Frage nach dem Sinn menschlichen Alterns
Eine viel tiefergehende Frage verbindet sich mit dem Schöpfergedanken und dem von ihm gegebenen Sinn menschlichen Alterns. Sind wir berechtigt, die wohl unbestreitbare Weisheit des Geschöpfes Mensch nach unserem Gutdünken zu manipulieren? Was soll oder wird der Mensch, der 200 Jahre alt wird, mit der gewonnenen Zeit anfangen? (Ganz zu schweigen davon, wie die Frage der Überbevölkerung bzw. der Ernährung all dieser Menschen gelöst werden soll.) Ist es wirklich erstrebenswert, so lange weiterzuleben?
Diese sich damit verbindenden Fragen sollen hier gar nicht vertieft werden, leiten jedoch unmittelbar über in die Beschreibung des Lebensabschnitts, der jetzt ausführlich dargestellt werden soll und dessen tiefe Sinnhaftigkeit dabei deutlich werden wird.
Wann beginnt das Alter?
das 42. Lebensjahr
Aus einer biografischen, evolutionären Sicht auf den Menschen beginnt der eigentliche Abschnitt des Alters bereits mit dem 42. Lebensjahr. Von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr reichen Kindheit und Jugend, vom 21. bis 42. Lebensjahr die eigentliche Zeit der Reife oder des Erwachsenseins, vom 42. bis zum 63. Lebensjahr dann das, was wir hier in diesem Buch das Alter nennen, wobei schon darauf hingewiesen wurde, dass wie eine Oktave ein weiteres Lebensjahrsiebt bis zum 70. Jahr die ideell-typische Biografie abrunden kann.
körperliche Leistungsfähigkeit
Es gibt Phänomene, die diese aus der Anthroposophie kommende Anschauung auch lebenspraktisch nachvollziehbar machen. Dazu gehört die Tatsache, dass kaum ein Sportler jenseits des 40. Lebensjahres noch Leistungen erbringen kann, die ihn entweder an seine eigenen früheren Leistungen anknüpfen oder ihn mit vergleichbaren Leistungen Jüngerer Schritt halten lassen. Im Leistungssport ist der 40-Jährige die absolute Ausnahme. Wer selbst Sport getrieben hat, wird die Erfahrung gemacht haben, wie sehr Schnelligkeit, Reflexverhalten, aber auch leibliche Elastizität jenseits des 40. Lebensjahres nachlassen und wie stark man zum ersten Mal davon berührt wird, dass der Körper beginnt, dem Widerstand zu leisten, was aus seelischen Intentionen gefordert wird. Begriffe wie »Senioren« oder »Alte Herren« für bestimmte Altersgruppierungen sind im Sport normal und werden nicht als geringschätzig erlebt.
Altersweitsichtigkeit
Auch beginnt etwa ab der Mitte des 5. Lebensjahrzehnts die sogenannte physiologische Altersweitsichtigkeit, die dann eines Tages eine Lesebrille erfordert. Diese ist quasi die erste Prothese, derer wir uns im Alter bedienen. Dass jeweils ganz individuelle Unterschiede bestehen, wann eine solche Hilfe notwendig wird oder wann die körperliche Leistungsfähigkeit so nachlässt, dass dies auch im sportlichen Bereich bemerkbar wird, ist selbstverständlich.
Lebenserfahrung
Aus der Geschichte können wir auf ein weiteres Phänomen schauen, das den Gesichtspunkt, das Alter beginne um das 42. Lebensjahr, unterstützt. Im Römischen Reich musste man erst ein Senex werden, um in den Senat berufen zu werden und Senator sein zu können. Das Eintrittsalter hierfür war das 42. Lebensjahr. Erst zu diesem Zeitpunkt gestand man Menschen zu, aus ihrer Lebenspraxis und -erfahrung fähig zu sein, für die Geschicke der Gesellschaft oder des Volkes handeln zu können. Alter und Weisheit waren damals zusammengehörende Begriffe, und erst aus einer gewissen Weisheit heraus schien der Mensch befähigt, Verantwortung für andere zu übernehmen, wenn er vorher schon gelernt hatte, Verantwortung für sich selbst zu tragen.
Das ist ein ganz entscheidender Gesichtspunkt, um die eigentliche und erste Aufgabe des Alters im Entwicklungsgang des Menschseins zu verstehen. Sind die bisher gelebten 42 Jahre ganz der eigenen Entwicklung, der Gestaltung des Selbst gewidmet gewesen, wendet sich nun dieser Blick vom Ich zum Wir, vom Selbst zur Welt. Mitverantwortung, Mitgestaltung der Welt und vor allem ein Blick auf zukünftige Zeiten und Generationen und deren Leben, das wir in vielfältiger Weise vorbereitend beeinflussen können und müssen, prägen nun den weiteren Lebensgang jedes einzelnen Menschen. Wie eindrücklich ist doch das Bild für diesen Lebensabschnitt, einen Baum zu pflanzen, unter dessen Schatten man selbst nicht mehr ruhen wird.
individuelle Zukunftskräfte
Aber auch für sich selbst hat der Mensch jetzt neue Verantwortung und Aufgaben. Bildet er doch in diesem dritten großen Lebensabschnitt seines Erdenganges an den persönlichen und individuellen Zukunftskräften, die er einmal über die Schwelle des Todes hinaus in ein Jenseits tragen wird, in welchem er geistig-seelisch ebenso real sein und leben wird wie zwischen Geburt und Tod leiblich-seelisch-geistig. In dem Bild zweier gegensinnig gerichteter Kurven der geistigen und leiblichen Existenz des Menschen kann der jeweilige Ab- und Aufschwung beider Entitäten sehr einfach veranschaulicht werden (siehe die Abbildung auf der folgenden Seite). Es gehört zu den wichtigsten Schnittstellen des menschlichen Lebens, ob sich um das 42. Lebensjahr herum die geistige Entwicklung von der nun absteigenden Linie der körperlichen Entwicklung abheben und mehr und mehr unabhängig von dieser verlaufen kann.
leibliche und geistige Entwicklung
Die Dissoziation leiblicher und geistiger Weiterentwicklung jenseits des 42. Lebensjahres bildet das ganze Problemfeld dieses Lebensabschnittes, wobei ja die Seele und das seelische Leben so etwas wie das Bindeglied, das Vermittelnde von beiden darstellt.
zwei Entwicklungsrichtungen
Wir werden also im weiteren Gang der Darstellung auf diese zwei Entwicklungsrichtungen gesondert schauen müssen, um ihnen die jeweilige Berechtigung zuzuschreiben und nicht die eine oder die andere Richtung als das Wesentliche zu vereinseitigen. Das soll in den folgenden Kapiteln zu den drei Jahrsiebten vom 42. bis zum 63. Lebensjahr erfolgen. Für die Zeit nun schwerpunktmäßig geistiger Entwicklung hat der schwäbische Theologe und Mystiker Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) folgendes Epigramm hinterlassen:
Gott gebe mir
den MUT, das zu ändern, was ich ändern kann,
die GELASSENHEIT, Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann,
und die WEISHEIT, das eine von dem anderen zu unterscheiden.
Diese drei Seelenfähigkeiten sind wie Überschriften für die nun folgenden drei Jahrsiebte vom 42. bis zum 63. Lebensjahr.
Jahrsiebte und Planetenwirkungen
Vielleicht kann für den an einem solchen Thema Interessierten noch der Zusatz angefügt werden, dass der Mensch in seiner Verbindung mit den Kräften der Welt, zu denen vor allem auch die Wandel- und Fixsterne gehören, in diesen neun Schritten der jeweiligen Jahrsiebte unter dem besonderen Einfluss jeweils eines Planeten steht. Im 1. Jahrsiebt sind es die Kräfte des Mondes, mit deren Hilfe das Ich die stoffliche Seite des »Modellleibs« individualisiert, im 2. Jahrsiebt Merkur, durch den im Besonderen die Lebenskräfte verwandelt werden, im 3. dann Venus, die die empfindende Leiblichkeit für den individuellen Anteil der Seele aufnahmebereit macht. Das 4. bis 6. Lebensjahrsiebt werden dann ganz durchdrungen, ja, durchwärmt von der Kraft der Sonne. Die letzten drei Jahrsiebte, die uns nun im Speziellen beschäftigen werden, stehen unter den Einflüssen von Mars, Jupiter und Saturn.29 Dabei ist der Blick auf die leibliche Entwicklung in ihrem Durchdrungensein von Seele und Ich gerichtet. Schaut man auf die mehr geistige Seite der Entwicklung, so könnte auch eine umgekehrte Reihenfolge der planetarischen Wirksamkeiten aufgezeigt werden.
Das 42. bis 49. Lebensjahr – Marszeit
Hinwendung des Ichs zu kosmischen Regionen
Es wurde schon angesprochen, dass am Schnittpunkt des 42. Lebensjahres der individuelle Geist (Ich), der nun Leib und Seele durchdrungen und individualisiert hat, sich von den Erdkräften des Leibes ganz allmählich abwendet und sich den kosmischen Regionen, die seine eigentliche, »ewige« Heimat sind, wieder zuwendet, wobei er die sich immer mehr verjüngende Seele mitnimmt (siehe Seite 53 f.). Das künstlerische Bild dieser den kosmischen Kräften (die das Kind auch einfach Himmel nennt) zugewandten Seite von Ich und Seele sind durch alle Zeiten die Flügel gewesen. Das Ich hebt sich also mit seinen kosmischen Flügeln aus den irdischen Bedingungen der leiblichen Gestaltung, an der es ganz maßgeblich mitgewirkt hat, und wendet sich mehr und mehr den kosmischen und damit auch geistigen Gesetzmäßigkeiten zu.
Zeit der individuellen geistigen Entwicklung
Jetzt beginnt die Zeit der individuellen geistigen Entwicklung des Menschen. Natürlich ist jeder Mensch von der Geburt an geistdurchdrungen, doch sind – wie wir gesehen haben – diese geistig-individuellen Kräfte im Menschen primär auf den Leib und später auf die Seele gerichtet. Erst nach dem 42. Lebensjahr kann sich das Ich ganz seiner eigenen Natur widmen und drei eigenständige Geistglieder ausbilden, die Rudolf Steiner Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch nennt.30 Wenn diese wiederum ganz individualisierende geistige Gestaltung von »Hüllen« oder Werkzeugen des Ichs heute auch erst anfänglich möglich ist – es wurde ja schon darauf hingewiesen, dass die eigentliche, sich über etwa 2000 Jahre erstreckende Aufgabe unserer Zeit die individuelle Entwicklung einer Bewusstseinsseele ist (siehe Seite 33) –, so werden doch diese in jedem Menschen keimhaft angelegten »höheren Glieder« mit weiteren keimhaften Kräften beladen, die ihre Entwicklung in der Zukunft neuer Inkarnationen immer stärker möglich sein lassen.
In dem vorausgehenden Jahrsiebt hat sich der Mensch intensiv der selbstständigen Entwicklung seiner in ihm allgemein veranlagten, nun aber durch das Ich herauszuarbeitenden Bewusstseinsseele gewidmet. Dieser Vorgang hat zur leiblichen Voraussetzung, dass das Ich noch einmal ganz in die Tiefen des Leibes hinabtaucht und die Faszination dieser der Natur nachgebildeten Stoffeswelt erlebt.
Naturreiche als Aussonderungen aus der menschlichen Entwicklung
Es gehört zu den zentralen Forschungsergebnissen Rudolf Steiners, dass die gesamte Evolution von Erde und Mensch gemeinsam verlief und die Naturreiche eigentlich wie Aussonderungen der menschlichen Entwicklung gesehen werden müssen.31 Diese evolutionäre Tatsache begründet die moralische Verantwortung des Menschen für die Natur. Wir erlangten unsere Entwicklung zu immer größerer Vollkommenheit nur dadurch, dass wir bestimmte wesenhafte Kräfte aus uns heraussonderten und in eine zunächst absteigende, erdgerichtete Entwicklung bannten. Diese Anschauung begründet auch den christlichen Erlösungsgedanken dieser Naturreiche und -wesen durch den Menschen.
Wenn wir uns jetzt auch nicht mit dieser so umfassenden, für Mensch und Erde zentralen Frage so auseinandersetzen können, dass diese für den Leser auch begründet anschaubar wird, so muss dieser Gedanke doch ausgesprochen werden, um die Besonderheit der Entwicklung der Bewusstseinsseele als Zeitenfrage auch in tieferen Dimensionen verständlich zu machen.
Wichtig für unser Thema ist, dass das Ich in der Stoffeswelt des eigenen Leibes die ganze Vielfalt und Schöpfung der mineralischen Welt findet, wie sie sich im Äußeren dem forschenden Auge als ebensolche Faszination einer Vielfalt erschließt. Nur ist die beobachtende, wahrnehmende Kraft des Ichs nun nicht nach außen in die Welt gerichtet, sondern in eine innere Welt der physischen Kräfte des Leibes.
Verwandtschaft von Natur und menschlichem Leib
Diese Verwandtschaft von Natur und menschlichem Leib ist im Mittelalter immer in den Ausdruck gefasst worden, dass der Mensch einen Mikrokosmos im Makrokosmos darstelle. Man kann diese Anschauung auch so ausdrücken: Jeder menschliche Leib trägt die gesamte Schöpfung von Erde und Kosmos, soweit dieser unserem Weltensystem zugehört, in sich.
Zeit der Einsamkeit
materialistische Weltanschauung
Die Begegnung unseres Ichs mit der Wunderwelt der Stoffe bis in die tiefsten Dimensionen ihres materiellen Seins, also der Materie, schuf in der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit die Voraussetzung für die heute weit verbreitete materialistische Weltanschauung. Sie ist auch die Voraussetzung für die unsere Zeit immer noch beherrschende philosophische Anschauung von Immanuel Kant, dass der Mensch nur die Dinge in der Welt wahrnehmen kann, die seinen Sinnen zugänglich sind, während die – auch von Kant nie geleugneten – »Dinge an sich«, das der äußeren Erscheinung zugrunde liegende Wesenhafte sich menschlicher Erkenntnis unmittelbar nie erschließen könne. Dessen Wahrnehmung wurde von der allgemeinen Wissenschaft in das Gebiet der Metaphysik, des Metaphysischen verwiesen, und es wird heute überwiegend als nicht-existent bezeichnet. Das hat ein Element in die Menschheit hineingetragen, das in seinen Schattenseiten heute als große soziale Problematik erlebt wird: die Einsamkeit.
Vereinzelung als zeitnotwendiger Schritt, um uns als Selbst zu erfahren
Es ist ein aus den Ausführungen vielleicht zu ahnendes Phänomen der Bewusstseinsseelenentwicklung, dass der Mensch innerlich immer mehr auf sich selbst verwiesen wird. Damit tritt in der Seele zunächst eine starke Egozentrik auf, die nach außen in der sozialen Haltung auch Egoismus werden kann. Auf der anderen Seite kann diese Vereinzelung, die im Übrigen ein zeitnotwendiger Schritt ist, aber auch zur Einsamkeit werden. Steiner spricht von antisozialen Trieben, die mit der Bewusstseinsseele verbunden sind. Diese brauchen wir, um uns als Selbst zu erfahren. In unserem Immunsystem finden wir deren Abbild. Es wird nur das Selbst geduldet, alles »Nicht-Selbst«, das Fremde, wird (mit zum Teil aggressiven Abwehrkräften) eliminiert. Es gibt allerdings auch den anderen Weg der Aneignung, der immunologisch Verdauung heißt. Das andere Selbst verschmilzt mit dem eigenen und bildet den Urkeim der Gemeinschaft.
Im Grunde genommen muss jeder Mensch durch dieses Nadelöhr von Einsamkeit hindurch, weil dieses tief existenzielle Noterlebnis, vollkommen allein in einer leeren Welt zu sein, die nichts ist oder enthält außer sich selbst, die Wahrnehmungsrichtung des Ichs dann wieder auf die schöpferische Unendlichkeit dieser Welt ausrichten kann. Diese ist aber nur in ihrer geistigen Realität wirklichkeitsbildend im menschlichen Ich-Erleben. Das kann auch so ausgedrückt werden: Durch die »Erblindung« in der Einsamkeit wird das innere Auge geöffnet für den geistigen Gehalt dieser Welt, wird die Bewusstseinsseele zunächst anfänglich verwandelt in Geistselbst. Ein Bild, ja eine Imagination für diese Entwicklung ist das Gleichnis von der Heilung des Blindgeborenen (Johannes 9,1–41) wie überhaupt die vielen Heilungen Blinder in den Evangelien.
Diesen Entwicklungsweg hat Christian Morgenstern in dichterische Form gebracht:32
Die zur Wahrheit wandern,
wandern allein,
keiner kann dem andern
Wegbruder sein.
Eine Spanne gehn wir,
scheint es, im Chor …
bis zuletzt sich, sehn wir,
jeder verlor.
Selbst der Liebste ringet
irgendwo fern;
doch wer’s ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,
schafft, sein selbst Durchchrister,
Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
ewiger Bund.
Zweifel und Mut
zwei notwendige Seelenkräfte
In dieser Entwicklung vom 35. zum 42. und dann vom Wendepunkt des 42. zum 49. Lebensjahr sind zwei Seelenkräfte notwendig, deren Durchleben und Beherrschung für jeden modernen Menschen unabdingbar sind. Gemeint sind der der Bewusstseinsseele entspringende Zweifel und der aus der Kraft des Geistselbst strömende Mut.
Abstraktion
Seit das Ich in der Evolution ab dem Anfang des 15. Jahrhunderts n.Chr. die Bewusstseinsseele bildet, indem es in die Tiefen der Naturreiche, der Stoffe und ihrer Gesetzmäßigkeiten stieg, entstand auch die Naturwissenschaft. Sie, die zunächst in ihren Ursprüngen noch vom Durchdrungensein geistiger, schöpferischer Kräfte getragen war, wurde erst etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr von dem philosophischen Materialismus erfasst und schließlich in eine totale Abstraktion getrieben, in der an die Stelle schöpferischer, geistiger Kräfte eine Art »Deus ex machina« gestellt wurde.
Diese Geist- oder Gottlosigkeit unserer Zeit ist nun aber gerade das vorhin aus einer anderen Perspektive beschriebene Nadelöhr, durch welches der Mensch nun einen freien Zugang zu den Wirklichkeiten finden wird, die in das Metaphysische verwiesen wurden. So merkwürdig dieser Gedanke vielleicht auch frommen oder gemütvollen Menschen erscheinen mag, so ist der Zweifel des modernen Naturwissenschaftlers die Voraussetzung, als eine auf sich gegründete, freie Persönlichkeit den Weg zum Geist oder zu Gott zu finden. Wenn auch dieses Wort »Zweifel« heute überwiegend als negative Eigenschaft erlebt wird, so ist sie doch eine ganz positive, treibende Kraft unserer Zeit, ohne die eine moderne Naturwissenschaft gar nicht existieren würde.
Zweifel als Motor unserer Zeit
Auch im Sozialen sind alle Veränderungen nur dadurch entstanden, dass die Tradition, die traditionelle Überlieferung vom Zweifel befragt und mehr und mehr über Bord geworfen wurde. Heute bildet jeder Mensch eine Welt für sich, scheint das Genom unser schöpferisches Prinzip zu sein, hat vermeintlich Meister Zufall als Urknall diese wunderbare Schöpfung, die wir unsere Welt nennen, entstehen lassen. Descartes’ Satz »Ich denke, also bin ich« lautet für unsere Zeit »Ich zweifle, also bin ich«. Der alles, wirklich alles infrage stellende Zweifel ist der Motor unserer Zeit und ein erstaunlich dominantes Wort das »Aber«. Wird der Zweifel zum Beherrscher des Menschen, sein tiefster Trieb, kann daraus rasch Verzweiflung werden (siehe Seite 61 f.). Die Gegenkraft, die den Zweifel auf sein notwendiges Maß begrenzt, die ein seelisches Gleichgewicht erzeugt, ist der Mut.
Zivilcourage
Der Mut ist ein sehr spezifisches Element in unserer Seele, das sich ganz mit unserem Ich verbindet und aus dem Geistselbst stammt. Mut ist also eine geistige Eigenschaft, die in die Bewusstseinsseele hineinwirkt. Der Mut durchzieht unser ganzes Leben, er findet Ausgestaltungen in jugendlichem Übermut oder erwachsenem Hochmut, im Älterwerden aber auch in der Demut.
Ungewissheit und Verantwortung
In dem jetzt beschriebenen Lebensabschnitt hat der Mut die Besonderheit, dem Menschen zu helfen, Entscheidungen zu treffen und sich für sie verantwortlich zu machen. Man nennt das auch »Zivilcourage«, und genau so lautet der Titel eines Buches des jungen Senators John F. Kennedy, in welchem er Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte darstellt, deren mutvolle Entscheidungen fruchtbar für die amerikanische Gesellschaft wurden. Das Besondere jeder wirklichen Entscheidung liegt darin begründet, dass ihr Ausgang, ihre Auswirkungen im Moment der Entscheidung immer ungewiss sind. Und dass sie sich immer mit persönlicher Verantwortung verknüpft. Ist es nicht bezeichnend für unsere Zeit, dass immer seltener wirkliche Entscheidungsträger erlebbar werden und dass immer häufiger eine mit der Entscheidung eingegangene Verantwortung nicht übernommen wird? Mut betrifft unsere Handlungsebene, die Sphäre unseres Willens, in welcher Rudolf Steiner den Quell alles Moralischen sah.
Dem Entscheidungsmut verbindet sich ein Erkenntnismut, der in unserem Denken wurzelt. Den wohl größten Mut erfordert ehrliche Selbsterkenntnis, die uns immer an einen Abgrund führt. Der moderne Mensch hat eine geniale Technik entwickelt, sich einen Umhang schönster Illusion anzulegen, aus der auch alles entschuld- und erklärbar wird, was nicht so schön ist oder nicht gelingt. Zugleich entwickelt er ein Talent, die anderen äußerst kritisch zu betrachten und jede ihrer Schwächen und Unzulänglichkeiten in scharfer Kontur zu sehen und gerne auch anzusprechen. Auch dafür finden wir ein Bild in den Evangelien vom Splitter im Auge des anderen, wobei wir den Balken im eigenen gerne übersehen (Matthäus 7,3–5).
Selbsterkenntnis
Die Inschrift am Apollotempel im griechischen Delphi »Mensch, erkenne dich selbst« reicht hinüber in unsere Zeit und ist ein Motiv des 7. Lebensjahrsiebts. Selbsterkenntnis kann und darf viel früher einsetzen, doch die entwicklungsgesetzliche Zeit ihrer Aneignung ist der Lebensabschnitt vom 42. bis zum 49. Lebensjahr. Nie wieder ist das Ziehen einer ganz persönlichen Lebensbilanz so notwendig wie in dieser Zeit. Jetzt werden die Weichen gestellt, wie die verbleibende Zeit des Lebens gestaltet werden soll, mehr und mehr selbstbestimmt. Ziele werden definiert, Liegengebliebenes wieder aufgegriffen. In diese Zeit wurde der Begriff Midlife-Crisis gelegt, das Aussteigen aus allem bisher Prägenden. Wieder muss gesagt werden, dass hier idealistische Zeitfolgen geschildert werden, von denen es viele biografische Abweichungen gibt. Und doch ist dieses Jahrsiebt bei allen Menschen durchzogen von den Elementen, die wir jetzt anschauen.
Marskräfte
Mut ist auch Ausdruck von Marskräften. Viel zu einseitig wird in Mars der Kriegsgott gesehen. Johannes Hemleben hat in einem Wochenkalender mit Blick auf die Planeten und ihnen zugehörige Bäume von Mars als Kämpfer, Ritter und Schützer gesprochen.33 Sein metallischer Repräsentant ist das Eisen. Wie vielfältig ist doch dessen Verwendung, wie wären die technischen Entwicklungen der Neuzeit ohne es denkbar? Es ist auch ein zentrales Element in unseren roten Blutkörperchen und ausschlaggebend für die Aufnahme und den Transport von Sauerstoff als »Lebensstoff« bis in jede einzelne Zelle. Aus ihm konnten Schwerter, Rüstungen und Schilde geschmiedet werden, die den Ritter zum Kämpfen und Schützen befähigten. Sein Wesen ist der Edelmut.
Mut, an das Tor der geistigen Welt zu pochen
Es braucht auch Mut, an das Tor zur geistigen Welt zu pochen. Dort steht ein Wächter, den Rudolf Steiner auch Hüter nennt, der den Herantretenden prüft, ob er vorbereitet ist, die so andere, die geistige Welt zu betreten. Kein Unberechtigter darf sie betreten, auch weil ihm das Schaden zufügen würde, geistige Lähmung, wie Rudolf Steiner sagt. Denken wir an die alte Mythologie des Jünglings von Sais, der es wagte, die sieben Schleier im Tempel der Isis zu heben. In Märchen und Mythen muss immer der Mut die Furcht besiegen, um an das Ziel (die geraubte Prinzessin oder Jungfrau) zu gelangen. In den Evangelien ist die Begegnung mit geistigen Wesen regelmäßig verbunden mit dem doch eigentlich überraschenden Gruß »Fürchte dich nicht«. Rilke spricht in einem seiner Gedichte davon, dass jeder Engel schrecklich sei.34
Verzweiflung
vom Zweifel zur Verzweiflung
Der Zweifel tritt natürlich schon vor dem 35. Lebensjahr auf, auch der Mut kann bei bestimmten Menschen wie durch die Geburt hindurch in das Leben hineingetragen werden. Doch geht es hier nicht so sehr um die grundsätzlichen Seelenkräfte, die überindividuell sind, sondern um das dann individuelle Ausbilden, Handhaben und schließlich Beherrschen dieser Seelenkräfte vom Ich aus. Ist zum Beispiel die volle, persönliche Kraft des Zweifels ausgebildet und wird in unveränderter Form über das 42. Lebensjahr hinausgetragen, ohne dass sie nun durchstrahlt, durchwärmt und damit metamorphosiert wird von der Kraft des Muts, wird mehr und mehr die Gefahr entstehen, dass das ganze menschliche Sein erfasst und beherrscht wird von dem Zweifel und damit eine Verwandlung desselben hin zur Verzweiflung geschieht. Und damit sind wir bei dem kardinalen Punkt einer modernen Problematik des Alters: der zunehmend beherrschenden Kraft der Verzweiflung im 5. Lebensjahrzehnt. In der heutigen Sprachform wird diese existenzielle Verzweiflung auch Frustration genannt. Der Mensch kann nur noch sich selbst in Zweifel ziehen, wenn er nach diesem notwendigen Schritt der zeitgemäßen Entwicklung zum Selbst, zum Ego, nicht die innere Wende findet zu allem, was außer ihm existiert, ohne das er selber gar nicht der sein könnte, der er geworden ist.