Die göttliche Schöpferwelt wird weiter gegliedert in drei Hierarchien, die wiederum jeweils drei Gliederungen umfassen, also 3 x 3 = 9 hierarchische Ordnungen bilden (Dionysius der Areopagit).8
Entwicklung und Rhythmen
Entwicklung hat immer Anfang und Ende, in der Apokalypse des Johannes als Alpha und Omega bezeichnet, erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabets. Entwicklung hat immer ein Ziel, durch Christus »bis zur Vollendung der Erdenzeit« (Matthäus 28,20) genannt, in der Apokalypse Neues Jerusalem.
auf dem Weg zu einem Ziel sein
Entwicklung heißt auch, auf dem Weg zu sein, auf dem Weg zu einem Ziel bzw. zu seinem Ziel, denn davon gibt es viele. Und »Ziel« bedeutet nicht »Ende«, denn jedem Ende steckt der Zauber eines neuen Anfangs inne, wie es Hermann Hesse formulierte.9
Am Menschen ist Entwicklung so einfach mit den Augen abzulesen: Zwei Zellen vereinigen sich durch Mutter und Vater und bilden den Keim, aus dem dann – wenn wir ehrlich sind – die unfassbare Gestalt eines Menschen wird, erst als Kind, als Jugendlicher, junger Erwachsener bis hin zum Greis. Wir können das Gleiche aber auch an einer Eichel erleben: Kann man fassen, wie daraus einst ein großer, knorriger Eichbaum wird? Und diese Bilder ließen sich fast ohne Ende vermehren.
Diesen Kräften der Entwicklung begegnet ein gesund empfindender Mensch mit einer Seelenkraft, die ganz aus der Kindlichkeit seines seelischen Wesens stammt: dem Staunen. Denn alle Entwicklung ist staunenswert. Ihre Grundelemente sind Entstehen (Werden) und Vergehen, aber auch Metamorphose und Steigerung, wie Goethe sie für die Pflanze beschrieb. Beim Menschen gliedert sie sich in leibliche, seelische und geistige Entwicklungen, und wir werden sehen, wie diese sich in unterschiedlichen Zeitabläufen und unterschiedlicher Intensität vollziehen.
Rhythmus als Grundelement aller Entwicklung
Und damit sind wir auch schon beim Rhythmus als weiterem Grundelement aller Entwicklungen. Rhythmus kann beschleunigen, verlangsamen, im Kreis (Kreislauf) oder spiralig führen, kann anschwellen und abklingen, wie wir es am unmittelbarsten aus der Musik kennen. Diese kann ein großartiger Lehrmeister zum Verständnis von Rhythmus sein. Wie unterschiedlich erleben wir den Dreivierteltakt des Walzers oder den Viervierteltakt des Militärmarsches. Wobei »Takt« hier eigentlich ein falscher Begriff ist, denn Takt ist nicht Rhythmus. Takt ist mechanisch, zum Beispiel beim Viertaktmotor eines Autos. Rhythmus ist immer lebendig, zum Beispiel als Atmung. Rhythmus ist immer voller Variationen, und so nennt die moderne Physiologie die gesunde menschliche Atmung auch »respiratorische Arrhythmie«, weil sie eben nie maschineller Takt ist wie beispielsweise bei einer maschinellen »künstlichen« Beatmung auf einer Intensivstation.
den Lebenslauf prägende Rhythmen
Ein großer Rhythmus in der Natur ist der der Jahreszeiten, ein kleiner ist der von Tag und Nacht. Beim Menschen ist die Fülle der Rhythmen fast unüberschaubar, wie die moderne Rhythmusforschung in der Medizin, die Chronomedizin, herausgearbeitet hat. Doch gibt es auch große Rhythmen wie Wachsein und Schlafen, ganz groß Geburt und Tod. Und solche Rhythmen prägen den Lebenslauf, wie die Siebenjahresrhythmen, die Jahrzehnte oder die sogenannten Mondknoten von 18 Jahren, 7 Monaten und 9 Tagen. Diese werden uns durch das nächste Kapitel über den Lebenslauf begleiten, denn sie prägen unser Menschsein in seinen so unterschiedlichen Erscheinungsformen von der Geburt bis zum Tod.
Auch der Kosmos ist rhythmisch geordnet, man denke an die Bahnen der Wandelsterne oder Planeten, die Bewegungen von Erde und Mond im Verhältnis zur Sonne, das Wirken bestimmter geistig-hierarchischer Wesen wie beispielsweise die sieben Erzengel, die sich in der Weltenlenkung rhythmisch abwechseln.10 Jedes Organ, das ja mikrokosmischer Abdruck einer makrokosmischen Kraft ist, hat seinen Rhythmus, die Leber anders als das Gehirn, der Nerv anders als das Blut.
Freiheit
eigentliches Ziel des Menschwerdens
Freiheit ist nicht zu definieren, wahrscheinlich weil wir sie noch gar nicht in ihrer vollen Wirklichkeit kennen oder entwicklungsgeschichtlich kennen können. Freiheit kann deshalb nur als Ziel erlebt werden, und die Anthroposophie Rudolf Steiners beschreibt sie als das eigentliche Ziel des Menschwerdens. Sie spricht geradezu von einer zehnten Hierarchie der Freiheit, die die Menschheit einmal bilden soll, als Ergänzung der neun himmlischen Hierarchien, die wir als einen Leib oder Organismus der Trinität ansehen können.11
Es ist kein Zufall, dass Steiner mit 33 Jahren eines seiner wichtigsten Werke in Buchform veröffentlicht hat, die Philosophie der Freiheit, der er den methodischen Untertitel Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode gab.12 Er hatte den Inhalt durch vorausgehende kleinere Schriften und seine Dissertation vorbereitet.13 Die Anthroposophie kann auch als Freiheitswissenschaft verstanden werden. Freiheit verbindet sich innig mit der Wahrheit. Ein Christuswort lautet so treffend: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Johannes 8,32). Sie ist Teil seines Wesens, seine Substanz, ER ist der »Weg, die Wahrheit und das Leben« (Johannes 14,6).
Freiheit muss immer neu erworben werden
Die Freiheit wurde dem Menschen als Gotteskeim in seiner Schöpfung eingepflanzt, sie ist unser kostbarster Same, der immer stärker austreibt und wachsen will, der aber auch gehegt und gepflegt werden und auch geschützt sein will. Welche großartigen Freiheitskämpfer kennt die Menschheit, wie konzentriert war ihr Auftreten im 20. Jahrhundert, verfinstert von Faschismus und Bolschewismus, von zwei Weltkriegen und weltweiter Unterdrückung vieler Menschen. Freiheit hat man nicht, man muss sie sich immer neu erwerben, und einer ihrer schwierigsten Anteile ist, sich selber gegenüber frei zu sein oder zu werden. Ein köstlicher Anteil von ihr ist es auch, sie anderen zu geben oder zu ermöglichen.
Freiheit kann ein hoher Anteil des Alters sein. Ein Kind dagegen kann nie frei sein, es lebt in größter Abhängigkeit von anderen Menschen, Eltern, Erziehern, Geschwistern; es ist auch völlig abhängig von seiner Leibesentwicklung. Wie viel Freiheit kann im Vergleich hiermit das Alter schenken!
Persönliches
Jedes Buch ist Ausdruck des Menschen, der es verfasst. Die Intensität, mit der sich der Verfasser allerdings in die Inhalte einbringt, kann sehr verschieden sein, zum Beispiel bei einer wissenschaftlichen Ausarbeitung, die größte Objektivität anstrebt, im Verhältnis zu einer Autobiografie, die überwiegend subjektiv ist. Das vorliegende Buch über das Alter ist ausgesprochen persönlich oder auch bewusst subjektiv. Der Leser und die Leserin sollen deshalb etwas von der Person wissen, die hier schreibt.
die Lebenserfahrung »spricht mit«
Person birgt personare in seinem Wortstamm, was »durchtönen« heißt. Und so habe ich es auch immer erlebt, wenn ich ein Buch schrieb oder einen Vortrag hielt. Es spricht in den eigenen Sätzen etwas mit, was mehr ist als man selber. Ich möchte dieses Etwas Lebenserfahrung nennen, die geprägt wird und im Alter oft gesättigt ist von den Begegnungen mit anderen Menschen. Wir sind doch gar nicht denkbar ohne die Prägung durch andere Menschen, ganz zentral in Kindheit und Jugend, aber immer fortwirkend bis in das hohe Alter. Am stärksten wurde mir das als Arzt bewusst durch die Menschen, die sich mir anvertrauten und die die Medizin traditionell Patienten nennt. Sie waren meine eigentlichen Lehrer, durch sie habe ich alles gelernt, was mich (hoffentlich!) zu einem guten Arzt werden ließ. Das ist mir bei meinem ersten Buch Intuitive Medizin in jedem Kapitel bewusst geworden, manchmal wusste ich bei einem einzelnen Satz ganz konkret, wer ihn mir gerade »diktierte«.
Liebe zur Schöpfung Mensch
Durch mich »tönt« in allem der Arzt! Ich wusste mit drei Jahren, dass ich diesen Beruf ergreifen wollte, ich hatte die Intention offensichtlich »mitgebracht«. Es ist ein ganz auf den Menschen gerichteter Beruf, und du kannst nicht Arzt sein, ohne den Menschen zu lieben. Mediziner vielleicht, aber nicht Arzt. Und die Liebe gilt nicht zunächst dem einzelnen konkreten Menschen, der mir als Patient begegnet, sondern der Schöpfung Mensch. Sie ist ein einziges Wunder, vielleicht das größte aller Schöpfung. Ihr wollte ich mich verbinden, ja ihr dienen. Das Studium lieferte viel technisches Verständnis, unglaubliches Detailwissen, ca. 25.000 Seiten Lehrbuchwissen musste ich mir aneignen, um das Staatsexamen zu bestehen. Aber vom Menschen lernte ich kaum etwas, ganz vereinzelt von solchen Dozenten, die Vorlesungen anboten, die man nicht nachweisen musste, um das Examen zu machen. Sie wurden »fakultativ« genannt. Beispielsweise im Rahmen der Vorlesung Das Gesicht des Kranken während meiner Zeit an der Universität in Heidelberg führte uns vier Teilnehmer (!) der Dozent an das Krankenbett und lehrte uns wahrzunehmen, was das Gesicht eines Kranken alles erzählen kann, wenn man richtig schaut, bis hin zu einer Diagnose ohne Labor, Röntgen, Endoskopie oder MRT.
Anthroposophie
Auf der Suche nach mehr Verständnis vom Menschen begegnete mir durch einen älteren Bruder die Anthroposophie, und seither habe ich mich ihr ganz verbunden. Sie war es unwissend wahrscheinlich schon viel länger, und sie ist ein weiteres Element, das mich durchtönt. Als ich bei Steiner las, der Arzt brauche Menschenverständnis und Menschenliebe, traf dies auf uneingeschränkte Zustimmung in mir. Diese Zweiheit lebt in der Medizin als Diagnose und Therapie. Diagnose bedeutet, den anderen zu verstehen, wer er ist, wie er geworden ist, und vor allem, wer er werden will. Und es bedeutet, ihn so sein zu lassen, wie er ist, ihm keinen Stempel von Vorurteilen aufzuprägen und doch mit ihm zu entdecken, was er an sich durch die Krankheit, die uns nun verbindet, ändern möchte. Das ist ihm ja oft nicht bewusst, und eine der Künste der Diagnose ist es, dies herauszufinden und bewusst zu machen. Und dann die Wege zu suchen und zu finden, um diesen Entwicklungsschritt zu realisieren. Diese Erkenntnisarbeit quillt aus der Liebe, die das Verständnis ergänzt und zur Therapie wird.
Christliches
Und ein drittes Element erlebe ich mich durchtönen: das Christliche in der Welt. Es fällt mir schwer, hier »Christentum« zu schreiben, weil sich viel zu viel mit diesem Wort verbindet, was durch die Jahrtausende ausgelebt wurde, was mit dem Gründerwesen, dem Christus, nichts gemein hat. Von sehr jugendlichen Jahren an wusste ich, dass ich Christ sein will, doch was mir an Kirche oder Konfession begegnete, korrespondierte nicht mit dem, was in mir klang. So wurde Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor in dem Roman Die Brüder Karamasow eine tiefe Bestätigung meines Empfindens. Ein wirkliches Erkennen und Wissen, was es heißt, Christ sein zu wollen, fand ich erst in der Anthroposophie.
Offenheit
Es sind diese drei Elemente, die mich durchtönen, aus denen ich lebe und als Arzt gearbeitet und gelehrt habe, von denen der Leser und die Leserin wissen sollten: Arzt aus Menschenverständnis und Menschenliebe; Anthroposophie und der Mensch Rudolf Steiner; und die Christuswesenheit, die als Gottessohn Mensch geworden ist und sich uns innig verbunden hält mit all seiner Liebe und seinen vielen Helfern. Ich könnte von Weltanschauung sprechen, wenn dieses Wort nicht oft missbraucht würde, als bedeute es Einengung bis zur Ideologie. So wird die Anthroposophische Medizin von Kritikern oder Gegnern gerne als »weltanschaulich« disqualifiziert, als ob die Naturwissenschaften nicht auch eine spezifische Sicht auf Mensch und Welt vermitteln würden, also Weltanschauung seien. Ich kann von mir sagen, dass ich mich nie einengen ließ auf bestimmte Anteile oder Sichtweisen, sondern für alles mir Begegnende offen blieb, zu lernen und meine Anschauung von Mensch und Welt zu erweitern. Und da kann ich den Bogen wieder zum Alter schlagen. Denn wenn ich gefragt wurde, welche Mittel es denn gäbe, um gesund alt zu werden und zu sein, war und ist meine Antwort: »Bleibe immer neugierig und höre nie auf zu lernen!«
Der Lebenslauf
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.
Rainer Maria Rilke
empfangen werden
Lebenslauf« ist ein wirklich passender Bildbegriff für die Zeitspanne, in der der Mensch als Geistseele in den physischen Leib-Keim eintritt, den Ei- und Samenzelle von Mutter und Vater gebildet haben, bis hin zu dem Augenblick, in dem er alles Physisch-Leibliche wieder ablegt, den Elementen der Erde zurückgibt. Wir nennen diesen Augenblick den Tod, den vorausgegangenen Empfängnis. Auch ein bildstarkes Wort: Wir werden empfangen. Wer empfängt uns? Wir denken zunächst an die Eltern, die das auch tun und meist voller Dankbarkeit; wir können auch an eine Gemeinschaft von Menschen denken: die erweiterte Familie, Großeltern, vielleicht ältere Geschwister, vielleicht auch die Gemeinschaft einer christlichen Gemeinde, die im Vollzug der Taufe einen nächsten Schritt der Empfängnis vollzieht. Auch die Hebamme und der ärztliche Geburtshelfer sind solche Empfänger oder Empfangende.
Am Anfang eines Lebens steht die Gemeinschaft, am Ende ist man allein, auch wenn vielleicht Menschen am Sterbebett versammelt sind. Der Todesaugenblick und die unmittelbaren Tage danach gehören ganz und gar »mir«, das heißt unserem Ich als Ausdruck unserer Einzigartigkeit oder Individualität. Rudolf Steiner spricht von dem Tod als Augenblick höchster Ich-Erfahrung. Nie im Leben seien wir so bei uns selbst wie in diesem Augenblick.14 Als Arzt habe ich oft erlebt, wie Sterbende, die intensiv von ihren Nahestehenden begleitet wurden, gerade dann den Todesaugenblick wählten, wenn sie – vielleicht auch nur für Minuten allein gelassen – ganz für sich waren, was oft Kummer, ja manchmal auch Unverständnis oder Vorwürfe bei den Zurückgebliebenen auslöste.
»unterwegs sein«
Nun der Lebenslauf! Sind wir nicht wirklich andauernd unterwegs, auf Wegen unterschiedlichster Art, sind wir nicht oft auch eilig unterwegs, wie im Lauf? »Lauf« kann viele Tempi beschreiben, vom geruhsamen bis zum flotten Gehen, dann im engeren Sinne Laufen, schließlich gar Rennen. Tendenziell ist die Richtung immer nach vorne, und Pausen gibt es kaum, es sei denn Erschöpfung oder Ermüdung erzwingen sie. Und plötzlich werden wir aufmerksam, dass der Lebenslauf tatsächlich rhythmisch von einer großen Pause unterbrochen wird, die wir Schlaf nennen.
Viel zu wenig ist dem modernen Menschen bewusst, dass er – wieder annähernd – ein Drittel seines Lebens verschläft und vor allem von dieser Zeit normalerweise nichts weiß, mit Ausnahme vielleicht seiner Träume, die aber meistens rasch vergessen werden. Wir entdecken aber in dem Phänomen »zwei Drittel Wachen und ein Drittel Schlafen« einen ersten Rhythmus, der tatsächlich das ganze Leben durchzieht. Er verändert sich, denn zu Beginn des Lebens schlafen wir viel mehr, als dass wir wach sind. Und im Alter wird die Menge des Schlafs oft deutlich geringer, macht dann vielleicht nur noch ein Viertel aus, manchmal auch noch weniger. Das ist durchaus individuell unterschiedlich.
die Pause als Teil des Rhythmus
Wir entdecken außerdem einen ganz entscheidenden Teil von Rhythmus: die Pause. Und die Pause ist zugleich Wendepunkt, zum Beispiel der Richtung oder der Intensität. Diese Wendepunkte sind beim Wachen und Schlafen das Einschlafen und das Aufwachen.
Abend- und Morgengebet
Der Arzt kann aus seiner Anschauung vermitteln, dass solche Wendepunkte ganz wichtige Momente sind, in denen sich Gesundheit bildet. Wird in sie störend eingegriffen, können schwere Krankheiten folgen. Wir können auf eine Lebenswirklichkeit schauen, die vor nicht allzu langen Zeiten für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit war, es heute jedoch selten noch ist: das Abend- und das Morgengebet. Die Menschen hatten noch ein instinktives Wissen, dass diese beiden Momente, in denen man von jeweils einer Welt in eine andere übertritt, eine hohe Bedeutung für ein gesundes Menschsein haben. Shakespeare war solch ein Wissender, er lässt Othello seine Frau Desdemona fragen, ob sie schon zur Nacht gebetet habe, ehe er sie erwürgt.15 Bei allen Rhythmen müssen wir immer intensiv auf die Wendepunkte achten, deren Qualität Ruhe, Stille ist, man kann es auch »Anhalten« nennen.
Jahrsiebte, Jahrzehnte und Mondknoten
Es wurde schon erwähnt, dass der Lebenslauf besonders von drei Grundrhythmen geprägt ist: von Jahrsiebten, Jahrzehnten und den sogenannten Mondknoten. Sie sollen im Einzelnen betrachtet und dargestellt werden. Wir werden dabei auch wieder auf die Drei stoßen, die alles durchwirkt. Wir werden Wiederholung und Steigerung erleben, aber auch das Eingreifen der uns begleitenden Gegenkräfte (Widersacher) durch Verlangsamung oder Beschleunigung, von Steiner auch als Verspätung und Verfrühung bezeichnet.
Im ersten großen Überblick sind es neun Jahrsiebte, die für unsere Zeit, und damit sind viele Jahrhunderte gemeint, als idealtypisch für den Lebenslauf charakterisiert werden können. Zu diesen wird ein zehntes Jahrsiebt gerechnet, das wie eine Oktave in der Musik alles noch einmal in sich zusammenfasst. So währt ein idealtypisches Leben also 70 Jahre, was zu Steiners Lebzeiten noch viel gültiger war, als wir es für die Gegenwart erleben, wo die durchschnittliche Lebenserwartung die 70 längst für beide Geschlechter überschritten hat. Das wird uns zu den Jahrzehnten leiten.
Die 3 x 3 + 1 Jahrsiebte
drei große Lebensabschnitte
Jeweils drei Jahrsiebte umfassen drei große Lebensabschnitte, die Kindheit und Jugend, das Erwachsensein und das Alter: von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr, von diesem bis zum 42. Lebensjahr, dann bis zum 63. Lebensjahr. Ein weiteres Jahrsiebt erstreckt sich bis zum 70. Lebensjahr. Was im Lebenslauf darüber hinausführt, habe ich das »Hohe Alter« genannt. Steiner hat für diese Zeit von Gnade gesprochen.
Entwicklung von Leib, Seele und Geist
Die ersten 21 Jahre braucht der Mensch für seine ganz zur Individualität führende Leibesentwicklung. Gleiches gilt für die folgenden 21 Jahre der Seelenentwicklung, und dann folgt im Ansatz die Geistentwicklung. Und alles baut auf das Vorhergehende auf, wie noch beschrieben werden soll. Während ein Anteil unseres Menschseins sich aufsteigend entwickelt, sind vorausgegangene Erreichnisse eventuell schon wieder in ihrer absteigenden, devolutionären Entwicklung. Denn der Mensch ist mit seiner Geburt Leib, Seele und Geist. Sie sind immer gemeinsam da, doch bilden sie in der Zeit Unterschiede ihrer Entwicklung. Bestimmend dabei ist die Individuation.
Impulse der Individuation
Steiners großartiges Bild ist der von den Eltern und auch Voreltern gegebene Leib als ein »Modell«, das in 3 x 7 Jahren zum Individualleib umgestaltet wird. Der Gestalter sind wir selbst, wir als Geistseele, deren Keim das rein geistige Ich ist. Von ihm gehen alle Impulse der Individuation aus, die bis in alle einzelnen Zellen hineinreicht. Diese von Steiner geisteswissenschaftlich erforschte Tatsache ist im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll von der naturwissenschaftlichen Forschung bestätigt und als Immunsystem hochdifferenziert beschrieben worden. Das Grundgesetz heißt: »Das Selbst erkennt alles Nichtselbst.« Das Selbst ist unser Ich, alles Fremde wird davon abgegrenzt. Es wird durch die im Immunsystem wirkenden Kräfte entweder eliminiert (ausgeschieden), oder es wird aus Fremdem zu Eigenem gemacht, was zum Beispiel mit der Nahrung geschieht.
Individuation und Immunität
Kein Nahrungsstoff darf in uns der oder das bleiben, was er in der Natur geworden ist oder heute auch im Labor synthetisiert wurde. Man kann hier auch auf die modernen synthetischen Arzneimittel schauen. Diese von mir Aneignung genannte Tätigkeit des Immunsystems nennt die Physiologie Verdauung. Sie ist eine der wichtigsten Funktionen aller Immunität. Und so betrachtet wird das Immunsystem auch am stärksten in der frühen Kindheit und Jugend in Anspruch genommen, wenn sich die Bildung des ganz speziellen, einzigartigen Individualleibs vollzieht.
Dass dies eine – wenn auch staunenswerte – Tatsache ist, hat wieder die medizinische Wissenschaft bewiesen, als sie die Organtransplantation entwickelte. Kein Organ ist leiblich-stofflich mit einem anderen identisch, es gibt nur mehr oder weniger Ähnlichkeiten. Immer muss das transplantierte Organ durch starke immununterdrückende (-suppressive) Medikamente vor dem durchaus aggressiv reagierenden Immunsystem des Empfängers bewahrt werden, welches das ihm fremde Organ »abstoßen« will und diese Intention auch über lange Jahre nicht aufgibt, sodass die Immunsuppressiva lebenslang genommen werden müssen. Eine Ausnahme bilden sehr kleine Kinder, bei denen – allerdings auch in längeren Zeiträumen – eine Assimilation des fremden Organs erfolgen kann. In der Kindheit sind eben – um an den Ausgangsgedanken anzuknüpfen – zunächst alle Organe fremd, stammen von Eltern, und müssen allmählich, das heißt in rund 20 Jahren, zu eigenen verwandelt werden.
physisch-stoffliche Organisation Lebensorganisation Empfindungsleib
Der Leib ist in sich gegliedert in eine physisch-stoffliche Organisation, die auch als Morphe oder morphologisch bezeichnet wird. Sie ist der entscheidende Bereich für die Leibvorstellung der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, die auch Schulmedizin genannt wird. Hier kann sie messen, wiegen und zählen, hier lassen sich Befunde erstellen. Dieser physisch-stoffliche Anteil des Leibes wird durchzogen von einer Lebensorganisation, die für alle Funktionen verantwortlich ist und sich im Befinden äußert. Beide bilden von der Geburt bis zum Tod, ja einige Tage über ihn hinaus, eine untrennbare Einheit, sie sind der Leib im engeren Sinne. Doch wirkt eine dritte eigenständige Organisation in beide hinein, die Träger unserer Empfindungen ist und zugleich Verbindungsglied zur Seele. Dieser Anteil des Leibes kann Empfindungs- oder auch Seelenleib genannt werden, wie die ersten beiden Stoff- oder physischer Leib bzw. Lebens- oder Funktionsleib.
Der Empfindungsleib ist extrem feinstofflich, Steiner verglich ihn mit der Dichte von Luft, wir können auch sagen feiner Gase. Er hat wesentlichen Anteil an der Immunität, speziell der spezifischen Abwehr durch feinste Stoffe, die auch Antikörper genannt werden. Er äußert sich seinem Namen entsprechend in der Welt unserer Empfindungen, die wir auch als Instinkte, Triebe, Begierden, Lust und Unlust, Schmerz, Hunger und Durst bezeichnen, und übergeordnet durch unsere leibliche Gestimmtheit. Es ist hier nicht beabsichtigt, eine ausführliche und differenzierte Darstellung des Leibes zu geben, das ist andernorts geschehen und dort nachlesbar.16 Wir brauchen aber die Grundbegriffe, um die Entwicklungsschritte und Metamorphosen der ersten 21 Jahre nachvollziehbar beschreiben zu können. Denn auf ihnen bauen die späteren auf, die schließlich zu der Epoche des Lebenslaufs führen, die wir Alter nennen.