tante schon mit den Vorbereitungen für das Abendessen begonnen und sie machte sich sofort nützlich.
Helios wollte die Beine hoch legen und sich auf dem Sofa ausstrecken, als Idas Stimme ihn aufschreckte.
„Was machst du da? Komm schon, komm her und hilf uns. Es ist noch nicht Zeit, sich auszuruhen, du kannst den Tisch decken.“
„Wo ist Libero?“, fragte Gaia.
„Er ist sicher dabei, die Ställe zu schließen“, antwortete Ida. „Helios, warum gehst du ihn nicht holen, sobald du hier fertig bist“
„Ich gehe“, bot sich Gaia fröhlich an.
„Nein, dich brauche ich hier, lass deinen Bruder nur gehen“.
„Ja“, antwortete Helios erschöpft, der seltsamerweise einen Bärenhunger hatte.
Draußen vor der Haustür hielt er Ausschau nach seinem Cousin, der draußen auf den Feldern auf dem Traktor saß und in den Himmel schaute.
Helios kam laut rufend näher, heute schienen alle ihr Gehör verloren zu haben, so wie Gaia antwortete jetzt auch Libero nicht auf sein Rufen.
„Hoffen wir, dass es ansteckend ist, so verliere ich auch das Gehör und kann mich hinlegen, ohne auf irgendwen hören zu müssen", dachte Helios.
Er musste die ganze Strecke bis zum Traktor zurücklegen, bevor er eine Antwort bekam.
„Warum schreist du so?“, fragte Libero.
„Es ist Zeit nach Hause zu kommen, das Abendessen ist fertig“, antwortete Helios.
„Komm hoch“, lud ihn Libero ein, als ob er nicht gehört hätte, was Helios gesagt hatte.
„Ich, da hoch?“
„Ja, hier hoch, ich zeig dir was.“
Helios kletterte hinauf, Libero machte ein wenig Platz und sie setzten sich zusammen hin.
„Sieh nur, wie herrlich!“, rief Libero aus und zeigte auf den Himmel. „Kannst du dir vorstellen, dass ich bis vor ein paar Jahren nicht in der Lage war, ihn zu sehen?“
„Was?“, fragte Helios und versuchte Gott weiß welche Seltsamkeit zu entdecken.
„Den Himmel“, antwortete er.
„Den Himmel?“
„Ja, den Himmel, er ist so wunderschön, aber oft heben wir für eine lange Zeit unseres Lebens nicht den Kopf, um ihn anzuschauen. Damit meine ich nicht, ihn zu betrachten, um zu sehen, wie das Wetter ist, sondern ihn still zu bewundern, so wie das Meer, das sich mehr auf Augenhöhe befindet und deshalb häufiger geschätzt wird. Bleibst du jemals stehen, um ihn zu beobachten?“
„Nein“.
„Das solltest du aber. Das hat eine sehr belebende Wirkung und rückt viele Dinge in den richtigen Blickwinkel.“
Helios war erstaunt über die tiefen Gedanken seines Cousins und schwieg eine Weile mit ihm, um ihn zu betrachten.
Die blendend weißen bis rauchfarbenen Wolken hingen zwischen zwei Himmelslagen, einem bleiernen Himmel unter ihnen und einem türkisfarbenen über ihnen. Die Schattierung vermischten sich mit den ockerfarbenen Nachklängen einer inzwischen fast untergegangenen Sonne, die das Licht auf sie warf und ihren Scheitel Gold färbte, sodass der Eindruck entstand, das Licht aus einer anderen Welt zu sein, das dort war, um ein Leben zu erleuchten, das auf ihnen stattfand. Dicht, wie Eischnee, die weißen und chaotisch, wie der Malausbruch eines dreijährigen Jungen, die grauen.
Unter allen Wolken erregte eine seine besondere Aufmerksamkeit. Sie hatte die Gestalt eines Einhorns, die sich dunkel vor dem weißen Hintergrund abzeichnete, als würde das graue Tier über die weißen Himmelsweiden rennen. Genau wie in einem Fresko von Tiepolo, streckte sich diese natürlich aufgebrochene Decke ins Unendliche, jenseits des Sichtbaren empor, in ein Mysterium, dem gegenüber sich unsere Seelen klein und gleichzeitig unsterblich fühlen.
Libero sprang plötzlich vom Traktor.
„Jetzt habe ich Hunger“, sagte er laut lachend.
„Hast du keinen Hunger, Helios?“
„Doch, hab ich.“
„Also komm runter und lass uns essen gehen, vielleicht lasse ich dich beim nächsten Mal eine Runde mit dem Traktor fahren.“
Und dann machte er sich auf den Heimweg.
Helios vergeudete keine Zeit und folgte ihm, der Hunger machte sich wieder bemerkbar.
Kapitel Vier
Wie ein böses Omen, hauchte sie ihm Worte in einer fremden Sprache ins Ohr
Helios stand früh auf, es war unmöglich, seine Tante, die schon beharrlich nach ihm rief, zu ignorieren. Draußen war gerade die Sonne aufgegangen, er schaute in den dämmernden Himmel und dachte für einen Moment an den Sonnenuntergang vom Vorabend, an das Gefühl von Frieden, das er in diesen Augenblicken gespürt hatte. Aber das war von kurzer Dauer. Seine Ohren fingen an zu pfeifen, ein stummes, stechendes Pfeifen, das ihm die Seele zerschnitt und ihn in die kalte Realität zurück brachte.
Helios schleppte sich noch im Pyjama in die Küche, in der Hoffnung, mit dem Frühstück etwas aufzuwachen.
Tante Ida, sein Cousin und seine Schwester saßen schon fertig angezogen und gekämmt da, als ob es schon acht Uhr morgens und nicht erst fünf Uhr dreißig wäre! Es herrschte eine festliche Stimmung, sein Cousin Ercole sollte heute aus dem Scout Camp nach Haus kommen. Ida freute sich auf die Rückkehr ihres Sohnes. Er war fünf Tage weg gewesen, aber seit Libero damals den Unfall gehabt hatte war sie immer in Sorge, wenn ihre Kinder außer Haus waren und sie würde sie am liebsten nie aus den Augen verlieren wollen.
Als der Feldwebel Ida den ungehorsamen Helios erblickte, schickte sie ihn rücklinks aus der Küche, um sich zu waschen und anzuziehen.
Ida war eine energische Frau, die von den Höhen und Tiefen des Lebens gezeichnet war. Nach dem Tod ihres Mannes und den Problemen mit ihrem Sohn musste sie sich einem völlig neuen Lebensstil anpassen, der vollkommen anders als der einer Stadtbewohnerin war, der die ersten Jahre ihrer Ehe geprägt hatte.
Hart und entschlossen hatte sie sich dieser neuen Herausforderung gestellt. Mehr als einmal war sie auf sich allein gestellt und verzweifelt in Tränen ausgebrochen, aber sie hatte sich nicht unterkriegen lassen.
Doch sollte man sich von ihrem Auftreten wie ein General nicht täuschen lassen, im Innern war Ida weich wie der flüssige Kern in einem Soufflé.
Kurz darauf kehrte Helios fertig angezogen und mehr oder weniger ordentlich zurück, obwohl seine Stimmung düster war und er nach wie vor Hunger hatte.
Es duftete nach Milch und Schokolade, aber vor allem lag noch der Duft der riesigen Plätzchen in der Luft, die seine Tante am Vortag gebacken hatte.
Riesige Milchgebäck-Zöpfe, die mit verschiedenen Gewürzen wie Zimt, Anis und natürlich seinen heiß geliebten Sesamkernen, die nicht fehlen durften, zubereitet wurden.
Seine Schwester und Libero tauchten sie bereits in ihre Milch ein.
Libero fragte ihn:
„Weißt du, wer heute nach Hause kommt?“
Helios war erstaunt über die Frage:
„Wen?“, fragte er.
„Ercole, mein kleiner Bruder!“
Helios erwiderte nichts, er hatte seinen gleichaltrigen Cousin völlig vergessen.
„Wo war er denn?“, fragte er, als hätten sie sich nicht schon am Vortag darüber unterhalten.
„Wie, wo war er?“ fragte Gaia, „Tante Ida hat es doch gestern erzählt.“
„Er kommt aus dem Scout Camp nach Hause“, sagte Libero lächelnd.
„Heute wartet der Dachboden auf euch“, meinte die Tante mit einem Ton, der keine Widerworte duldete. „Beeil dich, Helios, beende das Frühstück und mach dich an die Arbeit. Gaia kommt etwas später nach, um dir zu helfen, sie muss zuerst eine Besorgung für mich erledigen“.
Helios trank seine Milch in einem Zug aus und fühlte sich erleichtert, dass er für eine Weile allein und in Frieden auf dem Dachboden sein konnte. Er genoss die Vorstellung, sich die Kopfhörer seines geliebten mp3-Players in die Ohren stecken zu können.
Er suchte nach dem Gerät, konnte es aber nicht finden, also kam er in die Küche zurück und fragte:
„Hat jemand meinen Player gesehen?“
„Der ist gestern leider einem Unfall zum Opfer gefallen. Du hattest ihn auf dem Sofa liegen lassen und als ich das Sofa ausgezogen habe, um das Bett für euch herzurichten, ist er in den Ausziehmechanismus geraten ... es ist nicht viel übrig geblieben, aber ich habe die Speicherkarte aufbewahrt“, erzählte Tante Ida, während sie die Karte, von einem Zierteller auf dem nahm holte, um sie ihm zu geben.
Der Tag hatte wirklich schlecht begonnen, dachte der Junge, stieg mit der ihm typischen Langsamkeit die Leiter zum Dachboden hinauf und schaltete das Licht ein.
Überall stapelten sich Sachen, der Raum musste geputzt werden und es musste ein Platz geschaffen werden, wo sie die Betten aufstellen konnten - das war ehrlich gesagt zu viel Arbeit für ihn allein. Also beschloss Helios, das große mittlere Fenster zu öffnen, um Luft und Licht herein zu lassen und sich dann irgendwo entspannt hinzusetzen, um auf Gaia zu warten.
Seine Augen erblickten etwas, das ihn erstarren ließ. Ein Buch auf einer alten Holzkiste, wie das, das der seltsame Mann im Zugabteil gelesen hatte.
Wirklich eine seltsamer Zufall, das Buch war sicherlich kein aktueller Bestseller, das beunruhigte ihn. Plötzlich ging das Licht aus und Helios hörte eine seltsame Stimme, die ihm wie ein böses Omen Worte in einer fremden Sprache ins Ohr hauchte.
Obwohl er wusste, dass es unmöglich war, hatte er panische Angst, dass sich der Mann dort im Dunkeln aufhalten könnte. Er suchte nach dem Lichtschalter, konnte das Licht aber nicht wieder einschalten, die Glühbirne musste durchgebrannt sein. Eine tiefe Angst ergriff ihn, während die Stimme immer lauter in seinem Kopf widerhallte. Er versuchte, sich zum Fenster vorzutasten und schleifte dabei alle Gegenstände, die im Weg lagen, mit sich.
Als er an den Fenstergriff kam, ließ sich das Fenster nicht öffnen, also begann er verzweifelt dagegen zu schlagen, in der Hoffnung, es zu entriegeln.
Er zitterte, kalter Schweiß war ihm ausgebrochen.
Plötzlich ging das Licht an, Helios drehte sich schnell um, er hätte schreien wollen, aber die Stimme blieb ihm im Hals stecken.
Er erblickte Gaia.
„Helios, geht es dir gut? Was ist das für ein Lärm? Hast du dir weh getan?“
Der Junge war weiß wie ein Bettlaken, hatte einen verstörten Blick und zitterte.
Gaia nahm ihn zutiefst besorgt in den Arm und flüsterte:
„Ist alles gut? Es ist wieder passiert, stimmt´s? Diese seltsame Sache, die dich so verstört ...“
Helios antwortete nicht und schaute seine Schwester auch nicht an. Er war noch sehr weit weg, gefangen in seinen Gedanken, unfähig, die Wärme ihrer Umarmung zu spüren, so als wäre er aus Stein.
Langsam löste sich die Umarmung, Helios kam langsam wieder zu sich.
Als erstes drehte er sich um, um zu sehen, ob das seltsame Manuskript wirklich da lag, wo er es gesehen hatte, oder ob er es nur geträumt hatte.
Leider lag es noch da, sein Blick wurde wieder eiskalt.
Gaia, die die ganze Szene beobachtet hatte, näherte sich, um danach zu greifen und heraus zu finden, ob es wirklich der Grund für die Furcht ihres Bruders war. Sie beobachtete Helios Blick und das Buch.
Helios schaute genau dorthin, sie drehte sich um und griff danach, drehte sich dann mit dem Buch in der Hand zu ihm um und fragte:
„Ist es das, was dich so beunruhigt?“
Helios schwieg.
„Rede mit mir, Helios. Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest.“
„Der Zug“, flüsterte Helios.
„Der Zug, was bedeutet das, der Zug?“
„Ich sah eine Ausgabe von diesem Buch im Zug“.
„Was findest du daran seltsam?“
„Da saß ein komischer Kerl in der Sitzreihe Reihe neben mir, als ihr im Restaurantwagen wart.“
„Viele Leute lesen, wenn sie unterwegs sind.“
„Aber das ist kein gewöhnliches Buch, siehst du es denn nicht?“ erwiderte Helios aufgeregt.
Tatsächlich hatte Gaia die Besonderheit des Einbandes bemerkt und sie war noch überraschter, als sie das Buch aufschlug.
Es war in einer ihr fremden Sprache geschrieben, die Bilder, alle in schwarz-weiß, zeigten seltsame Figuren in Wäldern und bei Vollmond. Viele dieser Figuren waren, gelinde gesagt, Furcht einflößend.
Gaia gab vor, sie nicht zu bemerken, klappte das Buch sofort wieder zu und warf es in eine Ecke, um ihre Gleichgültigkeit vorzutäuschen.
„Komm schon, es ist nur ein Zufall, und das ist nur ein altes Buch“.
Helios war schon wieder in sein Schweigen zurückverfallen, es surrte wieder in seinen Ohren.
Das Mädchen versuchte, den Bruder abzulenken, obwohl diese gespenstischen Bilder ihr nicht aus dem Kopf gehen wollten.
„Komm, hilf mir, lass uns diese Kisten ins Licht schieben und fangen wir an, Platz unter dem Oberlicht zu schaffen. Ich möchte unser Bett dort aufstellen. Leider werden wir im selben Bett schlafen müssen und ich möchte beim Einschlafen auf die Sterne schauen.
Sie arbeiteten den ganzen Vormittag lang und legten dabei ein gutes Tempo vor. Mit ihrem Geplapper gelange es Gaia ihren Bruder, der nach dem Vorfall mit etwas mehr Energie zu reagieren schien, abzulenken.
Sie verbrachten auch einen Großteil des Nachmittags mit Putzen und Aufräumen, bis Tante Ida sie aufforderte, sich zu waschen, da Ercole am Abend eintreffen würde und das sollte gefeiert werden.
Libero hatte versprochen, sie zum Tanzen auszuführen, im Dorf sollte das jährliche Erntefest stattfinden.
Draußen war die Hupe des alten Busses zu hören, der zweimal wöchentlich ins Dorf kam, nachdem er die verschiedenen Ortsteile der Stadt hinter sich gelassen hatte. Die Scouts benutzten ihn, um vom Camp in Tresentieri, einem nahegelegenen Wald, nach Hause zu kommen.
Libero sprang aus dem Haus, um seinen Bruder, der noch den übergroßen Rucksack auf den Schultern trug, in der ihm typischen Weise zu packen, herumzuwirbeln und zur Haustür zu ziehen, wo er sich, nachdem er sich aus der Umklammerung seines Bruders befreit hatte, in den Armen seiner Mutter wiederfand.
Ercole freute sich über diesen Ausdruck der Zuneigung, obwohl er es ein wenig übertrieben fand, wo der doch bloß fünf Tage weg gewesen war.
Er begrüßte Gaia liebevoll mit zwei Küssen auf die Wange, die das sehr nett fand. Seinem Cousin dagegen war nur ein kühles „Hallo“ vorbehalten, da er ihn für das Verschwinden des Fernsehers und vor allem seiner geliebten Videospiele verantwortlich machte.
Ercole war genauso alt wie Gaia und in allem das Ebenbild seines mythischen Namensgebers: er war groß, muskulös und athletisch gebaut und Mitglied des Wrestling-Teams im Ort.
Er hatte schwarzes, an den Seiten kurz rasiertes Haar, mit Bürstenschnitt in der Mitte, dunkle Augen und einen olivfarbenen Hautteint. Aber sein „hartes“ Aussehen spiegelte in keiner Weise sein wahres, friedliches Wesen wider, das unfähig war, irgendwelchen Groll zu hegen.
Sie aßen schon früher zu Abend, um ausreichend Zeit zu haben, sich für das Fest herauszuputzen. Zu früh vielleicht, aber andererseits hatte Tante Ida für den Anlass ein Hochzeitsmahl vorbereitet und man brauchte Zeit, um alle Köstlichkeiten aufzutischen.
Auf dem Erntefest könnten sie dann alles verdauen.
Am längsten ließen natürlich die beiden Damen des Hauses wegen ihrer Vorbereitung auf sich warten. Helios hatte wenig Lust, er war so, wie er sich vor dem Frühstück angezogen hatte, schon startklar. Ercole zog eine Jeans an und schmierte sich ein paar Kilo Gel ins Haar, das spurlos darin verschwand.
Libero war unter den Männern derjenige, der die meiste Zeit benötigte. Er kam erst aus seinem Zimmer, als er fertig war. Er strahlte, er trug eine blaue Caprihose mit einem Hemd darüber, das die Hawaiianer für übertrieben gehalten hätten, ihm aber durchaus gut stand.
Seine Augen funkelten, dieses Dorffest war eines seiner liebsten.
Sobald alle fertig waren, versuchte Helios vergeblich, dieser Qual zu entgehen, aber er wurde von der Begeisterung seiner Tante überwältigt, die fast nicht wiederzuerkennen war. Sie trug ein schwarzes Blumenkleid, Schuhe mit Absätzen, offenes Haar und Make-up. Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn aus dem Haus.
Auf der Straße konnte man neben den herkömmlichen Lichtern und bunten Fähnchen die Dekorationen bewundern, die die Veranstalter des Festes dieses Jahr angefertigt hatten.
Am Straßenrand schmückten Heuballen in allen nur erdenklichen Formen und Größen das Dorf.
Im Zentrum war das Denkmal der Gefallenen von riesigen Strohrollen umgeben.
Auf dem Hauptplatz gab es eine Bühne, auf der die Blaskapelle ihre Instrumente arrangierte.
Rund um die Tanzfläche standen Stühle, auf denen die älteren Menschen bereits Platz genommen hatten und sich unterhielten, während sie darauf warteten, der Jugend beim Tanzen zuzusehen. Die Jüngsten rannten bereits auf der Tanzfläche herum und imitierten die Großen, die sie bei den Tänzen, die in Kürze beginnen würden, behutsam meiden würden.
Hauptgesprächsthema an diesem Abend war die Ankunft im Dorf von Gaia und Helios, den Kindern von Carlo und Giulia. Die älteren und erwachsenen Dorfbewohner erzählten sich von den Erinnerungen an die Jahre, die die beiden im Dorf verbracht hatten.
Wie üblich, gab es einige Ungereimtheiten: die einen hatten die beiden als Draufgänger in Erinnerung, andere als gute Menschen, während die ehemaligen Schulfreunde sich an die geschwänzten Schultage erinnerten, die sie mit Spielen und Faulenzen auf den Feldern verbracht hatten.
Die einen erkannten in Helios das Gesicht seines Vaters, die anderen in Gaia, andere wieder meinten in keinem der beiden irgendeine Ähnlichkeit zu erkennen und machten die Großeltern dafür verantwortlich.
Das Blasorchester begann die Instrumente aufzuwärmen. Es war fast alles bereit. Der Moderator oder besser gesagt der Mann, der jedes Jahr die Ansprache hielt, lud die üblichen Amtsträger des Dorfes ein, auf die Bühne zu kommen.
Schließlich beendete er seine Rede und auch die Danksagungen an die Sponsoren, begleitet vom allgemeinen Desinteresse der Bürger, die anfingen zu gähnen. Jetzt klatschten sie Beifall, in der Hoffnung, dass die Reden beendet waren und das Orchester endlich zum Tanz aufspielen könnte.
Sobald bekannt wurde, dass der Pseudo-Moderator die Bühne verlassen würde, nahm der Applaus zu. Der Dirigent machte einen kleinen Sprung und mit einer Handbewegung schwenkte er den Dirigentenstab zum Auftakt der Posaunen. Im Takt folgten das Schlagzeug, dann die Saxophone und schließlich die Klarinetten.
Der erste, der auf die Tanzfläche sprang, war Libero, zusammen mit seiner Lieblingspartnerin, mit der er jedes Jahr den Tanz eröffnete. Entgegen der Vorstellung, die man sich aufgrund der Beschreibung von Libero machen könnte, war er ein anmutiger Tänzer und die Frauen des Dorfes liebten es, jedes Jahr mindestens eine Runde mit ihm auf der Tanzfläche drehen zu können. Das galt sowohl für die jüngeren als auch für die älteren Damen, denen er es nie an Aufmerksamkeit fehlen ließ. Er liebte es zu tanzen und konnte diese Leidenschaft vermitteln, ohne mehr Interesse als tanzen an seinen Tanzpartnerinnen zu haben.
Die Tanzfläche füllte sich, Gaia erhielt eine Reihe von Tanzaufforderungen, die sie nicht abwies.
Helios hatte einen Augenblick lang ein seltsames Gefühl, ohne es zu merken, hatte sein Fuß angefangen, im Takt zu wippen.
Sobald der Tanz unförmlicher wurde und bevor er sich weigern konnte und man sich nur an der Hand halten und drehen brauchte, ergriff Tante Ida seine Hände, die an seinem Körper baumelten, und tanzte mit ihm am Rand der Tanzfläche.
Seltsamerweise wehrte sich Helios nicht, er spürte einen Augenblick lang, wie ihn der Rhythmus packte, er hatte Spaß und seine Wangen schmerzten bei dieser seltsamen Verrenkung, die seine Gesichtsmuskeln seit Jahren nicht mehr gewohnt waren.
Er schaffte es, von den Händen seiner Tante an die von mehreren neugierigen Mädchen des Dorfes weitergereicht zu werden, die ihn amüsiert anstarrten.
Am Ende der Tanzrunde kehrte Helios auf seinen Platz zurück und spürte, wie ihm das Blut durch die Muskeln schoss. Plötzlich begann das seltsame Pfeifen in seinen Ohren wieder und zwang ihn, sich vom Platz zu entfernen. Die Musik, die ihn kurz zuvor noch amüsiert hatte, wurde ohrenbetäubend.
Er lief zur grünen Wiese neben der Kirche, die voller Oldtimer-Traktoren stand, die dort ausgestellt wurden, und auf der es von kleinen Kindern wimmelte, die sie unermüdlich anstaunten und um sie herum liefen.
Helios setzte sich in eine dunkle Ecke und beobachtete sie.
Das ganze Gelächter hallte in ihm wider und erinnerte ihn an etwas - das Echo eines entfernten, längst begrabenen Glücks.
Er beneidete ein Kind, das glücklich auf den Vater zulief und seine Hand ergriff. In seinem Kopf versuchte eine tief begrabene Erinnerung aufzusteigen: die Wärme und der Geruch der Hand seines Vaters.
Ein stechender Schmerz durchbohrte seine Schläfen, hinderte ihn daran zu denken, er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, ihm war kalt.
„Helios, was machst du hier allein? Ist dir nicht gut?“
Die Tante, die ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen verloren hatte, setzte sich zu ihm. Helios antwortete nicht.
Ida legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn liebevoll an sich. Aber er spürte die Wärme nicht. In seiner Welt war es wieder kalt geworden.
An diesem Abend, als sie zum Bauernhof zurückkehrten, redete Gaia ununterbrochen davon, wie sehr sie sich amüsiert hatte und von ihren neuen Freunden.
Sie schliefen zum ersten Mal auf dem Dachboden, das Bett hatten sie unter dem Oberlicht aufgestellt, genau so, wie Gaia es sich gewünscht hatte, die in die Sterne blickend einschlief.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.
Вы ознакомились с фрагментом книги.
Для бесплатного чтения открыта только часть текста.
Приобретайте полный текст книги у нашего партнера:
Полная версия книгиВсего 10 форматов