Chiara war zu fromm, um sich ernsthaft in jemanden zu verlieben. Andererseits war es normal für eine junge Frau wie sie, sich gegenüber einem jungen Mann wie José Velasco verlegen zu fühlen. Sie war der Auffassung, dass die Liebe Gottes stärker war als jede menschliche Anziehungskraft und sah keinen Grund zur Beunruhigung.
Hinsichtlich José war es normal, dass Chiaras Anmut ihn verwirrte: Sie war ausgesprochen hübsch. Ihre schwierige Naivität würde ihn aber bald langweilen.
‚ Männer wie er sind alle gleich. Sie empfinden einen kurzlebigen Reiz‘, dachte sie seufzend, ‚ obwohl sie verliebt sind, vergessen sie bald ihre Gefühle.‘
Das Beste war, die beiden für ein paar Tage zu trennen. Auf diese Weise konnten sie alles überdenken, um auf den rechten Weg zurückzukehren bevor sie abkommen konnten.
Aus ihrer Ecke der Bibliothek sah sie Chiara verschwinden. Sie hielt ihr Lehrbuch an die Brust als wäre es ein Schutzschild, das sie vor der unmöglichen Liebe schützen sollte. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf und schloss ihre Augen, um sich an ihre zerronnene Jugend zu erinnern.
Abstand
Der Tag, der verfluchte Tag war gekommen. Elena erhob sich ungern aus ihrem Bett, als würde sie an diesem Tag, dem 20. September, auf dem Dorfplatz am Galgen hingerichtet.
‚Ja, ich bin zu melodramatisch‘, dachte sie.
Dieser Tag war aber überaus abscheulich: Ihr Bruder würde von zu Hause weggehen und sie würde alleine zurückbleiben.
Sie stieg aus dem Bett und ging zur Küche im Erdgeschoss. Vor der Küchentür fiel ihr Augenmerk auf das Abbild, welches sich ihr im Spiegel bot - das einer jungen Frau im Morgenmantel.
Sie war erst sechzehn Jahre alt, in Kürze siebzehn, aber ihr Körper glich nicht im Geringsten dem eines kleinen Mädchens, sondern dem einer attraktiven Frau. Unter dem bescheidenen, keuschen Leinengewand zeichneten sich ihre weiblichen Formen ab, welche die Jungen im Dorf ihr nachschauen ließen: geschmeidig und weich im Kontrast zur Einfachheit des Gewebes.
Elenas Gewissen wurde von ihrer Mutter diktiert: „Wenn ich wie gewöhnlich im Morgenmantel zum Frühstück erscheine entfache ich sicherlich Mamas religiöse Empörung und Anti-Sünde.“ Überlegt drehte sich Elena um und zog sich ein weites, dunkles Kleid an, um eine übliche Polemik zu vermeiden.
Im Erdgeschoss warteten Michele und ihre Eltern mit einem letzten gemeinsamen Frühstück auf sie.
Während ihr Vater die Zeitung las, forderte ihre Mutter sie auf, ihr beim Servieren der Milch, dem Kaffee und dem Kuchen für die beiden Herren des Hauses behilflich zu sein.
Mechanisch erledigte Elena ihre Pflichten. Das Fehlen Micheles lag bereits mit einem bedrückenden Schweigen in der Luft. Michele beobachtete sie schuldbewusst und gestand sich ein, wie sehr ihm seine starke und zugleich zerbrechliche Schwester fehlen würde.
Bei einem Spaziergang am Nachmittag animierten sie die Erinnerungen der Orte zum Leben zurück, an denen sie gemeinsam aufgewachsen waren.
Elena schwieg: Sie war traurig und wütend zugleich. Wie konnte Michele sie zurücklassen? Sie -, die stärker war als jede andere Frau, wenn auch nur dank Michele.
„ Sei nicht so Elena!“, verlangte Michele, während er sich auf das Mäuerchen vom Brunnen des Dorfplatzes setzte.
„ Nun lass mich doch“, erwiderte sie widerspenstig.
„ Auf, komm schon!“ Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Elena aber kehrte ihm den Rücken zu. „Ich ziehe nicht in den Krieg, ich gehe studieren.“
„ Das ist das Gleiche, Lele.“
„ Jetzt male nicht den Teufel an die Wand. Lena, du kannst mich besuchen kommen und nach dem Studium kehre ich zurück.“
„ Wann soll das bitte sein?“, fragte sie patzig.
„ Lass mich nicht noch mehr schuldig fühlen als ich bereits bin.“
Elena konnte ihre Tränen nicht weiter unterdrücken. Mit einem herzzerreißenden und zugleich zornigem Schluchzen schmiss sie sich an Micheles Hals. Wortlos wischte er die Tränen aus Elenas Gesicht, wie er es häufig tat.
Mit dem Abend kam die Stunde der Trennung. Zu Hause zog sich jeder mutlos in sein Zimmer zurück.
Bei Sonnenuntergang befand sich die ganze Familie Gentile an der Haustür und verabschiedete sich vom Erstgeborenen. Michele begab sich alleine zum Bahnhof und wollte diesen Abschied schnellstmöglich hinter sich zu bringen.
Sein Vater schüttelte ihm die Hand, wie es ein wahrer Mann tut: keine Umarmung, kein Streicheln, ausschließlich eine Geste der Stärke.
Die Mutter weinte verzweifelte Tränen als ihr erstes Kind (ihr Liebstes) ausflog, um seinem großen Schicksal zu folgen.
Elena hatte aufgehört zu weinen. Aber der Blick, mit dem sie ihren Bruder anschaute, war vielsagender als alle Worte. Augen sind nicht in der Lage, Gefühle, Liebe und Schmerz zu verbergen.
Dann umarmten sie sich und Elena steckte ihm heimlich ein kleines Baumwolltaschentuch in seine Jackentasche, das ihre Initialen aufgestickt hatte. Vielleicht befürchtete ein Teil von ihr, dass Michele seine Schwester vergaß, die ihn innig liebte.
Als Michele verschwunden war und sich die Tür schloss, fühlte sich Elena elend. Ihr Vater bedachte sie mit einem finsteren Blick und sie verspürte zum ersten Mal Angst: Sie war ihm wehrlos ausgesetzt. Es gab niemanden mehr, der Fäuste zäumte, während er sie ohrfeigte.
Aber Michele musste gehen. Michele musste seinem Traum und seinem großen Herzen folgen. Er konnte nicht ewig bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.
Während sich Elena langsam Mut machte, fühlte sich Michele verräterisch, weil er Elena zurückgelassen hatte, auch wenn sie jetzt keine kleine Schwester mehr war. Er hatte sie mit zwei Personen zurückgelassen, die nie begriffen haben, was für eine besondere Person sie war.
Aber er musste gehen: Vielleicht kann er mit seinen zukünftigen Taten Personen zum Nachdenken bringen, sie verbessern und ihnen helfen, eine vereinte Familie zu werden, wie diese Familie es nie gewesen ist.
Am Bahnhof angekommen, stellte er seinen Koffer auf dem Boden ab. Voller Zweifel richtete er seine Augen gen Himmel, während er seine Hände in die Taschen vergrub. Plötzlich spürte er mit der rechten Hand etwas Sanftes. Verwundert zog er ein weißes Taschentuch hervor, auf dem von Hand zwei kleine Buchstaben und eine lila Blume gestickt waren.
E. G.
Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sein Herz: Vielleicht hätte er zurückkehren und seine Zukunftsträume aufgeben sollen, um seine Schwester zu beschützen. Aber der Zug kam und er stieg ein, bevor er seine Meinung änderte.
In dieser Nacht konnte Elena nicht schlafen. Körper und Geist waren damit beschäftigt, ihr Alleinsein zu verarbeiten, die sie fortan erwartete. Sekunde um Sekunde saugte sie das Voranschreiten des Lebens auf, sowie das Ende dessen, was eine ihrer wunderbarsten Zeiten gewesen war. Sie hatte sie zusammen mit dem besten Bruder verbracht, den Gott ihr schenken konnte.
Aber jetzt war alles vorbei. Er war gegangen und Elena wusste genau, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholte - niemals. Alles war vorbei und dies war das Ende dieser paradiesischen Zeit mit ihm.
Hätte sie geahnt, dass Micheles Trennung der Beginn ihres wahren Lebens war ... sowie ihres wahren Todes?
nueve
Es verging eine Woche bis sich die beiden jungen Menschen wiedersahen. Beide waren froh, über den Abstand.
Chiara teilte man mit, dass José bis spät in den Feldern arbeiten musste, da die Jahreszeit günstig war, um die Sommerkulturen zu pflanzen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Unterrichtsstunde alleine zu verbringen. Sie las oder ging anderen Aufgaben im Kloster nach, die aber aus keinen besondere Pflichten bestanden.
Im Laufe der Woche hatte sie genügend Zeit darüber nachzudenken, was sie in den vergangenen Tagen so nervös gemacht hat. Sie konnte keine Antwort finden: Einerseits war ihr Gehirn nicht in der Lage, einzugestehen, dass es Josés Gegenwart war, andererseits wusste das Herz, was es mitzuteilen hatte. Doch Chiara schenkte ihm keine Aufmerksamkeit.
Die einfachsten Antworten sprechen eine schwierige Sprache.
Einige Tage später fühlte sie beim Erblicken von José während dem Angelusgebet in ihrer Brust einen Stich und sie verstand endlich was beziehungsweise wer es war, der sie aufwühlte.
Was wenn José kein guter Mensch ist, wie sie von ihm dachte? Was wenn er ein böser Mensch ist? Warum sonst fühlte sie sich in seiner Gegenwart derart eigenartig?
Chiara dachte nach und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Ihre Mutmaßung hielt nur kurz an. Wenig später fühlte sie sich mies, solche Gedanken über ihn zu haben. Es war unmöglich.
Nein, José ist ein guter Mensch.
Es war schwer zu sagen, ob es wahre Intuition oder echte Liebe war. Tatsache war, dass Chiara José anders sah, als ihr Verstand vorgab. Vielleicht vertrauen wir aus diesem Grund einer Person, obwohl wir sie erst seit Kurzem kennen.
„ Schlecht erwidertes Vertrauen verletzt wie ein Sturz auf steinigem Boden“, gab ihr ihre Mutter als Lebensweisheit mit auf den Weg. „Ein Sturz auf die nackten Knie ist empfindlich wie der Kampf des Lebens. Deshalb Chiara, sei vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst!“
Chiara wusste nicht warum, aber bei José hatte sie sofort beschlossen, das Risiko einer Enttäuschung in Kauf zu nehmen.
An diesem Abend schaute sie ihn an. José bemerkte sie nicht oder zumindest tat er, als würde er sie nicht sehen. Das kränkte Chiara: Sie war über sein offensichtliches Verhalten enttäuscht. Beim Einschlafen versuchte sie einen plausiblen Grund für Josés Verhalten zu finden.
‚ Warum hat getan, als würde er mich nicht sehen?‘, dachte sie. ‚ Ist er gekränkt, weil ich neulich weggegangen bin? Hat er mich falsch verstanden? Guter Gott, was denkt er von mir?‘
‚ Er ist unvergleichlich attraktiv, intelligent ... Nein! Was habe ich für Gedanken?
Wie naiv von mir! Ich muss mich über solche Gedanken nicht sorgen, sie entstehen durch eine Liebe, die ich für jedes Geschöpf Gottes empfinde.
Ja, José ist attraktiv und hell wie die Sonne.‘
Chiara brauchte eine Stunde bis sie endlich einschlief. In diesen meditierenden Stunden fragte sie sich kein einziges Mal, warum sie so oft José dachte.
Am fünften Morgen ihrer Distanz verspürte sie eine seltsame Sehnsucht nach dem Unterricht, den sie José Velasco erteilte. Es war eine neue Erfahrung.
‚ Ein Hauch neuer Luft - Das ist der Grund, der einen seltsamen Knoten in mir verursacht.‘
Auf der anderen Seite empfand José die vorübergehende Distanz ebenfalls als therapeutisch.
Bei Schwester Chiara, wie die anderen Ordensschwestern sie nannten, fühlte er sich machtlos. Diese ehrlichen Augen schüchterten ihn ein und ließen ihn bei seiner Suche nach dem Schlüssel in der Klosterbibliothek schuldig fühlen (welch verschwendete Zeit Gewissensbisse sind).
Vielleicht war dies der Grund, warum er abends in der Kantine vortäuschte, sie nicht zu sehen. Er wusste, wenn er sie anschauen würde, dass er nachts nicht in der Lage wäre, sich in die Sala de los Libros zu begeben.
Der Abstand von der jungen Frau war auf jeden Fall ein Hauch frischer Luft.
Die fehlende geistige Ablenkung brachte ihn eifrig und zügig mit dem Durchsuchen verschiedener Bände weiter. Am Ende der Woche hatte er den Band aber nicht gefunden. Entmutigt und nervös begann er sich zu fragen, ob seine Arbeit umsonst war.
Vielleicht hatten sie es verliehen, entsorgt oder es hat nie existiert. In der siebten Nacht ging von der harten Arbeit geschafft sofort schlafen. Er hatte weder Kraft noch den Willen, die Suche in der Bibliothek fortzuführen.
Am nächsten Morgen gestand er sich ein, Sehnsucht zu verspüren.
Er erinnerte sich nicht an die Details seiner Träume dieser Nacht, aber ihm ging das Gesicht nicht mehr aus dem Sinn, das er gesehen hat kurz bevor er seine Augen öffnete. Es war kein anderes als das von Chiara.
Warum sollte er die Freundschaft zu diesem Mädchen mit dem lebhaften Blick aufgeben?
Was machte ihn in Chiaras Gegenwart nervös? Sie konnte keine Gedanken lesen, abgesehen davon, war sie eine Nonne, weder böse noch hinterhältig. Er gab keinen Grund, sich von ihrem Verhalten beunruhigen zu lassen, das außerordentlich ehrlich und direkt war.
Außerdem musste er weiter Italienisch lernen, um sich zu verbessern, redete er sich selbst ein, somit musste er den Unterricht mit Schwester Chiara wieder aufnehmen.
Beschlossen.
Wenn nach diesen arbeitsreichen Wochen die Äbtissin weiterhin den Unterricht verschiebt, würde er ihr anbieten, eine Stunde früher aufzustehen und das Doppelte zu arbeiten, um den Italienischunterricht besuchen zu können.
Doch sind die Gedanken schnell, sind die Taten umso träge.
Es war Montag-Nachmittag als sie sich endlich begegneten.
Chiara war in das naheliegende Dorf gegangen, um Einkäufe für das Kloster zu besorgen, darunter Nudeln, Milch, Mehl und Obst. Auf dem Rückweg schlug sie einen Weg durch die Äcker ein. Indem sie sich an dem Mai-Spaziergang beglückte, versuchte sie, das faltige Gesicht des Ladenbesitzers zu vergessen.
Herr Salvatore war ausgesprochen unhöflich zu den Ordensschwestern des Klosters. Seine Verachtung für das Gewand, das sie trugen, war nicht zu übersehen.
Als Chiara den Laden betreten hatte und er sich hinter der Theke umgedrehte, verdrehte er mit gereiztem Ausdruck sofort die Augen. Dann hatte er eine Dose mit Süßwaren auf das Regal knallen lassen, während seine Frau Michaela mit einem entschuldigenden Blick Chiara anschaute und mit den Schultern zuckte.
„Ähm, guten Morgen“, grüßte die junge Nonne höflich, aber es antwortete nur Michaela. Salvatore war beschäftigt, sich eine andere leere Dose zu nehmen und tat als würde er sie sauber machen.
„Guten Morgen“, versuchte es Chiara erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck, von seinem Verhalten aber leicht verstimmt.
„Ähm … Tag“, brummte er ohne aufzublicken.
„Ich hätte gerne einige Packungen Mehl. Können Sie sie wie gewohnt in das Kloster liefern?“
„Uff.“
„Ich nehme an, das ist ein Ja?“, kommentierte Chiara. „Ich benötige außerdem Zucker, bitte.“
„Drüben“, murmelte er und deutete mit einem Wink mit dem Kopf in eine Ecke des Ladens.
„Verstanden, ich hole ihn mir“, aber bevor sich Chiara bewegte, hatte sich die nette Michaela erhoben und war zum Regal gegangen.
„Wieviel?“
„Nur zwei Pfund, vielen Dank. Wir haben noch etwas im Kloster. Wissen Sie, ich möchte Plätzchen für die Schulkinder backen und möchte ich nicht die Vorräte verwenden.“
„... gebeten“, murmelte Salvatore und nuschelte Worte vor sich hin.
„Wie bitte?“, Chiara wandte sich zu ihm, der endlich seinen Blick hob, um ihr direkt die Augen zu mustern.
„Das hat sie niemand gebeten“, wiederholte er. „Wir sind nicht an ihren Tätigkeiten als guter Christ interessiert.“
Chiaras Pupillen weiteten sich empört und verdrossen. Sie fühlte die Wut in ihr aufsteigen.
„Können Sie mir erklären, was ich ihnen getan habe?“
Der Mann schaute sie herausfordernd an, antwortete aber nicht. Er wandte sich um und ging in den hinteren Ladenbereich.
„Verzeihen Sie ihm, Schwester“, entschuldigte sich seine Frau. „Manchmal kann er ausgesprochen unhöflich sein. Aber ich versichere Ihnen, er ist ein guter Mensch.“
„Das bezweifle ich nicht“, beendete Chiara das Gespräch. Sie schaute auf den Vorhang der Tür, die zum hinteren Teil führte, der noch wackelte und schließlich still stand.
Als Chiara in die Felder ging, war ihre Wut mittlerweile vergangen und sie dachte an Salvatore, indem sie eine Art Schwermut empfand. Sie verstand nicht, warum dieser Mann sie derart verabscheuend anschaute, als ob sie ihm Schlimmes getan hätte. Chiara war überzeugt, weder ihn noch ein anderes Familienmitglied respektlos behandelt zu haben.
Jedes Mal, wenn sie den Laden betrat, starrte Salvatore sie an als wäre sie ein Insekt, das so schnell wie möglich zerquetscht werden müsse. Die Äbtissin und die anderen Ordensschwestern mieden ebenfalls jenen Ort wegen der feindseligen Blicke. Es war der einzige Laden im Dorf, der gut ausgestattet war, weshalb die Ordensschwestern gezwungen waren, dort einzukaufen.
Jedenfalls war es in dieser Situation wichtig, ein reines Gewissen zu haben. Wenn Herr Salvatore sie und alle Nonnen verabscheute, war es sein Problem und nicht das von Chiara, die sich unschuldig fühlte.
An diesem Montag-Nachmittag bemerkte sie in der Ferne einen Traktor der Arbeiter. Sie näherte sich, um ihnen Obst anzubieten, das sie im Dorf gekauft hatte. Sie konnte ihre Absicht nicht zu Ende führen, denn etwas beziehungsweise jemand beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit, ohne die anderen Arbeiter im Geringsten wahrzunehmen.
José war dort, nicht weit von ihr. Diesmal hatte er sie wirklich nicht gesehen, da er in die Arbeit vertieft war.
Chiara errötete. Sie wusste, dass sie den Blick hätte abwenden müssen, sie betrachtete etwas Verbotenes, konnte aber nicht anders. Sie blieb reglos stehen und schaute ihm ebenso bewegungslos zu. Ihre Hand hielt den Korb mit den Einkäufen fest verschlossen, aus Angst, er würde ihr wegrutschen.
José kniete ohne Hemd, das seinen Oberkörper hätte bedecken können, unter der Sonne. Er säte mit einer solchen Sorgfalt, die ihr das Herz erfüllte.
‚ Dreh dich um!‘, sagte ihr der Verstand. ‚ Du darfst nicht hinschauen!‘ Aber sie konnte ihre Augen nicht von diesem Geschöpf Gottes abwenden. Er hatte einen ausgesprochen attraktiven Körperbau.
Sein Körperbau war perfekt und ausgesprochen muskulös, wie eine Statue einer biblischen Darstellung, zugleich aber diskret.
Seine Schulter, sein Arm und das Gesicht waren mit Erdflecken beschmutzt, so dass er wie ein Kind aussah. Chiara bemerkte auf der rechten Seite seines Bauches etwas Ungewöhnliches. Für ein paar Sekunden musterten ihre Augen diese Stelle. Es war eine Narbe, die mehr oder weniger so lang war wie die Kette von ihrem Rosenkranz. Sie gab seinem Körper und Gesicht etwas Bedrohliches, obwohl sein Gesicht nicht bedrohlich aussah.
Er hatte prächtige Haare, zerzaust und zwanglos wie er war. Für einen Augenblick wünschte sich Chiara, sanft mit ihren Händen durch seine Haare streifen zu können, Strähne für Strähne, um ihre Weichheit zu spüren.
Sie errötete noch mehr, während ihr Herz tyrannisch schlug, so dass sie eine Hand an ihre Brust nehmen musste.
‚ Herz, bleib ruhig! Willst du aus meinem Körper herausspringen? Beruhige dich bitte ...‘
In der Arbeit versunken, hatte José sie nicht bemerkt. Er spürte aber, dass Augen auf ihn gerichtet waren. Dieses Gefühl ließ ihn sich umdrehen. Er blickte direkt in einen grünbraunen Regenbogen, der in der Iris einer Frau eingeschlossen war.
Als sein Blick Chiaras Augen begegnete, waren ihre Pupillen geweitet wie bei einem Schock. In der Tat war sie sichtlich erregt. Ohne einen Augenblick länger zu warten, drehte sie sich um, lief zu einem Hain bei den Feldern und versteckte sich dort. Chiara hatte kein klares Ziel. Warum lief sie weg? Sie verspürte ausschließlich, dass sie sich entfernen musste.
‚ Er wird mich missverstehen‘, redete sie sich mehrmals beim Laufen ein, ‚ er wird meinen Blick missverstehen.‘
José zögerte nicht, er nahm sein Hemd, das er auf den Boden gelegt hatte, zog es sich schnell über und folgte ihr bevor sie sich zu weit entfernte.
Als er sie sah, war sie über einen kleinen Fluss gebeugt und tauchte ihre Hände ins kühle Wasser. Sanft bewegte sie die klare Flüssigkeit und spritzte sie sich vorsichtig ins Gesicht, um sich an diesem heißen Mai-Tag zu erfrischen.
José näherte sich ihr. Sie verharrte bewegungslos, obwohl sie seine Gegenwart wahrgenommen hatte.
„Chiara“, sagte José als er hinter ihrer Schulter stand, „¿Por qué te has ido?“
Chiara wartete ein paar Sekunden bevor sie aufstand, um sicherzugehen, dass die Röte von ihren Wangen verschwunden war. Sie starrte auf sein welliges Spiegelbild im Wasser.
„Man merkt, dass wir keinen Unterricht mehr hatten“, kommentierte sie, während sie ihm mit den Schultern zugekehrt war. „Du verfällst wieder ins Spanische.“
José lächelte und legte ihr eine Hand auf die Schulter und bemerkte sofort, dass sich ihr Körper anspannte.
„Du hast razón ...“, flüsterte er und wusste, dass er die Hand vom schwarzen Gewand nehmen musste, hatte aber nicht die nötige Willenskraft. „ Entonces denke, wir sollten mit dem Unterricht posible schnell weitermachen.“
Chiara schwieg und konzentrierte ihre gesamte Energie auf seine Hand, die ihre Haut verbrannte, derart empfand sie.
„ Estás ... Ist alles in Ordnung mit dir?“
Es war Zeit, sich umzudrehen. Chiara legte ihre Hand auf seine, die noch auf ihrer Schulter lag. Sie erhob sich, während die starken Arme des jungen Mannes sie stützten.
Als sie sich einander gegenüber standen, nahm Chiara Josés Hand und begleitete sie an ihren gewöhnlichen Platz und ließ sie schließlich los.
„José, mir geht es gut“, antwortete sie und blickte vom Boden auf, um ihren Blick auf sein Gesicht zu richten. „Meinst du nicht, dass wir uns zu wenig kennen, um die Stimmung des anderen zu deuten?“ Chiaras Ton war ironisch und belustigt. José lachte als er die leichte Arroganz auf den Lippen dieser jungen Monja vernahm, die auf eine Unterrichtsstunde anspielte, die eine Woche zurücklag.
Mensch, es war eine Ewigkeit.
„ ¿Cómo se dice? ... Touché!“, fragte er und hob die Hände in den Himmel, während Chiara dieses Mal aufrichtig lachen musste.
Sie fühlte sich ruhig und ungewöhnlich sicher, obwohl der Anspielung an Respekt fehlte, der für eine Nonne angemessen ist. Jetzt war sie in der Lage, mit José ein normales Gespräch zu führen.
Leider schwanken im Leben sichere Situationen und ihre Ruhe hielt nicht lange an.
Sie nahm bald wahr, dass sie ausgesprochen nahe beieinander standen und sein Hemd nicht zugeknöpft war. Ihr Gesicht errötete und sie starrte erneut auf ihre schwarzen Slipper.
José sah auf seinen entblößten Bauch und begriff sofort, dass sie aufgrund dieser Unachtsamkeit verlegen war. Rasch knöpfte er sein Hemd zu und flüsterte ein perdóname für die Umstände. Er machte sich Vorwürfe, wie er sich derart nachlässig verhalten konnte. Ausgerechnet er, der gewöhnlich ein präzises und kontrolliertes Verhalten an den Tag legte.
„So ist es besser“, bestätigte sie. „ Discúlpame für meine Nachlässigkeit und meinen ungepflegten Zustand.“ Er zuckte lässig seine Schultern. Schließlich lächelte er Chiara aufrichtig an, wobei seine Augen leuchteten und auflachten und sanft die Person musterten, der das Lächeln galt.
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte sie, starrte noch auf ihre Schuhe und wollte sich von ihm entfernen. Somit drehte sie sich um und ging ein paar Schritte.
„ No te vayas“, versuchte er sie aufzuhalten, bevor sie zu weit entfernt war. „Geh bitte nicht! Warum setzen wir uns nicht aqui und unterhalten uns? Hast du Lust?“
Chiara zögerte. Sie war sichtlich erfreut, Zeit mit ihrem ‚Lieblingsschüler‘ zu verbringen.