‚ Warum sollte sie auf die Gesellschaft einer netten Person verzichten?‘, dachte sie sich.
Außer der jungen Nonne Claudia hatte sie keine wahren Freunde. Zweifellos waren die Ordensschwestern ein Teil ihres Lebens, aber sie waren ausschließlich geistliche Schwestern. Von ihren Freunden aus ihrer Kindheit hatte sie sich zusammen mit ihrer Familie verabschiedet, als sie dem Kloster beigetreten war.
Aber da erscheint José Velasco als neue Präsenz in ihrem geradlinigen Leben, eine kluge und amüsante Person. Was sollte sie hindern, seine Freundin zu sein? Es gab keinen Grund.
Es war wie die Freundschaft zwischen einem Mönch und einem Pfarrer. Sie sind ebenfalls Menschen. Kein Gesetz verbietet einer Nonne, mit jemandem befreundet zu sein, solange es kein Interesse von bestimmter Art gibt. Ihrerseits gab es kein bestimmtes Interesse für José Velasco. Nichts, Punkt.
„Okay“, antwortete sie und drehte sich mit einem breiten Lächeln um, das ihre Iris in schillernden Farben erleuchten ließ.
José setzte sich an den Fluss und Chiara tat es ihm nach, während sie sich einen halben Meter von ihm entfernt hielt.
„ Entonces, Chiara. Wann beginnen wir mit den lecciones? Ich will nicht dimenticarme, was ich gelernt habe.“
„Du hattest diese Woche zu tun gehabt, hat man mir gesagt“, erwiderte sie. „Ab der nächsten Woche können wir den Unterricht wieder aufnehmen, wenn die Äbtissin einverstanden ist.“
José riss einen Grashalm ab und nahm ihn in den Mund, legte sich hin und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Schließlich betrachtete er den Himmel, der sich langsam rot färbte und den bevorstehenden Sonnenuntergang ankündigte.
„Berichte mir aus deinem vida, Chiara“, bat er sie, während die Sonne ihren Abstieg ins Reich der Dämmerung nahm.
Chiara hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet, zumal ihr Leben nicht aufregend war. Konnte ein Mann wie er an ihrem Leben interessiert sein?
Sie war sich nicht ganz überzeugt und José stellte sich die gleiche Frage. Er wollte in diesem Augenblick nichts anderes tun, als die Augen schließen und Chiaras Stimme lauschen. Selbst seine Planung, wie er den Schlüssel finden könne, konnte warten.
„Es tut mir gut, italienische Wörter zu escuchar“, fügte er hinzu, um seine Neugier zu verbergen und sie nicht weglaufen zu lassen.
‚ Zum Lernen bestimmt‘, dachte Chiara und begann zu erzählen.
Sie erzählte ihm von ihrem kleinen Dorf, das einer Krippe glich und nicht zur wahren Welt gehörte.
„Es gibt ein paar Orte auf der Erde, an denen die Zeit stillsteht“, erklärte sie mit klarer Stimme. „Wenn du dort wohnst, fühlst du dich weit entfernt von den Metropolen und vom Chaos der Welt, die uns umgibt. Es ist wie in einer Oase, José: Nichts Schreckliches kann dir etwas anhaben. Zumindest denkst du es als Kind.“
Josés Hand zitterte, während er ihr zuhörte, wie sie mit Überschwang erzählte. Er öffnete seine Augen und fühlte sich nah bei Chiara, die konzentriert das fließende Wasser betrachtete. Er hätte sie an sich drücken wollen, um ihr für einen Augenblick den Eindruck zu schenken, sich in einer friedlichen Oase zu befinden.
Er rührte sich nicht und schloss seine Augen.
Chiara wandte sich um und prüfte, ob José ihr noch zuhörte. Sie befürchtete ihn zu langweilen. Als sie ihn mit geschlossenen Augen sah, war sie wie von einer Kugel im Herzen getroffen: Wie blöd sie war, als würde er sich für das Leben einer Nonne interessieren. Natürlich schlief er.
„Erzähl weiter“, forderten Josés Lippen auf. „Deine Stimme entspannt mich, Chiara, sie ist hermosa.“
Chiara schwieg und José versuchte noch mit geschlossenen Augenlidern sein Kompliment richtigzustellen, das ein weiteres Mal unangemessen klang. „Man merkt, dass ihr im Kloster die Redekunst gut estudiar habt.“
„Das stimmt“, antwortete sie erleichtert und zugleich enttäuscht.
Wie von José gewünscht, erzählte sie weiter und berichtete von den ersten Jahren im Kloster, von den Gefühlen und vom Glauben, der von Herzen kam. José schwelgte sich in der offensichtlichen Güte und in dem kindlichen Ton, als sie berichtete, wie sie sich zum ersten Mal das Kopftuch aufsetzte.
„Wir müssen jetzt gehen“, bemerkte Chiara und setzte ihrer Abgeschiedenheit ein Ende, die zu lange angehalten hatte. „Beim nächsten Unterricht berichtest du mir aus deinem Leben. Das ist ein fairer Kompromiss, meinst du nicht?“
José stand auf, zog sich den Grashalm aus seinem Mund und warf ihn ins Wasser. Dann beobachtete er, wie ihn die kalte Strömung in Richtung Meer zog. Er drehte sich zu Chiara um und betrachtete sie mit seinem üblichen Lächeln, das seine Verehrung überspielte, die er für Chiara empfand.
Er nahm eine rebellische Haarsträhne wahr, die ihr aus dem Kopftuch entwichen war, ein Detail, das ihr stets entging. Ohne zu zögern näherte José eine Hand Chiaras Gesicht und steckte die Strähne unter ihr Kopftuch, um sie vor der so feindseligen und betrügerischen Außenwelt zu schützen.
Chiara spürte die Wärme seiner Hand, welche dieses Mal in der Nähe ihrer Schläfe war. Sie stand still, denn sie konnte nicht jedes Mal wegrennen.
„ Ciertamente Chiara ...“, flüsterte José. „Nächste Vez werde ich von meinem Leben erzählen.“
Dann stand er auf und ging fort, während er sie alleine und verwirrt zurückließ.
José wusste, dass es nicht geschickt gewesen wäre, zusammen zurückzukehren. Denn ein falsches Auge hätte alles missverstanden und er wollte nicht das Ansehen von Chiara beflecken. Außerdem wusste er nicht, wenn er länger mit ihr zusammen geblieben wäre, ob er ihren verführerischen Lippen widerstanden hätte. Er entfernte sich somit beherrscht von einem leichten Gefühl des Unbehagens. Dieses Gefühl stand im klaren Widerspruch zur Ruhe, die er bis vor kurzem empfunden hatte.
Am selben Abend ging er zur Äbtissin und fragte sie, den Unterricht aufnehmen zu dürfen.
Obwohl Chiara ihm vergewisserte, dass sie ihn bald beginnen würden, hatte er Zweifel. Er begab sich somit zum Büro der Oberin und versprach ihr, dass er morgens früher aufstehen würde, damit er den Unterricht wieder aufnahm, denn er benötigte weiter Unterricht in der italienischen Sprache.
Die Äbtissin war verblüfft über das starke Interesse an der Kultur; anders als die anderen Arbeiter, die im Kloster arbeiteten. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Ich sehe sie sehr interessiert, Herr Velasco“, kommentierte sie, ohne ihren Missmut zu verbergen.
„ Quiero aprender el idioma, para in Italien integrieren“, antwortete er schnell, eventuell zu schnell.
Die Äbtissin seufzte. Obwohl ihr eine innere Stimme redete ihr ins Gewissen, dass ihre Nachsicht Schaden anrichten würde, riet ihr eine andere Stimme, den Menschen zu vertrauen.
‚ Chiara wäre für die Klausur bereit, wenn sie wollte‘, dachte sie. ‚S ie trägt einen Glauben, den ihr niemand nehmen kann.‘
Sie stimmte somit zu.
„ Gracias Abadesa ...“, beendete José das Gespäch und wandte sich zur Tür.
„Ist schon gut“, antwortete sie mit einem weiteren Seufzer des Unbehagens. José schloss die Tür und ließ sie in ihren Gedanken versunken zurück.
* * *
In dieser Nacht ging José nicht in die Bibliothek. Die Suche konnte einen Tag warten. Er bevorzugte es, im Bett zu bleiben, den Himmel im Fenster zu betrachten und diesen Frühjahrsnachmittag in Gedanken Revue passieren zu lassen.
Wie gern hätte er ihr das Kopftuch von den Haaren entnommen, um sie endlich in ihrer ganzen Pracht zu sehen. Er dachte an die süße Stimme, die einem Wiegenlied glich, während sie ihm aus ihrer Vergangenheit berichtete. Insbesondere dachte er an ein Detail, das Chiara in ihrem Bericht ausgelassen hatte: Warum hatte sie das Gelübde abgelegt? Zweifellos hatte sie den Zeitraum vor dieser harten Entscheidung übersprungen.
Er schlief ein und träumte von Chiaras Mund, dem er sich genähert hatte, als er ihr die Haarsträhne unter das Kopftuch gesteckt hatte. Im Traum näherte er sich ihr nicht wie in der Realität sondern zog sie an sich, um sie zu küssen. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten.
Als er aufwachte, wusste José am nächsten Morgen nicht mehr, was Traum und was Realität war. Dann aber erinnerte er sich und erkannte mit Bedauern die Realität: Es war ein Traum, Diablo, nur ein Traum.
Nachdem er seinen Kopf unter den kalten Strahl des Wasserhahns gehalten und sich die Haare getrocknet hatte, schwor er sich ab jetzt Ordnung in seine Gedanken zurückkehren zu lassen. Er wollte Chiara nicht mehr als normale junge Frau betrachten.
Aber José wusste nicht, dass menschliche Versprechen kurzlebig sind und sich sogar die gepriesene Gottheit zu fadenscheinigen Versprechen entpuppte.
diez
Während José von ketzerischen Küssen träumte, plagte Chiara in dieser Nacht die Schlaflosigkeit.
Als sie sich ihr Nachthemd angezogen hatte, stellte sie sich vor dem Schlafengehen an ihren kleinen Spiegel. Das Spiegelbild zeigte Josés Hand, die ihr sanft die Schläfe berührte, als befürchtete er, dass sie jeden Moment zerbräche.
Was geschah mit ihr? Sie schüttelte ihren Kopf, um diese dummen Gedanken zu vertreiben. Wie ein gewöhnliches Mädchen, das nicht an der Religion gebunden war, warf sie sich nonchalant auf das Bett und steckte ihr Gesicht in das Kissen.
In dieser Nacht schlief sie sofort ein und hatte zum ersten Mal ihre Gebete vergessen, die sie stets vor dem Schlafengehen rezitierte. Dadurch fügte sie etwas Weiteres auf ihrer Liste an Ereignissen hinzu, die sie nie zuvor getan hatte. Erst am nächsten Morgen erkannte sie ihr Fehlverhalten und bemerkte, dass sie immer nachlässiger wurde. Sie nahm sich vor, wieder die alte Chiara zu werden, die ihren lieben Gott niemals vergisst.
Als sich Chiara und José am späten Nachmittag zum Unterricht sahen, waren sie dieselben Personen wie immer: Er glaubte alles unter Kontrolle zu haben, einschließlich seiner Gefühle, während Chiara unfähig war zu sehen, dass ihr Wunsch ihm zu helfen, nichts mit Nächstenliebe zu tun hatte.
Wie sie am Tag zuvor abgesprochen hatten, berichtete an diesem Nachmittag José aus seinem Leben.
Er erzählte ihr von seiner Kindheit in Granada und von seinem Vater. Er beschrieb ihr Alhambra und wie idyllisch das Schloss war, welches über der Stadt thronte, so dass Chiara neugierig wurde.
„Ich war noch nie im Ausland“, offenbarte Chiara niedergeschlagen.
„ ¿Por qué?“, fragte er, aber Chiara konnte nicht antworten, sie ließ stattdessen ihren Blick im Ambiente und das Kloster wandern.
Er verstand.
„Es ist nicht einfach“, fuhr sie fort, bevor José ihr zu widersprechen versuchte.
„ Pero, nichts ist unmöglich.“
Chiara lächelte.
„Es heißt però, nicht pero“, korrigiert sie ihn, um das Thema zu wechseln. „ Pero ist ein Baum.“
Er stöhnte. „Chiara, estás wirst du unsympatisch.“
Zum Glück fing Chiara langsam an, den Josés Humor zu verstehen. Sie betrachtete ihn mit einem Lächeln, das einem Sonnenstrahl glich, in dessen Leuchten er sich verlor.
Es war herrlich zu lachen, dachte Chiara und verstand nicht, warum manche Geistlichen ausgesprochen ernst waren, als wenn sie heitere Gesichtszüge verabscheuten, welche die Fröhlichkeit ins Gesicht malten.
Unter verschiedenen Pausen und Korrekturen erzählte José weiter von seinem Leben, vom märchenhaften Granada und seiner vergangenen Arbeit auf den Schiffen. Er vertraute Chiara an, wie sehr er das Meer liebte und dass er sich auf ihnen frei fühle.
„ Yo quiero el olor del mare, ich liebe den Geruch des Meeres ...“, vertraute er ihr an. „Ich fühle mich auf ihm lebendig und libre.“
Freiheit. Fröhlichkeit und Freiheit.
Chiara sann im Geiste über diese Worte und wunderte sich über ihre Kraft.
Priesterschule
In der Tat erwiesen sich die Befürchtungen von Elena als begründet.
Es verging geraume Zeit, bis sich Michele und Elena sahen. Elenas Besuche an der Priesterschule waren durch die religiöse sowie väterliche Strenge begrenzt.
Michele war in eine Priesterschule gezogen, die wenige Stunden vom Zuhause entfernt war. Die kurze räumliche Distanz musste mit der Theologie wetteifern, welche die religiöse Welt von der gewöhnlichen trennte.
Das erste Mal als Elena in einen Zug stieg, der in Richtung des Dorfes fuhr, in das Michele gezogen war, war an einem regnerischen Sonntag im Oktober, mehrere Wochen nach dem Aufbruch ihres Bruders.
Elena wusste, dass ihre Eltern ihr nicht erlaubten, ihren Bruder zu besuchen. Sie schlich sich somit bei Sonnenaufgang heimlich aus dem Haus, wobei sie einen Zettel, den sie aus einem Schulheft gerissen hatte, auf der Konsole neben der Tür hinterließ. Er enthielt folgende Notiz:
Ich bin mit Maria an den See gegangen, bis heute Abend.
Elena
Ehrlich gesagt bezweifelte sie, ob ihre Eltern das glauben würden, aber um ihren Bruder zu besuchen, war sie bereit, das Risiko einzugehen.
Sie stieg somit in den gleichen Zug, den Michele vor ein paar Wochen genommen hatte. An einem Fenster sitzend, genoss sie die Bilder, die draußen an ihr vorbei schnellten.
Distanz bedeutete Freiheit.
Elena glaubte zu fliegen. Endlich ging sie fort, auch wenn nur für einen Tag, fort von diesem Käfig, der ihre Flügel zwang, geschlossen zu bleiben.
Aber dieser Tag gehört nur mir und Lele. Endlich! Wie als wir Kinder waren und zum See gingen, um Steine ins Wasser zu schmeißen, wetteifernd, wer am weitesten wirft.
Elena musste in diesem Moment an eine Anekdote in ihrem Leben denken: Als Kinder war sie mit Michele an einem Fluss entlang gelaufen, um auf einen kleinen Wasserfall zu stoßen, von dem ein kleines Rinnsal Wasser bergab floss. Zuerst sind sie ihm bergab gefolgt, der wenig geneigt war. Schließlich erreichten sie den See, der dem heißen August unbeeindruckt widerstand.
Schritt für Schritt, teilweise mit der Hilfe des anderen und teilweise allein kamen sie am Fuße des Wasserfalls an und sprangen in den flachen See. Als sie auftauchten, wollte Elena für sie beide eine Hütte bauen, in der sie sich zurückziehen würden, wenn sie der Vater ausschimpfte.
„ Auf, setzen wir den ersten Stein!“, rief die kleine Nymphe und zeigte auf ein paar Felsen in der Nähe.
Sie verbrachten die nächsten paar Stunden, indem sie Steine aufeinander setzten und versuchten vergeblich, die Struktur eines Hauses nachzubauen. Schließlich betrachteten die Geschwister erschöpft ihr ausgesprochen enttäuschendes Ergebnis.
„ Und wenn wir uns hier ohne Hütte zurückziehen?“, hatte Michele belustigt gefragt und betrachtete das Stonehenge in Miniatur.
Elena lachte von ganzem Herzen.
Der Zug war am Ziel angekommen und die Passagiere stiegen mit ihrem Gepäck, Mänteln und Hüten aus. Die Edelmänner trugen Spazierstöcke mit Silberknauf bei sich, die Damen bestickte Sonnenschirme.
Elena trug weder Gepäck noch Sonnenschirm, sondern ihre kleine Ledertasche und eine Tüte mit Süßwaren für Michele.
Sie verließ den Bahnhof und durchlief zu Fuß das Dorf. An der Stadtmauer angelangt, die den Ort umgrenzte, fragte sie einen Mann auf einem Fahrrad, wo sich die Priesterschule befände.
„ Die liegt zu Fuß 20 Minuten entfernt, Fräulein. Folgen Sie der Hauptstraße und biegen Sie in die Abzweigung auf der linken Seite. Von dort ist sie beschildert.“
„ Vielen Dank!“
„ Schönen Tag!“, antwortete der Mann, betrachtete Elena und dachte sich, dass eine solche Schönheit besser der Priesterschule fern bleiben sollte.
* * *
Große, hellwache Augen in den Farben einer Haselnuss. Helles Haar, in der Farbe nicht vollkommen reifer Kastanien. Ein dünner, schlanker Körper in einem roten Mantel, der sie wie eine Puppe aussehen ließ.
Nein, der Rektor wäre nicht erfreut, sie herein zu lassen, dachte Carlo. Andererseits konnte er Geschwistern einen Kurzbesuch nicht verbieten, es handelte sich immerhin um ein Familienmitglied. Widerwillig ließ er sie eintreten und führte sie zum Innenhof.
„ Warten Sie hier, Michele wird in Kürze erscheinen.“
Elena wartete unter den Arkaden des Gartens auf ihn.
Michele musste seine Schwester nicht beim Namen nennen. Sobald er den Innenhof betrat, spürte Elena seine Anwesenheit. Sie wandte sich um und beschaute für ein paar Sekunden den jungen Mann, der ihr gegenüber stand. Er war ihrem Bruder, den sie innig liebte, ähnlich und doch anders. Im langen schwarzen Gewand stand Michele vor ihr, hielt das obligatorische Buch in der Hand und betrachtete sie mit sanftem Blick.
„ Lele!“ Ungestüm lief sie ihm entgegen, um ihn zu umarmen. Dieser zog sie an sich und ließ sie wie zu Kindeszeiten einem Karussell gleichend um sich kreisen. „Gott, was hast du mir gefehlt!“
„ Du hast mir ebenfalls gefehlt, Elena. Aber bitte erwähne nicht zwecklos den Herrn. Zumindest nicht hier, sonst holen dich meine Brüder.“ Er versetzte ihr einen Klaps auf die Wange, aber Elena stellte sich mürrisch.
„ Wer hat den Hochmut und nennt dich Bruder ?“
„ Na tu nicht so! Du weißt, dass wir uns alle Brüder nennen, da wir die Söhne Gottes sind.“
„ Ich weiß, ich weiß!“, erwiderte sie die Augen verdrehend. „Aber ich habe weiterhin den Vorrang.“
„ Sohn Gottes zu sein ist auf jeden Fall besser als Sohn unseres Vaters zu sein“, wollte sie noch hinzufügen, schwieg aber.
Sie verbrachten ein paar Stunden im Innenhof, liefen auf und ab, während sie über alles sprachen, was sie sich zu erzählen hatten. Die Zeit vergeht viel zu schnell, wenn wir sie mit dem verbringen, den wir lieb haben. Die Glocken der Priesterschule schlugen zum Angelusgebet und Michele wurde zum Abendessen gerufen.
„ Ich muss gehen Elena“, bedauerte Michele und drehte sich zur Eingangstür der Priesterschule. „Ich kann dich nicht mitnehmen, aber ich werde den Rektor fragen, ob es möglich ist, dich nochmals hereinzulassen.“
„ Wer hat behauptet, dass deine hübsche Schwester nicht mit uns essen kann?“, fragte eine autoritäre Stimme hinter ihnen, während sich eine Gestalt vor dem Licht des Innenhofs abzeichnete.
„ Herr Schuldirektor“, Michele senkte den Kopf, „wie sie gehört haben, bitte ich um Erlaubnis, den heutigen Nachmittag mit meiner Schwester zu verbringen. Sie ist allein gekommen, es würde mir leid tun, sie schon nach Hause schicken zu müssen.“
Er dachte bedrückt: ‚Wo sie keinen umgänglichen Vater vorfinden wird, der ihr die Flucht verzeiht.‘
„ Ich habe alles gehört und frage mich, warum du sie nicht eingeladen hast, mit uns zu Mittag zu essen“, lächelte er. Er beäugelte sie, Elena aber trat einen Schritt zurück, ohne zu wissen warum. Dann gewann sie ihre Fassung zurück und erwiderte das Lächeln des freundlichen Rektors.
Genau genommen wusste Michele nicht, ob er sich über die Güte des sonst steifen Rektors freuen sollte oder nicht. Er akzeptierte das Angebot und nahm seine Schwester bei der Hand, um sie allzeit zu beschützen.
Sie saßen an einem Tisch neben der Wand und warteten auf das Erscheinen aller anderen „Brüder“, um zu beten. Dabei fühlte sich Elena unwohl und mit ihr Michele.
Es ist schwer, sich vor den Todsünden zu bewahren. Manchmal ist die Unterdrückung nichts anderes als eine Form des Aufrufs zum Begehren. Plötzlich starrte alle (oder fast alle) das junge, hübsche Mädchen mit neugierigen Blicken an, teilweise wenig religiös und zum Teil feindselig.
War es die ungewohnte Anwesenheit von Elena? Michele wusste es nicht. In dieser Situation nahmen sie ein weiteres Hindernis wahr, dass sich ihnen in den Weg stellte, so dass Elena nicht häufig zur Priesterschule kommen konnte.
Schlimmer als das Verabschieden war die Heimkehr, wo ihr Vater mit verschränkten Armen und verdrossenem Gesichtsausdruck hinter der Tür saß und auf Elena wartete.
Elena stand vor einer Mauer aus Ärger.
„ Entschuldigung, ich komme spät, aber ...“ Sie konnte den Satz nicht beenden, als ihr eine schwere Hand ins Gesicht schlug. Elena führte instinktiv ihre schlanken Finger zur brennenden Haut. Ein weiterer Schlag folgte. Geduckt stürzte sie zur Treppe.
„ Wo warst du, kleine Schlampe?“, fluchte der Vater. Da er ihren Arm nicht erwischt hatte, versuchte er sie an den Haaren zu packen.
„ Papa, lass mich, bitte!“, schrie Elena, während er sie zu sich heranzog. „Ich habe nichts verbrochen, das schwöre ich! Ich war ...“ Ein weiterer Schlag ließ Blut aus ihrem Mund tropfen.
„ Lüg mich nicht an! Du warst nicht mit Maria zusammen. Wir haben ihre Mutter in der Stadt getroffen! Wo warst du?! Mit wem warst du zusammen?“ An den Haaren zog er sie zur Couch. Die starke und doch empfindliche Elena schützte sich mit den Händen ihren Kopf und ihr Gesicht.
„ Wo warst du?“, donnerte ihr Vater erneut, während ihre Mutter sie wortlos von der Küchentür aus anstarrte.
„ Ich war bei Michele ...“, flüsterte sie resignierend. „Er hat mir gefehlt, deshalb bin ich zu ihm gefahren.“
„ Warum hast du uns nicht darüber informiert?“, schaltete sich die Mutter ein.
„ Weil ich dachte, dass ihr mich nicht gehen lasst.“
Für ein paar Sekunden herrschte im Hause Gentile Stille und Elena dachte, dass sie ihre Flucht verstanden hätten. Die Stille und die Illusion weilten nur für einen kurzen Augenblick.
„ Genau“, fuhr ihr Vater mit kalter Stimme fort. „Hast du dich gefragt, warum wir dich nicht hätten gehen lassen?“
Elena starrte ihm terrorisiert in die Augen.
„ Schau mich nicht mit diesem gefälscht unschuldigen Blick an!“
Sie senkte umgehend ihren Blick, aber der nächste Schlag ließ nicht auf sich warten und ließ sie wie ein Kaninchen vor dem kreisenden Adler zusammenkauern.
„ Ich habe nichts Böses getan ...“, flüsterte sie mit fadendünner Stimme. Mutig hielt sie seinem angsteinflößenden Blick stand: „Ich war bloß bei meinem Bruder. Mir ist nicht verständlich, warum ihr euch nicht im Geringsten um meine Gesundheit sorgt. Warum war ich weg ohne es euch mitzuteilen? Ihr fragt euch mit wem ich zusammen war und was ich mache. Warum aber versucht ihr nicht eure Tochter zu verstehen?“
„ Freche Göre! Wage es nicht nochmal, deinem Vater Widerworte zu geben!“ Er packte sie erneut an den Haaren. „Du sollst deinen Bruder nicht besuchen, weil du eine kleine Dienerin des Teufels bist. Michele soll durch dich keine Probleme bekommen!“
„ Sie ist zur Priesterschule gegangen!“ Die Mutter richtete ihre Augen und Arme nach oben als wäre das ein schrecklicher Skandal. „Sie ist zur Priesterschule gegangen, um dort mit ihrem Gesicht einer kleinen Hure Unruhe zu stiften!“ Dann verschwand sie in der Küche und murmelte undefinierbare Sätze.
Elena konnte nicht begreifen, was sie ihren Eltern getan hatte, dass diese sie derart verachteten. Sie befreite sich aus dem Griff des Vaters und eilte in Richtung Zimmer. In ihrer Hast rempelte sie an den Couchtisch, auf dem eine fast leere Weinflasche und ein Tulpenglas standen, die zu Bruch gingen.