Die Entwicklung des Leibes (1. bis 3. Jahrsiebt)
Ich-geprägte Entwicklung
Diese vollzieht sich also in drei großen Zyklen von jeweils sieben Jahren mit dem Ziel, alles, jede einzelne Zelle, die Organe und alle Gewebestrukturen wie Knochen, Nerven, Muskulatur ganz Ich-geprägt zu entwickeln und schließlich nichts mehr als Leib an sich zu haben, das noch fremd ist, von Eltern oder Vorfahren stammt.
Überwinden alles Fremden
Das beginnt im 1. Jahrsiebt mit der physisch-leiblichen Struktur, die wir Stoffleib nannten, auch Körper im engeren Sinne. Alles von der Genetik der Eltern geprägte Stoffliche muss zu etwas Eigenem, Individuellem werden. Der elterliche Anteil wird entweder abgebaut und ausgeschieden und durch eigene Zellen bzw. Gewebe ersetzt, oder das Elterliche wird umgeschmolzen und in Eigenes verwandelt. Dabei schult sich das Immunsystem, von dem dargestellt wurde, dass das Überwinden alles Fremden eine seiner Hauptaufgaben ist. Hierbei haben – heute muss ich fast sagen hatten – die sogenannten Kinderkrankheiten und besonders die hochfieberhaften eine wichtige Funktion. Das Abstoßen und Umschmelzen war wie ein Verbrennen durch das Fieber, wie eindrucksvoll am Beispiel der Abschuppung der gesamten Haut im Ablauf einer Scharlacherkrankung zu sehen ist. Wie oft erlebten die Eltern an ihrem Kind einen damit verbundenen Entwicklungsschritt oder auch eine starke äußere Veränderung, wie sie Goethe so köstlich in Dichtung und Wahrheit beschreibt, nachdem er die Pocken durchgemacht hatte. Eine Tante, die ihn bis dahin immer so entzückend fand, nennt ihn nun nur noch »garstig«.17 Am Ende der ersten sieben Jahre ist im Idealfall alles ursprüngliche Gewebe als Stoffliches zumindest einmal vollständig ausgetauscht. Und auch der härteste Stoff, den der Leib in den Zähnen bildet, wird dann im sogenannten Zahnwechsel ausgetauscht.
Individualisierung der Lebensorganisation
Im 2. Jahrsiebt wird die ebenfalls von den Eltern und Vorfahren mitgegebene Lebensorganisation individualisiert. Hier ist es weniger Elimination wie beim Stoffleib, sondern Verwandlung. Die ureigene Lebensorganisation, die bereits im Vorgeburtlichen mithilfe hierarchischer Wesen aus dem großen Lebenskosmos herausgesondert wurde, durchdringt nun die elterliche, verbindet sich mit ihr und verwandelt sie zu Eigenem. In dieser Zeit der Schulreife hat jeder Mensch einen Überschuss an Lebenskräften, weil die eigenen und die der Eltern sich potenzieren. Es ist daher auch die Phase mit den größten Gesundheitskräften während des ganzen Lebens.
Etwa in der Mitte dieser Zeit wird ein Teil von den Lebenskräften abgesondert und stellt sich dem Denken zur Verfügung, wird zu Denkkräften. Erst von dieser Zeit an sollte pädagogisch das Lernen mehr und mehr über das Denken erfolgen, der Intellekt erzogen werden. Vorher ist ein mehr spielerisches, bildhaftes Lernen angemessen. Das findet sich in der Waldorfpädagogik wieder.
Die Lebenskräfte sind in sich gegliedert, Rudolf Steiner sprach von sieben Lebensstufen, die das eigentliche Leben ausmachen.18 Die siebte und letzte beschreibt das Reproduktionsleben, die Fähigkeit, selber neues Leben hervorzurufen. Das zeigt sich zum Abschluss des 2. Jahrsiebts in der Geschlechtsreife.
Individualisierung des Empfindungsleibes
Im 3. Jahrsiebt individualisiert sich dann der Empfindungsleib, der zum Seelenträger wird. Und wieder durchdringt die eigene Empfindungsorganisation die elterlich vorgegebene. Dabei geht es weniger »freundschaftlich« zu als bei der Begegnung der beiden Lebensorganisationen. Jetzt kommt es zu oft recht heftigen Auseinandersetzungen. Das wird Pubertät genannt. Der Empfindungsleib birgt ja alles schon Genannte wie Leidenschaften, Begierden, Triebe und Instinkte in sich, Lust und Unlust, auch Hunger und Durst, alle Quellorte, die wir heute Emotionen nennen. Und da ist das »Fremde«, von den Eltern Gegebene, nicht mehr akzeptabel, da will man selbst die Quelle des emotionalen Lebens werden.
Egoismus
Nun bekommt auch der Egoismus eine ganz andere Intensität. Jedes Kind ist egoistisch, muss es auch sein, es sucht ja – durchaus mit Hilfe – seinen Weg ins Leben, will seinen Leib, will entdecken, welchen Lebensplan es in langen vorgeburtlichen Zeitläufen zusammen mit dem begleitenden Engel erarbeitet hat, den es mit der Geburt »vergessen« hat. Vergessen aber nur insoweit, als der Plan vollständig in uns existiert, doch in tiefe Schichten des Bewusstseins hinabgesunken ist, aus denen er nur allmählich und durch Übung wieder bewusst gemacht werden kann.
Die Intensivierung des Egoismus im 3. Jahrsiebt hängt mit der Intendierung aller nun erfolgenden Veränderungen unmittelbar aus dem Ich zusammen. Steiner hat diese Gesetzmäßigkeit der Leibentwicklung so formuliert: Immer das nächsthöhere Wesens- oder Leibesglied übernimmt die Führung und Verantwortung für die Individuation des nächstniedrigeren, die Lebensorganisation die des Stoffleibs, die Empfindungsorganisation (die eben noch nicht Leib ist und aus dem Vorgeburtlichen stammt) die des Lebensleibs (Ätherleibs) und schließlich die Ich-Organisation die des Empfindungsleibs.19
Leibesentwicklung der ersten vier Jahrsiebte
Ich-Leib
Wir werden darauf aufmerksam, dass es noch ein viertes Glied des Leiblichen gibt, ganz im Verborgenen, von Beginn an wirksam, alles überblickend, letztlich auch steuernd. Wir können vom Ich-Leib oder einer Ich-Organisation sprechen, die sich überhaupt nicht mehr stofflich manifestiert, auch nicht feinststofflich wie der Empfindungsleib. Sie ist rein geistiger Natur und wählt sich als ihr Trägerelement, durch das sie ihre Wirkungen in die Leiber vermittelt, ausschließlich die Wärme. Das tiefe Geheimnis unserer Leibeswärme ist hiermit verbunden.
das 28. Lebensjahr
Die Ich-Organisation befreit sich vom Gebundensein an den Leib im 4. Lebensjahrsiebt und wendet sich damit der Seelenentwicklung zu. Und doch ist ein Teil der Ich-Organisation auch der Individuation dieser Wärmeorganisation als Ich-Träger gewidmet, die erst mit dem 28. Lebensjahr ganz abgeschlossen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt wirkt der ganze Kosmos mit seiner Wesensfülle an der Menschenentwicklung mit. Dann gibt er den Menschen frei, er soll ja unabhängig werden. Viele erleben diese Zeit auch als ein Alleingelassenwerden.
Aus all dem lässt sich vielleicht eine weitere Aussage Steiners an gleicher Stelle verstehen: dass erst jetzt der Mensch in die eigene Verantwortlichkeit eintritt.20 In vergangenen Zeiten war das der Zeitpunkt, zu dem man frühestens Parlamentarier werden konnte. Doch ich bin vorausgeeilt. Zur Beschreibung des 3. Jahrsiebts und der Individuation des Empfindungsleibs lässt sich noch hinzufügen, dass diese einen Abschluss in der Mündigkeit findet, die früher mit dem 21. Lebensjahr verbunden wurde. Dass diese heute in Deutschland auf das 18. Lebensjahr vorverlegt wurde, hat mit Kräften der Verfrühung zu tun, die schon erwähnt wurden (siehe Seite 27).
Die Entwicklung der Seele (4. bis 6. Jahrsiebt)
drei Seelenglieder
Auch die menschliche Seele ist eine gegliederte Einheit. So wie wir berechtigt von dem Leib sprechen können, obwohl es drei »Leiber« oder Leibesglieder mit durchaus eigenen Gesetzmäßigkeiten gibt und wir auch ein viertes Glied (Ich-Leib) ansprachen, so ist die Seele eine Einheit von drei Seelengliedern: der Empfindungsseele, der Verstandes- oder Gemütsseele und der Bewusstseinsseele. Sie wurden menschheitlich in großen Zeitepochen ausgebildet, die Empfindungsseele in der ägyptisch-babylonischen Kulturepoche und die Verstandes-oder Gemütsseele in der griechisch-römischen, die bis in das 15. Jahrhundert n.Chr. andauerte. Seither entwickelt die Menschheit das höchste und geistnächste Seelenglied, die Bewusstseinsseele. Ihre Entwicklung dauert bis weit in das 4. Jahrtausend. Wir stehen menschheitlich also noch ziemlich am Anfang ihrer Bildung.
Diese menschheitlich vorgebildeten Seelenglieder bzw. ihre Anlagen werden jedem Menschen von der Empfängnis bzw. Geburt an aus dem Strom seiner Vorfahren mitgegeben. Wir haben alle eine gemeinsame seelische Anlage, allerdings schon familien- oder stammmäßig vorgeprägt, am unmittelbarsten von Eltern und Großeltern. Diese Anlage wird nun vom Einzelmenschen in seinem mittleren Zeitabschnitt des Lebenslaufs individualisiert, im 4. Jahrsiebt die Empfindungsseele, im 5. dann die Verstandes- oder Gemütsseele und im 6., also vom 35. bis zum 42. Lebensjahr, die Bewusstseinsseele.
zeitliche Richtung
Hierfür beschreibt Rudolf Steiner eine Gesetzmäßigkeit und zeitliche Richtung, die überraschen kann. Das gestaltende Individual-Ich wendet sich zeitlich gesprochen zurück und durchläuft das 3. Jahrsiebt vom 21. zum 14. Lebensjahr, um aus dem bereits individualisierten Empfindungsleib die nun auch immer stärker individuelle Empfindungsseele herauszuarbeiten. Gleiches gilt für die Verstandes- oder Gemütsseele vom 14. bis zum 7. Lebensjahr, wo nun der individualisierte Lebensleib die Grundlage bildet für die individuelle Seelengestaltung. Schließlich arbeitet das Ich dann im 6. Lebensjahrsiebt an der Gestaltung der Bewusstseinsseele aus dem Stoff- oder physischen Leib heraus. Um das 42. Lebensjahr steht unser Ich dann erneut an dem Tor der Geburt als Schnittstelle oder auch Anfang der Geistentwicklung, die wir Alter nennen.
Empfindungsseele
Die Empfindungsseele ist voller Spontaneität. Ihr eigentliches Element ist die Bewegung. Alle spontanen Bewegungen stammen aus ihr, auch die Einatmung, durch die sie sich dem Empfindungsleib verbindet. Ein weiteres Empfindungsseelenelement ist Dualität, auch das Entweder-Oder. »Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt« nennt es der Volksmund; »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, lässt Goethe es seinen Doktor Faust sagen,21 wobei das Einschiebsel »ach« so charakteristisch für die Empfindungsseele ist. Zu ihr gehört auch das Seufzen. Ihre Dualität spiegelt sich in den großen Empfindungen von Sympathie und Antipathie, die wir auch Nähe und Distanz nennen können, in Lust und Unlust, Freude und Kummer und vielen Empfindungen mehr, bei denen die eine immer ihr Gegenüber hat und sucht.
Verstandes- oder Gemütsseele
Die Verstandes- oder Gemütsseele zeigt uns eine Besonderheit. Ist sie eine oder zwei, Verstand oder Gemüt? Gelegentlich ersetzte Steiner das Wörtchen »oder« durch ein »und«. Das kann uns auf die Spur führen: Sie ist das Seelenglied des Sowohl-als-Auch. Sie überwindet das Entweder-Oder der Empfindungsseele und verwandelt es zur Wirklichkeit des Miteinanders der Polaritäten oder Gegensätze, eben: Frau und Mann, Nacht und Tag, Oben und Unten usw.
Mit einem Blick in unsere Zeit erleben wir das Problem eines wissenschaftlichen Denkens, das sich ganz auf das Entweder-Oder stützt, obwohl die Wirklichkeit ständig das Sowohl-als-Auch erfahren lässt. Es kann nur Tag oder Nacht sein. Oder? Nein, während es bei uns Tag ist, ist es an anderer Stelle auf der Erde Nacht. Das Entweder-Oder existiert nur für den Raum, das Räumliche, für die Zeit gilt das Sowohl-als-Auch. Beides verbindet sich in einer Dimension, die über Raum und Zeit hinausführt, in der Bewusstseinsseele.
Es ist für das mittlere Seelenglied so wichtig, dass aller Verstand, der auch Träger des Intellekts ist, immer durchdrungen wird von dem Gemüt. Dieses gibt dem Verstand die Wärme, die zum Verstehen wird. Ohne Gemüt wird der Verstand kalt und tendenziell zerstörerisch. Er will dann erobern anstatt zu verstehen. Und auch das Gemüt möchte immer durchdrungen sein vom Verstand, was in dem Gralsgeheimnis bildhaft anschaulich wird, wenn der Mensch durch Mitleid wissend wird.
Mitgefühl
Mitleid oder Mitgefühl sind dann gesund oder auch christlich, wenn sie zur Tätigkeit, zum Handeln im Helfer führen. Das ist einzigartig am Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25–37) nacherlebbar. Barmherzigkeit ist ein Ausdruck für das Zusammenwirken von Verstandes- und Gemütsseele, und es ist kein Zufall, dass sie mit dem Herzen verbunden ist.
Wieder muss ich einfügen, dass eine ausführliche Darstellung, zum Beispiel auch mit Blick des Arztes auf Gesundheit und Krankheit von Seele und Leib, hier unterbleiben muss, weil es um das Alter und die mit ihm verbundene Entwicklung geht. An anderer Stelle kann der Leser mehr darüber finden.22
Bewusstseinsseele Aufforderung zur Selbsterkenntnis
Es sei noch kurz auf die Bewusstseinsseele geschaut. Gelegentlich sprach Steiner auch von einer Selbstbewusstseinsseele.23 Und darauf kommt es an. Bewusstsein durchzieht die ganze Seele, auch die beiden anderen Seelenglieder. Doch dieses Bewusstsein ist auf die Welt gerichtet, träumend-empfindend in der Empfindungsseele, klar und sachlich auf die Welt außerhalb des Menschen, die ihn umgibt, in der Verstandesseele. In der Bewusstseinsseele richtet sich das Bewusstsein nun auf das eigene Selbst, in ihm liegt die Frage »Wer bin ich?«, die Aufforderung zur Selbsterkenntnis. Ich habe das immer den Schritt vom Ich zum »Ich-Bin« genannt, die Frage nach der Existenz, die zugleich die Frage nach dem Träger des göttlichen ICH-BIN ist, dem Christus. Die Bewusstseinsseele bereitet ein Bewusstsein vor, das uns direkt wieder in die Geisterfahrung führt, wo Geist und Natur, heute Materie genannt, nicht getrennt sind, sondern gemeinsame Schöpfung. Die Bewusstseinsseele wird aus dem rückwärts gerichteten Durchlaufen des Stoffleibs gebildet, das Ich arbeitet sie im Durch- oder Eindringen in die Stoffeswelt des physischen Leibes heraus. Es erlebt vom Innersten das Wesen und die Schöpferwelt der Stoffe und ihre Schönheit. Sind schon die stofflichen Offenbarungen der Natur oft überwältigend, die großartige Welt der Kristalle, die Metalle, der Zauber von Pflanzenblatt und -blüte, die Tiergestalten und ihre Bewegungen – wie viel faszinierender ist der Menschenstoff unseres Körpers: ein rotes Blutkörperchen, ein Knochenbälkchen, ein Leberläppchen, die Aufzählung könnte schier endlos fortgesetzt werden.
Materialismus
Dieses Eindringen und Verweilen in der Stoffeswelt ist der entwicklungsgeschichtliche Ursprung des Materialismus, der als Weltanschauung mit der Bewusstseinsseelenentwicklung zeitlich zusammenfällt. Und hier liegt auch eine starke Gefährdung des Menschwerdens. Es fielen die Worte »überwältigend« und »faszinierend«. Das Ich kann in diesem Erleben stecken bleiben. Dann sieht es die Welt im Sinne des Materialismus. Sein Weg muss jedoch weitergehen, den in dem Stoff schöpferisch gestaltenden Geist zu entdecken, was mit anderen Worten heißt, den Geist als Ursprung alles Stofflichen zu erkennen. Nicht »Ohne Körper gibt es keinen Geist« (siehe Seite 15) muss es heißen, sondern »Ohne Geist gäbe es keinen Körper, keine Materie, nichts Sinnlich-Erscheinendes«.
Geisterkenntnis bei vollem Wachbewusstsein
Die Bewusstseinsseele wird das Ich wieder zur Geisterkenntnis leiten, bei vollem Wachbewusstsein, mit kritischem Verstand, aber auch flammendem Gemüt und starken Empfindungen. Denn die Seele ist Eins, alles wirkt in das Andere, tönt mit dem Anderen, bekommt seine Färbung von ihm.
Die Entwicklung des Geistes (7. bis 9./10. Jahrsiebt)
Geistesglieder erst als Anlage vorhanden
Auch das Geistige gliedert sich im Menschen in ein Geistselbst, einen Lebensgeist und einen Geistesmenschen. Diese drei Glieder sind heute nur veranlagt, und der Mensch kann im 7. bis 9. Jahrsiebt an ihnen vergleichsweise so arbeiten, wie ein Gärtner eine Saat gießt und pflegt, lange ehe sie zu keimen beginnt, ehe das Wachstum und die Ausgestaltung der Pflanze erfolgt und sehr lange bevor sie dann reift und Frucht trägt. Doch würde die Saat nicht gepflegt, würde alles Folgende gar nicht geschehen können. So ist es auch mit den Geistanlagen des Menschen, und ihre Pflege erfolgt idealerweise in der Zeit vom 42. bis zum 63. Lebensjahr.
In dieser Zeit arbeitet das Ich wieder zeitlich rückwärts gerichtet an den Seelengliedern und zugleich an den Leibesgliedern, um diese Geistanlagen zu befruchten und ihre spätere Entwicklung vorzubereiten. Das Ich ist ja selber Geist, in seiner Wesenheit reiner Geist und im eigentlichen Sinne Kern des Menschen. Doch es bereitet sich die Gewänder, mit denen es sich bis zum Erreichen einer Vollkommenheit kleidet. Rudolf Steiner nannte diese 3 x 3 Leibes-, Seelen- und Geistesglieder in seinem zentralen Buch einer geisteswissenschaftlichen Menschenkunde Theosophie Hüllen.24 Wir können von Werkzeugen für den Leib und von Instrumenten für die Seele sprechen, für die Geistglieder fehlt ein sie erhellender Begriff. Interessant, dass das altgriechische Wort organon »Werkzeug« bedeutet und unser Organbegriff davon abgeleitet wurde.
Voraussetzungen für die Geistesglieder
Das Geistselbst hat zu seiner Voraussetzung die Bewusstseinsseele und den Empfindungsleib, der Lebensgeist Verstandes- und Gemütsseele und den Lebensleib, der in fernsten Zeiten entstehende Geistesmensch Empfindungsseele und den Stoff- oder physischen Leib. Hier verzichte ich auf weitere Versuche einer detaillierten Beschreibung, weil diese nicht nur aus dem Denken entstehen darf, sondern Anschauung sein sollte. Doch ist es wichtig, jeden Schritt der Geistesentwicklung in den drei Jahrsiebten zu beschreiben und zugleich den Hintergrund zu kennen, für den diese Schritte getan werden. Das wird dann im nächsten Hauptkapitel, das ganz das Alter in den Blick nimmt, folgen (siehe Seite 49 ff.).
höhere Lebenserwartung
Es sei noch ein Blick auf das 10. Jahrsiebt gerichtet, welches die Reihe der 3 x 3 Jahrsiebte nicht nur abschließt, sondern vollendet. Denn im idealtypischen Sinne einer Rhythmik, die – so wie hier dargestellt – für unsere Entwicklungsepoche laut Rudolf Steiner von etwa 1450 bis 3500 n.Chr. gilt, währt der Lebenslauf des Menschen diese 70 Jahre. Dann ist er »Vollmensch«.
Wir wissen alle, dass Menschen heute oft viel länger leben, schon die durchschnittlichen Lebenserwartungen, etwas unterschiedlich für Frau und Mann, gehen deutlich darüber hinaus. Was dieses »Hohe Alter«, das den eigentlichen Lebenslauf übergreift, in der Entwicklung zu bedeuten hat, wird später noch dargestellt werden (siehe Seite 75 ff.). Dieses letzte Jahrsiebt vom 63. bis zum 70. Lebensjahr ist wie eine große Zusammenfassung der vorausgehenden neun. Alles wird zu Einem, jetzt ist das diesmal gelebte Leben rund und – wenn alles gut gegangen ist, was eher die Ausnahme darstellt – der vorgeburtlich gefasste Lebensplan erfüllt.
Man kann verstehen, dass nach Rudolf Steiners Aussage anschließend eine Gnadenzeit folgt, wobei wir klären müssen, was Gnade eigentlich ist. Dem wird ein eigenes Kapitel gewidmet sein (siehe Seite 93 ff.).
Auf eines können wir noch aufmerksam werden: In diesem letzten Jahrsiebt trifft die Siebenheit auf die Zehn! Und das leitet über zu den Jahrzehnten.
Die Jahrzehnte
Bedeutung der Zehn
Rudolf Steiner hat die Jahrsiebte für die Evolution des Menschen in seinem Lebenslauf ganz besonders betont. Die Sieben ist eine Zahl des Lebens und zugleich der Zeit. Was bedeutet nun die Zehn, ist sie überhaupt von Bedeutung?
Ein runder Geburtstag wird traditionell immer besonders gefeiert, vor allem im höheren Alter. Da spielen Siebenjahreszahlen eigentlich keine Rolle. Manchmal findet auch die Hälfte eines Jahrzehnts Beachtung, zum Beispiel der 65. Geburtstag, der lange Zeit mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben gleichgestellt wurde, oder der 75. Geburtstag als Maß eines Dreivierteljahrhunderts.
Beim Menschen erleben wir die Zehn ganz offensichtlich an Händen und Füßen, an den Fingern und Zehen, wobei die Zehn in 2 x 5 gegliedert ist. Die Grundmaßeinheit der Länge, des Meters, wird – zum Beispiel beim Zollstock – eingeteilt in Abschnitte von 10 x 10 Zentimetern und jeder von diesen in wieder 10 einzelne Zentimeter. Das Jahr teilt sich dagegen in 12 Monate, und wir kennen auch Längenmaße wie die Meile, die keine Zehn in sich trägt. Ihre eigentliche Wirklichkeit und Bedeutung für den Menschen muss wohl noch entdeckt bzw. erarbeitet werden. Wir können uns jedoch annähern, dass, wo die Sieben eine innere Beziehung zur Zeit hat, die Zehn mehr dem Raum zuzuordnen ist. Raum und Zeit sind gewichtige Komponenten von Mensch und Welt, und so sollte der Zehn, hier den Jahrzehnten, mehr und mehr Verständnis entgegengebracht werden.
Betonung des Raumes gegenüber der Zeit
Unsere Gegenwart betont den Raum, sie hat für die Zeit wenig Verständnis. Das ist besonders in der Medizin zutreffend, die alles am Menschen räumlich wahrnimmt. Ein einzelner Befund als Momentaufnahme ist in diesem Sinne Raum, seine dauernde Veränderung in der Zeit wird nicht oder kaum beachtet. Der Gehalt von körpereigenem Kortison im Blut ist beispielsweise morgens viel höher als am Abend, im ersten Tiefschlaf geht er gegen Null. Wollen wir also den Menschen »räumlich« verstehen, müssen wir lernen, auch auf die Jahrzehnte zu sehen. Wieder ein vertiefendes Bild aus dem Leben des Jesus von Nazareth: 30 Jahre Entwicklung brauchte der Mensch Jesus von Nazareth, um Träger des Christus zu werden, der dann nur ein Zehntel dieser Zeit, drei Jahre, dem Menschen Jesus einwohnen konnte. Dann hatte der Geist, das Ich des Gottessohns den menschlichen Leib aufgezehrt. Wenn wir den Geist als Flamme sehen, hat sie ihn zu Asche verbrannt.
Jahrzehnte als Schwellen
Viele Menschen, auch ich selbst, erleben die Jahrzehnte als regelrechte Schwellen, die bedeuten, dass Altes verlassen wird und Neues beginnt. Dagegen ist der Übergang von Jahrsiebt zu Jahrsiebt fließend, eher Metamorphose des Gewesenen als Neuanfang. Viele meiner Patienten erlebten zum Beispiel das Ende eines Geführtwerdens an der Schwelle eines Jahrzehnts, die Frauen eher bei 30 Jahren, Männer mit 40. Wie oft stellen sich an diesen Schwellen erste tiefe Sinnfragen, wie oft werden damit Krisenzeiten verbunden. Wir können für unsere Epoche auf eine Zeitreihe von 3 x 3 Jahrzehnten zu je 30 Jahren blicken und sie mit den 3 x 3 Jahrsiebten zusammenschauen, ohne das rechnerisch zu denken, denn diese Rechnung ginge natürlich nicht auf. Der vom modernen Materialismus geprägte Mensch orientiert sich im Raum, denn dieser ist das Grundsystem eines weltanschaulichen Materialismus. Eine Maschine ist reiner Raum, sie hat keine zeitliche Struktur, ist hier und jetzt. Und wieder – Maschinen bestimmen, ja beherrschen heute die Medizin.
Leib, Seele und Geist im Rhythmus der Jahrzehnte
Entwicklung verläuft in der Zeit, ihr Rhythmus wird bestimmt durch die Sieben. Was bedeuten dann jene Drittel von je 30 Jahren, die raumbestimmt sind und ein idealtypisches irdisches Leben von 90 Jahren umfassen? Dieses Alter kommt der heutigen Realität ja deutlich näher als die 70 Jahre, die vorher beschrieben wurden. Ich denke schon, dass wir auch für diesen Rhythmus Leib, Seele und Geist zugrunde legen können. Dann wäre die räumliche Ausgestaltung des Leibes mit etwa 30 Jahren abgeschlossen, damit verbunden die noch starke Abhängigkeit von äußeren Bedingungen, die uns bestimmen: Lehre, Ausbildung, Studium, Gesellenzeit oder erste Berufserfahrungen. Um diese Zeit macht einer vielleicht seinen Meister, ein anderer seinen Facharzt oder wird Volljurist nach Referendariatszeit und zweitem Staatsexamen. Selbstverständlich zeigen sich viele individuell geprägte Ausnahmen von dieser geschilderten Regel, die ich lieber Typus nennen möchte. In der Musik wäre das Gleiche dann ein Thema mit Variationen. Hinzu kommen noch die schon erwähnten Verschiebungen der Verfrühung oder Verspätung (siehe Seite 27 bzw. 45 ff.).