Chiara war erstaunt: Sie wusste nicht, dass José ein Seemann war und im Laufe seiner Karriere mit Menschen verschiedener Sprachen zu tun hatte, einschließlich Italienern. Sie konnte somit nicht wissen, dass sein Geist für seine Muttersprache des Bella Italia empfänglich war. Sie dachte, er wäre ein einfacher Mann, der allein und hilflos in einem neuen Land Arbeit suchte und dass er Hilfe benötigte.
Zweifellos hatte José noch viel zu lernen. Wahr ist, dass er sich in einem fremden Land befand, allerdings war es nicht Arbeit, die er suchte.
„ Cuántos bist du alt?“, fragte er am Ende des Unterrichts.
„Es heißt Wie alt bist du?“, korrigierte ihn Chiara.
„Also ... Wie alt bist du? Ist das r
„Richtig. Ich bin 28 Jahre alt und Sie Herr Velasco?“
José runzelte die Stirn.
„Kannst du mich nicht tutearme?“
Chiara erglühte. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn beharrlich mit ‚Sie‘ anredete. Seine nussbraunen Augen musterten sie fragend, was sie noch mehr verwirrte.
Sie war überzeugt davon, dass Gottes Hand herrliche Dinge schuf und der Teufel Chaos in die Welt brachte. Nie zuvor hatte sie jemand Attraktiveres gesehen.
Die Welt war vielfältig: Wenn Gott einer Person keine Anmut schenkte, kompensiert Güte und macht jede Person ungeachtet des Aussehens attraktiv. Obwohl Chiara wenig die Facetten der Außenwelt kannte, wusste sie, dass hässliche (moralisch böse) Personen existierten und zum Bösen gehörten.
Aber José konnte nicht zum Bösen gehören: Er war schön wie die Sonne. Seine gebräunte Haut und dunkelbraunen Haare wie Edelholz waren eindrucksvoll. Erneut schoss ihr die Röte in die Wangen als sie seine Augen und sein Lächeln anstarrte.
Gott hatte bei der Geburt von José Velasco beschlossen, ihn mit aller Ausstrahlungskraft der Welt zu versehen, aber auch mit Güte. Nichts hielt sie davon ab, ihm zu vertrauen.
Naivität ist begehrenswert - und gefährlich!
„Selbstverständlich kann ich Sie duzen, wenn Sie dies wünschen. Ich bin es allerdings nicht gewohnt“, erwiderte sie.
„ Entonces Chiara, gib mir das Du.“
„Um genau zu sein, heißt es ‚duzen‘.“
„Wie alt bist du José?“
„Zwei-und-drei-ßig“ Er sprach jede Silbe separat aus. „ ¿Es treinta y dos?“
„Richtig. Und was machst du in Italien? Suchst du Arbeit oder aus einem anderen Grund?“
Chiara spielte auf nichts Bestimmtes an, es war reine Neugier; eine andere Neugier als die von Ordensschwester Costanza. José war beunruhigt und hatte Angst, dass sie etwas ahnte. Sie war klug, das sah er ihr an.
Doch das konnte nicht sein, sie konnte nichts ahnen, denn sie kannten sich zu kurz.
„Ich wollte mein Lebben ändern.“ Sein ernster Gesichtsausdruck ließ Chiara erschaudern. Sie wusste nicht warum, erkannte in Josés Antwort aber Groll.
José vermochte diese liebenswerte Nonne nicht zu belügen, was ihm nur durch Schweigen gelang.
Es war wahr: Er wollte sein Leben auch ändern. Zusammen mit dem ursprünglichen Ziel, das ihn veranlasst hat, nach Italien zurück zu kehren, hatte er Granada mit der Absicht verlassen, seine Vergangenheit zu vergessen.
José schaute ihr in die Augen. Ob er mit ihr befreundet sein, ihr die Wahrheit offenbaren und sie um Hilfe fragen konnte? Es war noch zu früh, um das herauszufinden.
Letztendlich war sie eine Nonne.
Gentile
Die Familie Gentile war nicht besonders freundlich in ihrem Verhalten oder zumindest waren es nicht alle Familienmitglieder.
Die Ehefrau Carla neigte dazu, sich der Arroganz des Ehemanns zu fügen. Dies hielt sie nicht davon ab, dieses und jenes zu kritisieren, einen Beinamen für ihn zu finden oder den Überschwang der Tochter zu verurteilen.
„ Elena, das solltest du nicht tun!“, schimpfte sie mit einer Ohrfeige, die als Kind einen Käfig mit Schnecken öffnete, um ihnen ihre Freiheit zurück zu geben.“
„ Elena, das Kleid ist viel zu kurz!“, schalt sie als Elena mit dreizehn Jahren ein knielanges Kleid getragen hatte, das Michele ihr auf dem Dorffest gekauft hatte.
„ Elena? Was? Hast du dich geschminkt?“, donnerte sie empört an Elenas 15. Geburtstag als diese sich zum ersten Mal Lippenstift aufgetragen hatte. Dann war sie ins Zimmer des Mädchens gelaufen und suchte aufgebracht nach dem Instrument der Sünde, um es sofort wegzuschmeißen.
„ Ich bin nicht die Mutter einer Hure!“, herrschte sie Elena verachtend an. „Wehe dir, wenn du dich noch einmal in dieser Art zeigst!“
Elena war in Tränen aus dem Haus gerannt und versteckte sich in der nahen Scheune.
Sie hatte keine Lust mehr, zu feiern oder an diesem Abend ins Kino zu gehen, um vorzutäuschen, in einer glücklichen Familie zu leben. Sie wollte daheim bleiben und weinen.
„ Elena?“, hörte sie nach einer guten halben Stunde fragen. „Elena, bist du hier?“
Elena antwortete nicht, aber Michele hörte das Schluchzen aus einer Ecke, somit ging er wortlos zu ihr. Dann streichelte er den Kopf seiner Schwester, kniete sich vor sie und hob sanft ihr Gesicht.
„ Ein hübsches Mädchen wie du sollte an seinem 15. Geburtstag nicht hier hocken und alleine weinen.“
„ Mama ... „
„ Ich weiß alles“, unterbrach ihr Bruder sie und streichelte ihr das Haar. „Aber heute ist dein Geburtstag und ich werde dich nicht wegen dieser blöden Menschen hier weinen lassen.“
„ Meinst du, dass Mama ... „
„ Oh, das tue ich. Sie ist blöd. Auch wenn sie unsere Mutter ist, heißt das nicht, dass sie ohne Fehler ist. Mach schon, steh auf!“, forderte er sie auf und half ihr sich aufzurichten. „Geh schnell dein verweintes Gesicht waschen: Du und ich haben einen Geburtstag zu feiern.“
„ Ich weiß nicht, ob sie mich ausgehen lassen ... „
„ Ich habe mit ihnen gesprochen, mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“
Ein weiteres Mal hatte Michele ein Lächeln auf die Lippen seiner Schwester gezaubert, die sich bei ihm geschützt fühlte wie bei niemand anderem auf der Welt.
An diesem Abend gingen die beiden alleine in das alte Dorfkino und aßen später ein Eis. Michele kaufte ihr erneut einen Lippenstift, den gleichen, den ihre Mutter weggeworfen hatte.
„ Aber denk daran“, gab er zu Bedenken und gab ihr die Papiertüte mit dem kleinen Geschenk, „Mama darf nichts davon wissen.“
„ Verleitest du mich zum Verstoß von Mamas Vorschriften?“, kommentierte Elena kichernd.
„ Ich? Sehr unwahrscheinlich!“
„ Das ist wahr, du bist eine alte Bibliotheks- und Kirchenmaus.“
„ Hey Lena, kritisiere nicht meine sozialen Dienste oder ich nehme den Lippenstift zurück.“
„ Willst du diesen dann auch auftragen?“ Elena lachte als sie sich ihren Bruder mit rotem Lippenstift vorstellte. „Ich kritisiere unsere Eltern nicht, sondern bewundere sie. Aber das befreit dich nicht von dem Titel Bibliotheks- und Kirchenratte!“
„ Du bist unverbesserlich.“
Seit jenem Abend nahm sich Elena Gentile vor, dass sie nie wieder wegen böser Worte von ihrer Mutter weinen werde. Sie hatte beschlossen, eine bessere und stärkere Frau zu werden. Sie nahm sich vor, ihrem Bruder zu helfen, wenn er Hilfe benötigte, genau wie er es für sie tat.
Zurück zu Ernesto Gentile, dem Familienvater: Der gesamte Ort wusste, was hinter den Mauern des Hauses geschah und über überhebliches Verhalten hinausging. Niemand hatte gewagt, etwas zu sagen, weil ‚es-sie-nichts-anging‘.
Dennoch wuchsen die beiden Kinder gut auf und vor allem mit mehr guten Eigenschaften als Carla und Ernesto zusammen hergaben.
Michele Gentile war das, was jeder einen „Engelsjungen“ nannte: Er war ein zurückhaltender Typ. Meistens trug er ein Buch unter dem Arm und eine Lesebrille auf dem Kopf, um sie griffbereit zu haben, wenn er sie benötigte. In der Tat verbrachte er mehrere Stunden damit, in schweren Bänden zu blättern.
Er war zwei Frühjahre älter als seine Schwester und war bereits im Alter von zehn Jahren in der Kirchengemeinde aktiv. Den Rest seiner Freizeit verbrachte er damit, um Hilfsbedürftigen zu helfen. Er war überzeugt davon, dass es eine Pflicht war, Menschen, die weniger Glück hatten als er, zu helfen.
Elena Gentile war hingegen ein Schmetterling.
Trotz der nächtlichen Ausgänge mit ihrem Bruder als sie 16 und er 18 war, hatte sie noch nicht die Liebe getroffen, die ihr Leben verwandelte. Ihr Aussehen glich weniger einem Kokon, sondern eher einem Schmetterling mit bunten Flügeln.
Elena war selbstbewusst, ohne überheblich zu sein, wie es ihr Vater war. Sie war herzensgut zu ihrem Nächsten, ließ sich aber von niemandem einschüchtern. Vor allem war sie ein kleiner Stern, der vor Leben und Lebensfreude strahlte.
Wenn Michele und Elena gemeinsam durch die Straßen des Dorfes spazierten, grüßten die Leute gerne und waren von ihnen beeindruckt, nicht nur von ihrem Aussehen, sondern von ihrem Gemüt. Sie fragten sich, wie sie die Kinder von Carla und Ernesto sein konnten, derart unterschieden sie sich von ihnen. Wahrscheinlich, wenn es nicht aufgrund der Gesichtszüge gewesen wäre, die sie mit den Eltern teilten, hätten die Menschen gedacht, dass die zwei Seelen adoptiert seien.
Auf jeden Fall macht Minus und Minus Plus und es lässt sich zumindest mathematisch erklären, wie zwei außerordentlich hübsche Menschen von zwei außerordentlich hässlichen Menschen abstammen konnten.
ocho
Eines Abends wurde Chiaras Schlaf gestört. An diesem Nachmittag hatte sie mit José eine angenehme Stunde verbracht und der Tag war wunderschön und schöp-ferisch. Trotzdem schlief sie in dieser Nacht leicht aufgewühlt. Ihre Träume waren wirr; sie konnte die Orte und Personen nicht richtig erkennen. Sie hörte italienische und spanische Worte, ohne dass sie die genaue Bedeutung verstand. Dann wurden die Bilder klarer und sie empfand im Traum Momente des vergangenen Tages nach.
„ Hoy estoy muerto“, stöhnte José kurz nachdem er die Bibliothek betreten hatte. „ He trabajado como un burro.“
Mit fallendem Gewicht ließ er sich auf dem Stuhl nieder, lehnte seinen Kopf an der Sitzlehne an und lächelte sie an. „ Buenas tardes, Chiara!“
Sie entgegnete mit einem weniger überzeugten Lächeln und antwortete ihm sofort, bevor ihr die Hände zitterten.
„Irre ich mich oder sind wir im Italienischunterricht, José? Hier sprechen wir kein Spanisch!“
José stöhnte und gab vor, verärgert zu sein. „Guten Abend, Chiara!“
„So ist es besser. Wie sagt man ‚ he trabajado como un burro‘ auf Italienisch?“
„Ah... Mmh, eso es ...“, erwiderte er, „es ist eine spanische Redewendung. Ich weiß nicht, ob sie auf Italienisch exista ...“
„Versuche sie zu übersetzen.“
José presste seine Lippen zusammen und schloss leicht seine Augen, um eine übertriebene Konzentration vorzugeben.
„Alorra ...“
„Allora, nicht , alorra‘„, korrigierte ihn Chiara.
Er nickte. „Also, he trabajado wird zu ich habe gearbeitet ...“
„Richtig.“
„ Y como un burro se convierte en ... wie ein ... Pferd?“
Chiara schüttelte ihren Kopf zum Nein.
„ No me acuerdo ... nicht wie ein Pferd, sondern eher wie ein peque ñ o, jetzt hab' ich's, Esel!“
Chiara konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie seine kindliche Begeisterung sah. Er änderte seinen Gesichtsausdruck aber nicht, sondern beobachtete Chiara, wie sie spontan lachte.
„Wir haben die gleiche Redewendung, aber es heißt nicht: ‚Ich habe wie ein Esel gearbeitet‘„, erklärte Chiara. „Auf Italienisch heißt es eher „ wie ein Maultier“. Aber ich finde, dass du den Satz gut übersetzt hast!“
José wollte ihr mitteilen, dass er sich ihretwegen besserte. Stattdessen betrachtete er sie schweigend und ihr Lachen klang in seinen Gedanken weiter.
Chiara senkte den Blick.
„Schlage Seite 33 auf“, forderte sie ihn auf bevor sie verlegen wurde.
Sie schreckte plötzlich aus dem Schlaf auf, richtete sich im Bett auf und sah auf die Uhr: Es war nach Mitternacht, aber ihr war nicht danach, sich wieder schlafen zu legen. Sie zog sich somit ihr Nonnengewand an, nahm eine Taschenlampe und verließ geräuschlos ihr Zimmer.
Die Äbtissin mochte es nicht, wenn die Ordensschwestern nachts durch das Kloster liefen, es sei denn, es ging ihnen schlecht. Im Grunde fühlte sie sich nicht ausgesprochen gut, so dass es zulässig war, im Innenhof auf und ab zu gehen, um ihren nervösen Körper zu beruhigen.
Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, verschränkte ihre Arme und betrachtete den Vollmond, der von unzähligen Sternen umgeben war. Das Mondlicht küsste die Welt.
Als sie den Kopf zum Himmel richtete, rutschte das schwarze Kopftuch nach unten und ähnelte in der nächtlichen Brise einem lockigen Haarkleid.
Sie seufzte entmutigt und fühlte mit einer Hand ihre Stirn.
Chiara leidete gewöhnlich nicht an Ängsten oder Stimmungsschwankungen und wusste nicht, was ihr solch ein Unbehagen verschaffte. Ihr Leben war, wie sie es sich wünschte. Was war somit dieses undefinierbare Gefühl, das ihr den Magen zuschnürte?
Wenn es anhält, würde sie die Äbtissin bitten, zum Arzt gehen zu dürfen. Ja, das würde sie.
Liebe ist seltsam und schwer zu verstehen, vielleicht weil sie so natürlich ist, unkontrollierbar und vor allem menschlich. Der Mensch an sich ist seltsam. Vielleicht sind wir deshalb nicht in der Lage, Liebe zu verstehen. Sie ist uns ausgesprochen ähnlich. Wir sind unfähig, ihre Nuancen zu sehen oder eine schlaflose Nacht zu deuten, während das Herz ein Gesicht vorgibt, bevor der Verstand begreift. Es gibt eine Lösung vor.
Die Farben geraten nicht durcheinander, sondern die Gefühle überlagern sich. Die Ruhelosigkeit lässt uns fragen, was die Liebe ist. Gibt es sie oder ist sie ein Hirngespinst des Menschen, dem der Mensch bis ans Ende seines Lebens folgt?
Dennoch gibt es Menschen, die sich keine Fragen über Gefühle stellen. Sie suchen stattdessen beängstigt Antworten zu einer Krankheit, die zwangsläufig klinisch sein muss. Diese Menschen haben am meisten Angst vor der Liebe und haben es vielleicht am nötigsten, umarmt zu werden, zu lieben und geliebt zu werden.
Chiara verstand nicht, dass die Kälte, die sie verspürte, und das Zittern, das sie überfiel, der Wunsch nach dieser Umarmung war. Sie bevorzugte es, dem Verstand zu folgen. Tatsächlich wäre sie, wenn sie sich nicht besser fühlen würde, zur Äbtissin gegangen, um sich eine Erlaubnis für einen Arztbesuch einzuholen.
Sie drehte weiter ihre Runden um den Brunnen in der Mitte des Innenhofs und versuchte diese unerklärliche Melancholie zu kontrollieren. Sie ahnte, dass sich jemand hinter einem Fenster versteckte und sie beobachtete.
* * *
Die Uhr schlug Mitternacht als José erwachte und auf Zehenspitzen zur Holztür schlich, die zum Hof des Klosters führte.
Sei es Zufall oder Fahrlässigkeit der Person, die sie hätte schließen müssen, sie war nicht abgeschlossen. José atmete auf, als er entdeckte, dass er nicht über den Mauerring klettern musste. Nicht, dass es für ihn ein Problem darstellte: Jahrelang hatte er auf Handels- oder Privatschiffen gearbeitet und war unendliche Male den Hauptmast hinauf- und hinunter geklettert. Er nutzte den Gefallen dieses unerwarteten Geschenks.
Nachdem er zum Innenhof hinausgetreten war, schloss er behutsam die Holztür, um nicht die Scharniere knarren zu lassen. Dann schaute er sich nach rechts und links um und vergewisserte sich, dass niemand anwesend war. Er ging in Richtung Bibliothek, indem er dem Gartenzaun folgte, zu dem das Mondlicht nicht hinreichte.
Als er den Sala de los libros betrat (wie dieser ihm vorgestellt wurde), meinte er, Chiara in der Mitte des Raumes am Tisch sitzen zu sehen, an dem sie ihm wenige Stunden zuvor Italienischunterricht erteilt hatte.
Nein, er musste sich nicht schuldig fühlen. Er missbrauchte von keinem das Vertrauen, zumal ihm niemand das Vertrauen geschenkt hatte. Er war zu einem bestimmten Zweck gekommen und hatte nicht die Absicht, sich von seltsamen Sympathien durcheinander bringen lassen.
Er war nervös. Aus seiner Jeans-Tasche zog er einen alten, vergilbten Brief, um ein weiteres Mal die Worte seines Interesses zu lesen.
Wir haben noch eine Hoffnung.
Habe Vertrauen! Nicht in Gott, sondern in mich und in das Leben.
Erinnerst Du Dich an den Sala de los Libros, wie Du ihn nanntest?
In diesem kleinen Kloster ist der Schlüssel zur Wahrheit. Er befindet sich in unserem Buch: Der Protestantismus und die Glaubensregel .
Heute Nacht werde ich ihn dort suchen, damit Du sicher bist.
José war sich sicher, dass dies das besagte Kloster war, denn er hatte den Brief mehrere Male gelesen. Alles stimmte überein. In einem dieser Bücher musste sich der Schlüssel befinden.
Der Raum erschien ihm wie ein Labyrinth.
Fantástico.
Es reihten sich Lesetische und Regale mit antiken Büchern. Es gab wenige moderne Bücher. Jeder Gang war wie ein Schachbrett durch horizontale Gänge geteilt.
Den Eingang nach Narnia zu finden wäre einfacher als das Buch Der Protestantismus und die Glaubensregel in diesem Sammelsurium. Aber er war fest entschlossen!
Buch für Buch durchsuchte er das erste Regal. Mit seinem Taschenmesser, das er immer bei sich trug, markierte er den Holzrahmen mit einer kleinen Einkerbung.
Auch wenn eine Kuh einfacher vom Eis zu holen war, würde er Nacht für Nacht jeden Gang absuchen. Dieses Buch sollte nicht von großem Interesse für die katholischen Nonnen sein.
Unbemerkt hatte er eine halbe Stunde mehrere Regale durchstöbern können als plötzlich durch die schweren Vorhänge Licht schimmerte.
Schnell knipste er seine Taschenlampe aus. Verdammt, zu dieser Stunde sollte keiner wach sein! Vorsichtig zog er den Vorhang zurück.
Der Schatten im Lichtschein verriet ihm sofort wer es war, obwohl ihm der Rücken zugewendet war.
Mit verschränkten Armen schützte sie sich vor der Kälte oder einer Qual.
Was trieb sie dort? Er beugte sich vor.
Offensichtlich marschierte sie nervös auf und ab. Warum? Wen erwartete sie? Sein Herz raste bei dem Gedanken.
Nein, Chiara konnte nichts Unerlaubtes planen - sie hatte keine Geheimnisse: Ihre Augen waren zu klar und naiv.
Sie war angespannt, das bezeugte ihre Eile.
Seine Gedanken ließen ihn aufseufzen: Wer weiß, wie anmutig sie ohne das keusche Kopftuch und ihre Tunika ist? Wie verführerisch ihre gelösten Haare wohl sind? Wie zart ihre Haut sein mag? Hatte sie Muttermale? Ist ihr Körper schneeweiß wie ihr Gesicht?
Das schlechte Gewissen strafte ihn sofort. Selbstverständlich meinte er, wie sie in Bluse und Jeans gekleidet aussehen mag? O hne Kleidungsstücke würde er sie sich nicht vorzustellen wagen.
Mit einem Kopfschütteln verjagte er seine Träumereien. Sie bückte sich, um ihre Taschenlampe aufzunehmen und ging ins Kloster, gefolgt vom obligatorischen Kopftuch, das sie von der gesamten Welt trennte.
Während sie allein und wehmütig im Hof umhertigerte, empfand José ein undefinierbares Gefühl, das die Vernunft schwer billigte, aber emotional eindeutig war.
Nein, das war unmöglich.
Die Liebe ist seltsam, stolz und zielstrebig.
* * *
Am folgenden Nachmittag war es für José nicht einfach, zum Unterricht zu gehen.
Er fühlte sich emotional taub und nervös. Sein gewöhnlich sonniges Gemüt blieb schüchtern, was ihn noch mehr reizte. Launen von unbekannter Ursache lassen die Sicherheit der Personen erschüttern.
„Guten Abend, José!“, begrüßte sie ihn mit ihrem üblichen Lächeln auf den Lippen.
„Hallo Chiara“, antwortete er mechanisch mit trockener Kehle, während sich seine Zunge einfach nicht bewegen wollte - ein lästiges Gefühl!
Der Unterricht folgte dem Muster des Vortages und José bemerkte, dass Chiara eine ausgesprochen gute Lehrerin war. Er konnte nichts Besseres verlangen.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie ihn. „Du bist heute schweigsamer als sonst.“
„ Nos conocemos viel zu wenig. Woher willst du wissen, dass ich gewöhnlich gesprächiger oder schweigsamer bin?“
Josés Stimme war nicht unhöflich, sie war eher scherzhaft als ernst. Trotzdem fürchtete Chiara, ihn gereizt zu haben, zumal ihr Interesse für eine Nonne wenig angemessen war.
„Entschuldige bitte“, erwiderte sie und senkte den Blick auf das Italienischbuch. „Du hast Recht, ich kenne dich nicht ausreichend, um deinen Charakter zu kennen.“
Bei diesen Worten fühlte sich José gedemütigt. Das Letzte, was er beabsichtigte, war die junge Nonne zu kränken, die so nett zu ihm war.
Vielleicht hätte er es nicht sagen sollen und den Regeln folgen, die hier galten. Jedoch konnte sie sich ihrem Anblick nicht entziehen, die ein enttäuschtes Gesicht machte. Ohne einen Moment nachzudenken, legte er seine Hand auf die von Chiara und drückte sie zärtlich. Sie war klein und zart, so dass sie perfekt in seine Handfläche passte.
„ Yo muss mich entschuldigen, Chiara“, sagte er ernst. „Ich wollte nicht parecerte unhöflich erscheinen, das war nicht meine Absicht“, bat er um Verzeihung.
Chiara schwieg. Das Einzige, was in diesem Moment ihren Körper und Geist beschäftigte, war die Josés Hand, die groß und stark war und auf ihrer lag. Seine Berührung ließ sie vergessen, warum sie sich bis vor kurzem gedemütigt fühlte.
Eine plötzliche Hitze durchwanderte von der Hand zum Arm, um dann durch ihren Körper zu gleiten. Ein seltsames neues Gefühl überkam sie.
‚ Diese Wärme entsteht aufgrund einer Beziehung zwischen zwei Christen‚ denn der Körperkontakt vereint sie zum Glauben Gottes.‘, Dies war ihre mystische Erklärung für das überraschende Empfinden.
Anders konnte sie sich diese Raserei gemischt mit einer seltsamen Ruhe nicht erklären, die sie in diesem Moment verspürte.
‚ In meinem Klosterleben habe ich wenig Körperkontakt mit Menschen gehabt‘, fuhr sie geistig fort, ‚ deshalb ist dieses impulsive Gefühl fremd für mich. In der Tat rät die Religion von ihm ab: Er ist von heftiger Wirkung.
Während Chiara ihre Gefühle zu deuten versuchte, folgte José mit seinen Augen ihrem verwirrten Blick zu ihren Händen, die aufeinander liegend verharrten. Klösterliches Gelübde oder Seemannsleben, der Unterschied spielte keine Rolle: Auch für den jungen Spanier war es beunruhigend, seine Hand mit der Hand einer monja vereint zu sehen.
‚ Was zum Teufel machst du, José Velasco?‘ – ‚Nein, du dürftest nicht den geringsten Drang verspüren, sie berühren zu wollen.‘
„Entschuldige“, sagte er und löste ihren Kontakt auf.
Chiara errötete und starrte auf die Tischplatte. Ruckartig schlug sie das Italienischbuch zu und stand ebenso abrupt auf.
„Ich muss gehen“, erwiderte sie und drehte sich mit dem Rücken zu ihm, um zum Ausgang zu gehen. „Wir sehen uns morgen.“
Sie ließ José keine Zeit, ihr zu antworten, als sie verschwand.
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Hinter einem Regal in der Bibliothek verborgen hatte sie zufällig die Szene miterlebt während sie nach einem Band vom Alten Testament suchte. Der Scham und die Spannungen von Chiara und José blieben hingegen ungeteilt. Sie war einfühlsam und bemerkte die Anziehung zwischen den beiden sofort, obwohl diese es selbst noch nicht verstanden hatten.