Blutrot war der Fleck, der sich auf dem Teppich ausbreitete und in die Textur des Gewebes drang. Ein beißender Geruch an Alkohol füllte die Luft. Elena starrte einen Augenblick auf das Szenenbild. Dieser kleine Schaden würde ein weiterer Grund für übertriebene Vorwürfe sein. Sie versuchte nicht das Missgeschick zu beheben, sondern hastete zielstrebig die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, um. weiteren Gräueltaten zu entgehen.
In dieser Nacht erwachte Michele mit schweißgebadeter Stirn und schwerem Atem, da er glaubte, Elena schreien zu hören.
Zum Glück war es nur ein böser Traum!
once
Die Zeit verflog wie ein Rosenblatt, das sich an einem Herbsttag aus der Blütenkrone löst und vom Wind in ferne Länder transportiert wird. Die Wochen vergingen schnell ab dem Tag, an dem Chiara und José den Unterricht aufnahmen.
Zwischen Chiaras humanitären Arbeiten und Josés Arbeiten als Landarbeiter erschien der Unterricht von vier bis fünf Uhr als ein Moment der Entspannung.
In diesen 60 Minuten lernten sie neben dem Italienisch mehr voneinander und fanden im jeweils anderen einen Freund, den sie nicht erwartet hatten zu begegnen.
Aber Chiara merkte, dass José etwas aus seiner Vergangenheit vor ihr verbarg. José hingegen fragte sich, warum das hübsche Mädchen beschlossen hatte, ihr Gelübde abzulegen.
‚ Wie dumm ich bin! Wie kann ich mir derart offensichtliche Fragen stellen?‘, fragte er sich. ‚ Sie hat sich es einfach gewünscht.‘
Andererseits fragte sich Chiara, warum er seine Arbeit auf den Schiffen aufgegeben hat, zumal er die Arbeit zu mochte. Warum war er ausgerechnet hier gelandet? - In den weltverlassenen Hügeln von Florenz.
„Wie lange bleibst du?“, hatte sie ihn kurz vor Schluss einer Unterrichtseinheit gefragt.
Er war von dieser Frage überrascht. Er hatte bisher nicht an den Zeitpunkt gedacht, an dem er das Kloster verlassen würde.
Er betrachtete Chiara bevor er ihr antwortete und bemerkte ein leichtes Zittern ihrer Hände, als hätte sie Angst vor der Antwort.
‚ Aber wo denkst du hin‘, dachte er .
„Ich hoffe noch lange Zeit zu bleiben“, gestand er mit ernstem Gesichtsausdruck und ihr Zittern hörte auf.
Was wollte er mit diesem Satz sagen? Chiara konnte ihn nicht verstehen, aber sie errötete sobald Josés Lippen diese Worte aussprachen, obwohl es sie nicht beunruhigte, was er ihr anvertraut hatte.
Chiara errötete, da sie bemerkt hatte, dass sie für einen Augenblick (aber nur für einen Augenblick) seinen Mund intensiv beäugelt hatte.
‚ Wie viele Mädchen hat er geküsst?‘, fragte sie sich als sie seine Lippen betrachtete, die von einem leichten Stoppelbart umgeben waren. ‚ Haben sie versucht José Velasco zu küssen?‘
„Ich muss jetzt gehen“, beendete sie den Unterricht und ging schnellen Schrittes aus der Bibliothek und ließ José ein weiteres Mal entgeistert zurück, der sie schweigend betrachtete während sie sich von ihm entfernte.
Schwester Costanza betrat die Bibliothek von einer Seite, die Chiara und José verborgen war. Sie legte ein Buch des Evangeliums zurück und nahm sich ein neues Buch.
Obwohl das Kopftuch ein Symbol der Güte ist, gab es nicht viel Sanftmut im Herzen von Schwester Costanza. Sie war Chiara abgeneigt, sowie vielen erfreulichen Dingen der Welt.
Missmutig erinnerte sie sich an Chiaras Aufnahme im Kloster als sie noch in normalen Kleidern gekleidet war. Alle hatten sich umgedreht und gefragt, ob es möglich war, dass ein derart hübsches Mädchen ein Gelübde ablegt.
„Habt ihr gesehen, wie bildhübsch sie ist?“, hatte sie nicht nur die Ordensschwestern reden hören, sondern auch die Pilger und Arbeiter.
„Schwester Chiara“, hatte einst jemand in der Post des Dorfes kommentiert, „ist eine der Novizinnen. Man behauptet, sie sei bildhübsch und ausgesprochen freundlich.“ Dann hatte die plaudernde Gruppe die Anwesenheit von Costanza bemerkt und wechselte das Gesprächsthema.
Sie war ebenfalls ein Neuling und hatte das Kopftuch ein Jahr vor Chiara aufgesetzt, aber niemand hatte ihr jemals nachgeschaut, wie alle die fast Zwanzigjährige anstarrten.
‚ Was hat sie, was ich nicht habe?‘, fragte sie sich.
‚ Schönheit konkurriert nicht mit einer Nonne‘, antwortete sie während sie ihre wenig anmutige Figur im Spiegel betrachtete. ‚S olch eine Ordensschwester hat niemals einen wahren Glauben, sondern profitiert von ihrer Schönheit als Werkzeug des Teufels.‘
Nervös bürstete sie ihre dunklen Haare und ging voller Zorn schlafen. Während sie dalag und versuchte einzuschlafen, erinnerte sie sich, wie sie als Kind wegen ihrer Sommersprossen und dem wenig weiblichen Körper verspottet wurde.
Chiara hatte mehrmals versucht, sich mit der jungen Nonne mit dem finsteren Benehmen anzufreunden, aber Schwester Costanza erwiderte es nie. Sie gab es auf und lebte damit, mit einer Person unter einem Dach zu leben, von der sie verabscheut wurde.
Als Schwester Costanza Chiara von diesem attraktiven jungen Mann fortlaufen sah, der sie unter anderem nicht beachtete, ging ihr ein Licht mit einen nicht sehr christlichen Gedanken auf. Dieser Gedanke bestätigte ihre alten Theorien.
Sie war überzeugt, dass es ihr gelingen würde, sie aus dem Kloster zu vertreiben, wo sie nicht hingehörte.
Schwester Costanza konnte nicht nachvollziehen, dass Chiara einen starken Glauben hatte. Sie hatte ein klares Gemüt und war dadurch einfach zu durchschauen.
Es vergingen weitere Wochen und der Unterricht ging weiter seinen Lauf. José lernte schnell und nach zwei Monaten sprach er beinah fließend Italienisch. Die beiden jungen Menschen vertrauten sich weitere Details aus ihren Leben an.
Chiara sprach von ihrem Bruder Alberto, mit dem sie häufig telefonierte, auch jetzt, wo er in England Maschinenbau studierte.
Sie erzählte ihm von ihrer Mutter und ihrem Vater, die immer liebenswürdig und verständnisvoll mit ihr umgingen. Selbst ihre Entscheidung hinsichtlich dem Gelübde unterstützten sie ohne Einwände, sondern freuten sich mit ihr. In diesem Augenblick war José kurz davor, sie die Frage zu stellen, die ihn beschäftigte, schwieg aber.
José zeigte ihr ein Schwarz-Weiß-Foto von seiner Mutter, einer attraktiven Frau mit hellen Haaren, die wie seine waren, aber mit tiefen, dunklen Augen.
„Hast du deine Augen von deinem Vater?“, fragte Chiara. „Deine sind nicht so dunkel.“
„Ja“, antwortete er lächelnd, „ tengo el color de ojos de mi padre.“
Chiara schaute ihn vorwurfsvoll an, so dass José stöhnte und den Satz dann wiederholte. „Die-Farbe-meiner-Augen-ist-die-meines-Vaters, ¿vale?“
Die junge Nonne stimmte lächelnd zu. „ Vale.“
José wusste nicht warum, aber er war froh zu wissen, dass Chiara seine Augen wahrgenommen hatte, obwohl es offensichtlich war, zumal sie seit einiger Zeit täglich eine Stunde zusammen verbrachten.
Er war erfreut, dass sie die Details in seinem Gesicht wahrnahm: Die Details sind es, die den Dingen Bedeutung verleihen.
Zumindest bei wichtigen Beziehungen.
¿Relaciones? Me estoy volviendo loco.
Ich werde verrückt.
An was zum Teufel für eine Beziehung dachte er? Für einen Moment runzelte er die Stirn, aber Chiara bemerkte seine Nervosität zum Glück nicht. Sie blätterte im Buch und suchte eine Übung.
Wie hübsch sie war, wenn sie sich auf einen Satz oder ein Wort konzentrierte. Für einen Augenblick wünschte sich José, das Objekt ihres Interesses zu sein; besser noch das Subjekt, um wie ein Buch von Chiaras sanften Augen gelesen zu werden.
In dieser Nacht träumte José erneut, Chiara zu küssen. Dies passierte zu oft. Er erwachte mitten in der Nacht und konnte nicht mehr einschlafen. Er beendete somit seine Suche in der Bibliothek.
Es fehlten noch zwei Regale. Er hatte sich wenige Stunden zuvor ins Bett gelegt, da er zu müde war und die Suche verschieben musste. In seiner Schlaflosigkeit wollte er jetzt die letzten Bücher durchsuchen, die den Schlüssel enthalten müssten.
Bei seinen unerlaubten Streifzügen des Nachts war José nicht immer vom Glück begünstigt. Wenn die Tür zum Innenhof abgeschlossen war, kletterte er an der Klostermauer hoch und ließ sich auf der anderen Seite hinab.
José ahnte nicht, dass ihn in dieser Nacht jemand sah, als er durch die Dunkelheit des Innenhofs huschte und von der Klostermauer herabsprang.
Chiara konnte ebenfalls nicht schlafen und war aufgestanden. Im Morgenmantel ging sie ein paar Schritte im Flur auf und ab. Bis sie einen Schatten von der Mauer hatte springen sehen. Neugierig ging sie zum Fenster, um zu sehen, was es war und wer es war, bevor sie das Kloster aufweckt.
Sie sah José somit - ihren José, der Unerlaubtes beging. Chiara wusste nicht was er trieb, vielleicht wollte sie es nicht einmal wissen, aber sie fühlte sich betrogen.
Ja, sie fühlte sich betrogen. Er tat etwas, was nicht rechtens war. Und wenn er das Kloster betrog, tat er es somit auch ihr gegenüber.
Dann dachte Chiara an die jungen Frauen, die in dem religiösen Institut für eine Probezeit wohnten. Junge Menschen, die mit Gott eine Ehe eingehen wollten, aber ihr Gelübde noch nicht abgelegt hatten. Ergo, sie waren hier, um festzustellen, ob ihr Weg der richtige ist oder nicht.
Chiara hatte diese Phase übersprungen, da sie von ihrer Entscheidung überzeugt gewesen war. Es war eine sehr wichtige Zeit, denn nicht alle Mädchen wurden im Kloster aufgenommen.
War José zu ihnen gegangen? Hatte er eine Affäre mit einem der Mädchen? Chiara wusste, dass sie es nicht zu interessieren hatte; sie wusste auch, dass sie die Äbtissin über ihre Entdeckung informieren musste. Einerseits konnte sie den Zorn nicht zügeln, der sie überkam, andererseits wollte sie für dieses Mal schweigen.
Sie ging mit feurigem Herzen schlafen sowie mit geröteten Wangen, die vor Wut glühten. Sie hasste José Velasco nicht für das, was er tat, sondern weil er das gesamte Kloster beleidigte.
Chiara nahm sich vor, kein Wort mehr mit José zu sprechen.
José hingegen setzte sich entmutigt auf den Fußboden der Bibliothek und lehnte seinen Rücken an die Wand.
„Es ist nicht da“, flüsterte er hoffnungslos. „Das Buch gibt es nicht.“
Für einen Augenblick verzweifelte er. Zumindest hatte er perfektes Italienisch gelernt.
doce
Eine Wende kündigt sich häufig mit einem Gewitter an. Ein Gewitter wirbelt alles auf und hinterlässt ein neues Ambiente.
Als José in dieser Nacht in sein Zimmer zurückkam, regnete und donnerte es stark, als wenn der Himmel in sich zusammenfallen würde. Die Bäume der Landschaft in Florenz bewegten heftig ihre Zweige, gelegentlich vom Blitz erhellt, um dann der Dunkelheit der Nacht überlassen zu werden. Die Flüsse strömten mit erhöhter Kraft, begleitet vom Rauschen des Wassers, das von den Felsen abfloss.
Das Gewitter hielt bis in die ersten Morgenstunden an, dann ging alles seinen gewöhnlichen Lauf und der Himmel öffnete sich zu einem herrlichen Juli-Tag.
José war benommen, teilweise wegen dem wenigen Schlaf, teilweise wegen der Träume, die ihn geweckt hatten. Er hatte seine Mühe, wie gewöhnlich zu arbeiten.
Chiara stand nervös auf. Dies war das richtige Adjektiv, dachte sie sich: ‚ Ich bin nervös.‘ Selbst die Äbtissin bemerkte ihr angespanntes Verhalten. Als sie fragte, was sie habe, antwortete die junge Ordensschwester, dass sie unter Kopfschmerzen leide.
Der Vormittag und der Nachmittag vergingen normal und es war mittlerweile vier Uhr, die Zeit, zu der Chiara üblicherweise José unterrichtete.
‚ Ich will ihn nicht sehen‘, nahm sie sich vor während sie zur Bibliothek ging und sich dem Ausgang des Klosters näherte. Eine Ordensschwester sah sie vom Fenster der Sala de los libros aus, wie sie sich entfernte.
‚ Er ist mittlerweile gut genug, um alleine weiter zu lernen. Ich werde spazieren gehen.‘
Sie ging in Richtung Wald, um ihrer Nervosität mit einem regenerierenden Spaziergang entgegen zu wirken.
José konnte es kaum erwarten, zu Chiara in die Bibliothek zu gelangen. Rechtzeitig zum Unterricht waren seine Kräfte zurückgekehrt und er war glücklich, Zeit mit ihr zu verbringen.
Warum war er derart ungeduldig, sie zu sehen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, wurde von ihm aber nicht beachtet.
Eilig hastete er in die Bibliothek. Die fünf Minuten Verspätung kamen ihm vor wie eine halbe Stunde. Sicher würde Chiara ihn am Tisch sitzend mit einem Lächeln begrüßen: „Guten Abend, José!”
Aber Chiara war nicht zu sehen.
Er sah sich um: rechts, links … Hatte sie sich vielleicht zwischen den Bücherregalen versteckt?
Vor ein paar Wochen war er wegen der Feldarbeiten zu spät gekommen. Als er die Tür der Bibliothek eilig geöffnet hatte, saß Chiara aber nicht wie gewöhnlich am Tisch. Auf dem Tisch waren ihre Bücher ausgebreitet.
„Chiara? ¿Donde estás?“, hatte er gefragt. Keine Antwort. Zwischen den Regalen war ein Geräusch zu vernehmen - ein unterdrücktes Kichern.
„Chiara?“ Wie ein wachsamer Fuchs durchstreifte er einen Gang des literarischen Labyrinths. Ein schmaler Streifen von einem schwarzen Gewand verschwand vor ihm nach links in einen anderen Gang. José beeilte sich amüsiert, der Erscheinung zu folgen und schaute um die Ecke: keine Spur. Das Suchspiel hielt für ein paar Minuten an und während José um eine weitere Ecke des Labyrinths lugte, vernahm er eine Stimme hinter seiner Schulter: „Ich wollte sehen, wie weit du mir folgst. Ich muss eingestehen, du hast den Test mit Bravour bestanden!“ Triumphierend erklärte Chiara: „Dir gefällt es wahrhaftig, Italienisch zu lernen, sonst wärst du schon gegangen.“
Wie ein Kind hatte sie selbstlos gelacht; José war ihr treudoof wie ein Hund auf Tritt und Schritt gefolgt. Konnte er ihrem heiteren Gesicht wiederstehen?
„ Natürlich“, hatte er geantwortet, „ich bin muy motivado.“
Sollte es nicht der Wissensdurst sein, der ihn motivierte?
Dieses Mal lagen ihre Bücher aber nicht auf dem Tisch ausgebreitet. José versuchte sie trotzdem zwischen den Regalen zu suchen, verstand aber sehr schnell, dass sie dieses Mal kein Spiel mit ihm trieb.
Er kehrte zum Eingangsbereich zurück, in dem Lesepulte angeordnet waren. In einer Ecke las eine Nonne in einem Buch mit antikem, braunem Einband. Es war nicht Chiara. Aber es war ihre Freundin. Wie war noch ihr Name? - Claudia.
Ob sie wusste, warum Chiara nicht hier war? War Chiara krank?
„Guten Abend Schwester!“, grüßte er.
Sie zuckte zusammen, da sie nicht erwartet hatte, von José angesprochen zu werden. Alle Bewohner des Klosters sprachen von ihm.
„Guten Abend“, erwiderte sie. „Ich sehe, dass der Unterricht mit Schwester Chiara effektiv ist. Sie haben bereits eine bemerkenswert gute Aussprache.“ Freundlich lächelte sie ihn an.
„Chiara ist eine ausgezeichnete Lehrerin“, erwiderte er. „Ich lerne bei ihr außergewöhnlich schnell.“
Aber Claudia war sehr intelligent: Ihr entging nicht, wie er den Namen ihrer Freundin aussprach. Der Ausdruck seiner Augen mit einem solch liebevollen Blick bedeutete nichts Gutes.
„Apropos Chiara“, fuhr er fort. Seine Aussprache vom „S“ hatte noch immer einen spanischen Akzent. „Wissen Sie wo sie ist? Tenemos Unterricht, aber ich kann sie nirgendwo finden.“
„Ich habe sie vor zwanzig Minuten aus dem Garten forteilen sehen. Hat sie den Unterricht vielleicht vergessen?“
Mh, gab Josés Kehle von sich, das konnte nicht sein.
„Ich danke Ihnen, Schwester“, verabschiedete sich José. Er verließ die Bibliothek, durchquerte den Hof und durchlief die Arkaden, die aus dem Kloster führten.
Claudia beobachtete José, wie er Chiara folgte. Es beunruhigte sie nicht wenig!
Was war los mit den beiden?
Ihre Freundin hatte sich in letzter Zeit geändert und an diesem Morgen hatte sie Chiara nervöser gesehen als je zuvor. Dann erscheint sie nicht zum vereinbarten Unterricht, ein erneut seltsames Verhalten bei ihrem Eifer.
Sie hoffte nur, dass sie sich nicht in Schwierigkeiten brachte, aus denen es schwer war, herauszukommen. Sie mochte Chiara zu sehr, um sie über ihre eigenen Füße stolpern zu sehen.
‚ Was treibst du im Schilde, meine liebe Freundin?‘, dachte sie und nahm wieder ihre Lektüre auf.
* * *
Chiara folgte mit nervösem Schritt dem Verlauf des Baches, hinter dem die Plantagen der Olivenbäume anfingen. Der Himmel war wolkenlos und es war kühl, wahrscheinlich wegen dem Sturm vor kurzem. Trotzdem fühlte sie sich in der Umgebung nicht wohl, zumindest nicht wie gewöhnlich.
‚ Ich mag sein unverschämtes Gesicht nicht mehr anschauen‘, dachte sie während sie wie eine Furie lief. ‚ Üblicherweise steht Freundschaft für Treue, aber das, was er getan hat, ist kein bisschen treu! Wie kann derart verdorben unsere Hilfs-bereitschaft ausnutzen?‘
Sie hastete weiter und spie Feuer aus den Augen. Plötzlich hörte sie eilige Schritte hinter sich.
„Chiara!“, rief eine Stimme ungestüm. „Wo gehst du hin?“
Menschliche Gefühle kommen unvermutet: warm und unkontrollierbar – sie sind lebendiger als wir selbst. Dieser ihr bekannte Akzent ließ in Chiara ein tobendes Feuer aufflammen, das ihr von der Brust über das Herz bis ins Gesicht stieg. Das Einzige, was sie tun konnte, war zu weinen oder weiter zu laufen.
Sie drehte sich um und sah José durch die Bäume zu ihr laufen. Mit einer nervösen Bewegung drehte sie sich mit dem Rücken zu ihm und lief.
‚ Ich will ihn nicht sehen‘, widerholte sie sich und beschleunigte ihren Schritt. Sie würde ihn in diesem Hain abhängen, in dem sie sich, im Gegensatz zu ihm, wie ein Spatz auskannte.
Sie lief nordwärts am Fluss entlang und näherte sich einer kleinen Lichtung, die von Buchen, Kastanien und Ulmen umgeben war. An einer Uferseite ragte eine Felswand mit einer Höhle hervor.
Chiara war ausgesprochen schnell, aber José war nicht weniger agil.
‚ Warum rennt sie weg?‘, fragte er sich, während sein Herz nicht ausschließlich wegen dem Lauf stark pochte. „Chiara halt an!“, rief er erneut, aber die Nonne ließ nicht nach.
Nach einer Weile war die Jagd aussichtslos. José näherte sich ihr, konnte sie aber nicht einholen, bis sich beide in der kleinen Lichtung vor der Höhle befanden. José beschleunigte und streckte seine Hand nach vorne aus, um ihren Arm zu ergreifen. Das Einzige, was er fassen konnte, war ihr Kopftuch, das wegrutschte und ihren Nacken entblößte.
Chiara spürte das lose Haar, das sich in der Luft ausbreitete, und dies vor José. Sie drehte sich zu ihm um, gefolgt von der Haarmähne, die ihr in Wellen auf die Schultern glitt.
Sie starrte José in Panik an. Er war der erste Mann, der sie ohne Kopftuch sah, zumindest seitdem sie das Gelübde abgelegt hatte. Sie fühlte sich nackt, blasphemisch, eine Sünderin, die eine Unerlaubtes tat, da sie mit offenen Haaren ohne schwarzweißen Stoff von jemandem gesehen wurde.
José war seinerseits nicht fähig, ein Wort zu äußern.
Zuerst schaute er verdutzt auf seine Hand, in der er Chiaras schwarzes Kopftuch mit dem weißen Saum hielt. Dann schaute er zur bildhübschen Monja und die Welt entfernte sich von ihnen. Sie befanden sich in einem von der Realität entfernten Universum.
Er betrachtete Chiaras geschmeidigen Gesichtszüge, die weiches, honigbraunes Haar umrahmte. Ihr Haar war in seinem wiedergewonnenen Freisein lebhaft und rebellisch. Der Wind bewegte sanft ihre gelockten. Es schien, als würde der Gott des Windes Aiolos verspielt seine Hände durch die Locken fahren. José fragte sich, was ihn davon abhielt, sich ihr zu nähern.
* * *
Wenn Gefühle unkontrollierbar sind, werden sie rücksichtslos und verfehlt, ohne sie bezähmen zu können. Er ließ ihr Kopftuch zu Boden fallen. José lief zu Chiara, welche ihn regungslos anstarrte. Ungehemmt nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände. Diese rosigen Lippen waren trotz Ordensgelübde außerordentlich provokativ. Wie in seinem Traum waren sie in diesem Moment mit seinen vereint.
Von der Leidenschaft beherrscht, drückte er sie an sich, küsste sie wie das natürlichste auf der Welt und kostete ihren Geschmack.
Obwohl es ein Fehler war, verspürte er den immensen Drang, den süßen Geschmack ihrer Haut zu schmecken. Er presste seinen Mund auf den von Chiara, ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten und liebkoste sie sanft, Strähne um Strähne.
Chiara blieb reglos und hielt ihre Augen geschlossen, da sie Angst hatte und zugleich überrascht war, mit dem Geschmack der Liebe auf dem Mund. Sie fühlte Josés Lippen ungestüm auf ihre Lippen pressen, die nie zuvor einen Mann geküsst haben, sondern ausschließlich das Kreuz ihres Rosenkranzes. Sie wusste, dass sie ihn sofort fern halten musste – es war eine Katastrophe!
Aber sie tat es nicht. Sie schloss einen Moment die Augen und antwortete leichtfertig der zärtlichen Liebkosung. Ihre Lippen wussten trotz ihrer Unerfahrenheit, was zu tun war. Während die Liebe sie umtanzte, verglichen Chiaras Gedanken ihr Leben mit einer Wüste, in dem José zwangsläufig die Oase sein musste.
Die ihre ausgetrockneten Herzen umhüllende Süße war von ausgesprochen kurzer Dauer. Dann kehrte Chiaras Verstand zurück: mit Wut schubste sie José von sich weg, dass er ein paar Schritte zurücktaumelte.
„Rühr mich nicht an!“, schrie sie ungehalten und folgte ihm, um ihm eine Ohrfeige zu versetzen. Sie wendete sich sofort um und betrachtete ihre Hand, die den jungen Mann so unschicklich geschlagen hatte: Warum? ... Warum hatte sich die alte Chiara derart verloren?
José nahm seine Hand zur Wange, die in gleicher Heftigkeit schmerzte wie seine Wut. Sollte er tirar la toalla?, wie es auf Spanisch heißt. Nein, er würde nicht aufgeben.
„Darf ich erfahren, was du hast?“, schrie er sie an, war aber eher über sich selbst wütend, dass er die Kontrolle verloren hatte. Chiaras Verhalten ihm hingegen war widersprüchlich.
„Du durftest mich nicht küssen!“, erklärte Chiara wütend. „Meinst du, ich trage dieses Gewand zum Vergnügen? Ich bin nicht wie die Frauen, die du nachts aufsuchst!“
„Ich habe einen Fehler gemacht!“, fuhr er fort. Als Zeichen des Nachgebens hob er seine Hände, obwohl er nicht die Wendung verstand, die das Gespräch genommen hatte. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, dich zu küssen. Erkläre mir bitte, warum du dich so verhältst!“
„Ich habe nichts getan, um von dir zur Rede gestellt zu werden!“, beendete Chiara das Gespräch, drehte ihm den Rücken zu und wollte sich von ihm entfernen. Aber José blieb hartnäckig, näherte sich ihr, packte sie am Handgelenk und zwang sie, sich umzudrehen.
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